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Titel
Bewegte Erinnerung. Deutungskämpfe um „1968“ in deutsch-französischer Perspektive


Autor(en)
Behre, Silja
Erschienen
Tübingen 2016: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
XI, 421 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietmar Hüser, Historisches Institut, Universität des Saarlandes

Dass das Jahr 2018 schon jetzt lange Schatten vorauswirft, liegt auf der Hand: Die 50. Wiederkehr der Geschehnisse rund um den „Mai 1968“ steht unmittelbar bevor und wird – wie schon die Gedenkanlässe 1998 und 20081 – neuerlich eine ganze Flut an Publikationen auf dem zeithistorischen Buchmarkt mit sich bringen. Um einen möglichst hohen wissenschaftlichen Mehrwert zu generieren, wäre es wünschenswert, dass das Gros der zu erwartenden Veröffentlichungen ähnlich konsequent transnational dimensioniert wäre und ähnlich reflektiert daherkäme wie der vorliegende Band über die stürmisch ausgefochtenen Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Deutungskämpfe um die 68er-Bewegung in Frankreich und der Bundesrepublik während der beiden Folgejahrzehnte. Dabei handelt es sich um die publizierte Version einer Dissertation, die Silja Behre im Rahmen eines Cotutelle-Verfahrens an der Universität Bielefeld und der Pariser Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales bei Ingrid Gilcher-Holtey und Michael Werner verfasst und 2014 verteidigt hat. Dass das Promotionsvorhaben in den Bielefelder Sonderforschungsbereich „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“ (2001–2012) eingebunden war, schimmert nicht nur zwischen den Zeilen durch, sondern lässt sich auch ganz ausdrücklich an den stets methodenbewussten Ausführungen wie auch an den verwendeten Konzepten und Begriffen ablesen.

Als Materialgrundlage haben – neben der erschöpfend ausgewerteten Forschungsliteratur – vor allem 40 französische und westdeutsche Tageszeitungen und Polit-Zeitschriften gedient. Daraus hat die Autorin ein Korpus autobiographisch angehauchter Quellen diverser Genres herausdestilliert, „gegen den Strich gelesen“ und „aufeinander bezogen“ (S. 17), um Deutungskämpfen und Konstruktionsprozessen der 68er-Erinnerung auf die Spur zu kommen. Lediglich für die Analyse zweier Treffen ehemaliger SDS-Mitglieder in den 1980er-Jahren sind Archivdokumente eingeflossen. Auf systematische Zeitzeugeninterviews wurde aus pragmatisch-zeitökonomischen Gründen ebenso verzichtet wie auf eine ursprünglich geplante Analyse visueller Darstellungen und Repräsentationen oder Formen literarischer Erinnerungsarbeit zur 68er-Bewegung. All dies begründet Behre, die aktuell an einem Projekt zur deutsch-israelischen Geschichte arbeitet und als Postdoctoral Fellow am Franz Rosenzweig Minerva Research Center der Hebrew University of Jerusalem weilt, sehr plausibel in den einleitenden Passagen.

Ausgehend von der Prämisse eines engen Nexus zwischen der Ereignis- und der Erinnerungsgeschichte von „1968“ lässt sich zeigen, dass im französischen wie im westdeutschen Fall die symbolbehafteten Konflikte um die „wahre“ Sicht der Dinge bereits während der Mobilisierungsphase der Bewegungen einsetzten, um mit dem Versiegen der Proteste, dem Zerfasern von Trägergruppen und dem zeitgleichen Neubegründen diverser Nachfolgegruppierungen beträchtlich an Dynamik und Leidenschaft zuzulegen. Konkreter dargestellt wird das Verhältnis von Ereignis und Erinnerung weder in Kategorien eines kausalen Zusammenhangs noch einer linearen Entwicklung oder gar eines Bruchs angesichts zunehmender zeitlicher Ferne. Vielmehr beschreibt Behre die Beziehung zwischen der Protestbewegung und den Deutungskämpfen als einen offenen dynamischen Prozess, der sich in den 1970er- und 1980er-Jahren als ein steter Symbolkampf um Deutungshoheit im öffentlichen Raum materialisiert hat.

Auf drei Ebenen arbeitet die Verfasserin die Relevanz politischer Auseinandersetzungen um die Erinnerung für den französischen und westdeutschen Fall heraus: einmal auf der Ebene der Zeitwahrnehmung, wo aus gemeinsamer Erfahrung als soziale Bewegung mit transnationalem Anspruch eine hart umkämpfte und nachträglich durch Erinnerungsakteure nationalisierte Perzeption erwuchs, um „1968“ jeweils nationalgeschichtlich verorten und einpassen zu können; dann auf der Ebene kognitiver Orientierung, wo sich in beiden Ländern erst im harschen Ringen konkurrierender Gruppen mehr und mehr die dann gern als Evidenz „verkaufte“ Auffassung von politischem Scheitern und kulturellem Erfolg durchgesetzt hat, obwohl doch das Politisieren vordergründig unpolitischer Sphären und Aktionen sowie Polit-Praktiken fernab ausgetretener Pfade institutionalisierter Politik zum Kernbestand des Agenda Setting um 1968 gehörte; schließlich auf der Ebene dominanter Sprecherrollen in Frankreich und Westdeutschland, wo „Veteranen-Geschichten“ nur einen Erzählstrang im weiteren Feld intellektueller Debatten ausmachten und besonders Nachfolgeorganisationen sich anschickten, die autoritative Geschichte einer sozialen Bewegung zu schreiben, die mit dem Postulat der Machbarkeit von Geschichte angetreten war.

Die Ausführungen bestechen durch eine glänzende Kenntnis der zentralen französischen und westdeutschen Akteure und Gruppen der Zeit nach 1968 und erweisen sich als wahre Fundgrube für diejenigen, die an Wissenschafts-, Intellektuellen- und Neuer Politikgeschichte der 1970er- und 1980er-Jahre interessiert sind. Ein Personen-, Sach- und Ortsregister erleichtert das Erschließen des Textes unter bestimmten Kriterien und Perspektiven. Es bietet darüber hinaus weitere Vorteile für ein Buch, das sich nicht nur für die komplette Lektüre eignet, sondern auch für thematisches Springen über die Grenzen der Haupt- und Unterkapitel hinweg. Sich als Leser dabei zu erwischen, hat mehrere Gründe. Zum einen hat es mit einem stupenden Detailreichtum der Studie zu tun, der sich hier kaum referieren lässt, der stellenweise etwas ermüdet und unzureichend – etwa durch Zwischenresümees und Überleitungen – abgefedert, kontextualisiert und an die Leitfragen rückgebunden wird.

Zum anderen ergibt es sich aus der Prämisse der Autorin, dem eigenen Gegenstand und dem erkenntnisleitenden Blickwinkel fortwährender Deutungsrivalitäten auch darstellerisch gerecht werden zu wollen und eben keine durchgängig chronologische Geschichte zu erzählen, die Zeitabschnitt für Zeitabschnitt den französischen und den westdeutschen Fall nacheinander Revue passieren lässt. Vielmehr versucht sich Behre in Haupt- wie Unterkapiteln an einer Art doppelt verflochtener Erzählstruktur. Auf der Zeitachse brechen synchrone Momente, Rückblenden oder schlaglichtartige Einschübe immer wieder das diachron angelegte Narrativ auf, ohne die Chronologie gänzlich auszuhebeln; in transnationaler Warte sind es stete französisch-westdeutsche „Szenenwechsel“, die Transfers, Anregungen und Abgrenzungen betonen, letztlich das Gleichzeitige der Konfliktkonstellationen um das „korrekte“ Erinnern an 1968 veranschaulichen. Ein anspruchsvolles, beinahe filmisches Vorhaben – für Leserinnen und Leser manchmal überraschend, mitunter auch ein wenig mühsam, aber allemal originell, animiert es doch dazu, sich das Buch mit einer gewissen Portion Eigensinn anzueignen.

Alles in allem legt Behre mit „Bewegte Erinnerung“ eine durch und durch beeindruckende Studie vor. Materialgesättigt wird die Geschichte der 68er-Bewegung aus der Perspektive nachfolgender Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Deutungskonkurrenzen beleuchtet und wissenschaftliches Neuland beschritten: mehr noch für die deutsche Zeitgeschichte als für die französische, wo das Erforschen der Ereignis- und der Erinnerungsgeschichte schon früher eng miteinander verzahnt war. Die Konstruktionsmechanismen sozialer Erinnerung an „1968“ und die Symbolkämpfe um öffentliche Deutungshoheit für Frankreich und die Bundesrepublik konsequent vergleichs-, vor allem transfer- und verflechtungshistorisch analysiert zu haben wird auf längere Sicht das bleibende Verdienst des Buches sein. Nützlich wäre es allerdings gewesen, den offenkundigen Mehrwert des Ansatzes gegenüber Einzelländerstudien noch expliziter und systematischer herauszuarbeiten, statt ihn zumeist en filigrane mitzudenken oder darstellerisch über „Szenenwechsel“ und Kapitelstruktur zu dokumentieren.

Dass vieles dafür spricht, „1968“ als globales, transnationales und „auch deutsch-französisches Phänomen“2 zu kennzeichnen, steht außer Frage. Auf der Folie rasanter sozio-ökonomischer und sozio-kultureller Veränderungen sowie weltpolitischer Krisenherde und Problemlagen, die junge Leute global zusammenschweißten, zählten transnationale Momente zu den Triebfedern des studentischen Aufbegehrens und Mobilisierens. Ein Austausch von Anliegen und Programmen, von Aktionsformen und Protagonisten, von Protestmusik und anderen künstlerischen Aufbrüchen über Ländergrenzen hinweg war an der Tagesordnung, und weit verbreitet das Gefühl, sich für eine gerechte Sache im Weltmaßstab einzusetzen. Zugleich gab es in jedem Land ganz spezifische Entstehungskontexte, Rahmenbedingungen und Ausprägungen des Protests, die kaum zu verallgemeinern sind und stets einen Abgleich von „lokal“ und „global“ erfordern.3 Auch deshalb wird es Gegenstand weiterer Debatten sein, ob sich „1968“ als soziale Bewegung per se grenzüberschreitend gedacht und erst im Zuge der folgenden Deutungskämpfe einen nationaleren Anstrich erhalten hat – oder ob bereits die Mobilisierungsphase selbst mit länderspezifisch verschiedenen, aber stets komplexen Gemengelagen nationaler und transnationaler Protestanlässe die Keime nachträglicher Nationalisierung in sich barg.

Anmerkungen:
1 Als beredtes Beispiel vgl. das Sonderheft 17 der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ mit dem Titel „1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft“, das Vandenhoeck & Ruprecht zum 30. Jubiläum 1998 veröffentlicht hat und das Suhrkamp dann zum 40. Jubiläum 2008 unter dem Titel „1968 – Vom Ereignis zum Mythos“, hrsg. von Ingrid Gilcher-Holtey, noch einmal aufgelegt hat. Abgesehen von der markanten, etwas irreführenden Titeländerung blieb der Inhalt unverändert.
2 Dazu Hélène Miard-Delacroix, Im Zeichen der europäischen Einigung. 1963 bis in die Gegenwart (= Deutsch-Französische Geschichte 11), Darmstadt 2011, S. 139; Dietmar Hüser, Jugend- und Protestkulturen in Frankreich und Deutschland nach 1945 – Vergleich, Transfer, Verflechtung, in: Jörn Leonhard (Hrsg.), Vergleich und Verflechtung. Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert, Berlin 2015, S. 255–277, bes. S. 263ff.
3 Vgl. Philipp Gassert / Martin Klimke, 1968 from Revolt to Research, in: dies. (Hrsg.), 1968. Memories and Legacies of a Global Revolt, Washington 2009, S. 5–24, bes. S. 10ff., URL: https://www.ghi-dc.org/fileadmin/user_upload/GHI_Washington/Publications/Supplements/Supplement_6/bus6_005.pdf (17.08.2017).