J. Alton u.a. (Hrsg.): "Verliehen für die Flucht vor den Fahnen"

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Titel
"Verliehen für die Flucht vor den Fahnen". Das Denkmal für die Verfolgten der NS-Militärjustiz in Wien


Herausgeber
Alton, Juliane; Geldmacher, Thomas; Koch, Magnus; Metzler, Hannes
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
275 S., 128 farb. Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Baumann, Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Berlin

Vermag ein neun mal zehn Meter großes Betonmonument im Wiener Regierungsviertel einer in Österreich (und nicht nur dort) lange verfemten Gruppe von NS-Opfern zur würdigen Erinnerung zu verhelfen? Der ansprechend gestaltete Begleitband zu dem im Oktober 2014 eingeweihten Denkmal für die österreichischen Opfer der NS-Militärjustiz nähert sich dieser Frage aus verschiedenen Perspektiven. Die durch den deutschen Künstler Olaf Nicolai (geb. 1962) entworfene Skulptur besteht aus einem X, das sich als begehbarer dreistufiger Sockel auf dem Ballhausplatz befindet. In seine oberste Ebene sind Metallbuchstaben eingelassen. 32-fach erscheint das Wort „all“, im Kreuzungspunkt des X einmal „alone“. Nicolai bezieht sich hier auf ein Gedicht des schottischen Künstlers Ian Hamilton Finlay (1925–2006).

Im ersten Teil des Katalogs, unter dem Titel „Forschen“, fällt der Kunst- und Medienwissenschaftlerin Corinna Tomberger die Rolle zu, Nicolais Konzeption zu erklären. Je nach Standpunkt der Betrachtenden eröffnen sich unterschiedliche Bedeutungsebenen. Aus größerem Abstand fällt der leere Sockel ins Auge, Zeichen für die jahrzehntelang ausgebliebene gesellschaftliche Anerkennung der Widmungsgruppe. Erst beim Herantreten wird die Form des X erkennbar. In der Kleinschreibung ist es aus der Mathematik (unbekannte Größe) bekannt, in Großschreibung als Bezeichnung eines unbekannten Individuums („Mister X“). Im Wiener Kontext verweist es auf das fehlende Wissen über die Verfolgten. Die horizontale Inschrift schließlich ist durch das Erklimmen der Stufen (die Heraufsteigenden werden zugleich zu Sockelfiguren) beziehungsweise auf einer Begleittafel lesbar. Im Kern symbolisiert das X mit dem zentralen Wort „alone“ das nonkonforme Individuum. Vom Denkmal ausgehend betrachtet Tomberger das Umfeld. Sie interessiert sich unter anderem für den Heldenplatz; hier befinden sich an der Hofburg jener Balkon, von dem aus Hitler beim „Anschluss“ 1938 bejubelt wurde, sowie das Äußere Burgtor mit dem „Österreichischen Heldendenkmal“. Dort wird nicht nur der Toten der Habsburgerarmeen seit 1648 gedacht, sondern auch der Gefallenen beider Weltkriege. Ein – nicht öffentlich zugänglicher – „Weiheraum“ erinnert seit 1965 zudem an die Angehörigen des österreichischen Widerstandes gegen die Nationalsozialisten.

Tomberger hebt in diesem Zusammenhang auf die Bezüge zwischen Nicolais Skulptur und dem liegenden „Toten Krieger“ von Wilhelm Frass ab, den dieser 1934 für die Krypta im Äußeren Burgtor geschaffen hat. Bei Frass steht der einfache Soldat für die Masse der Gefallenen; Nicolais X dagegen repräsentiert, ebenfalls stellvertretend, die nonkonformen Individuen und würdigt Entziehung und Verweigerung. Mit dieser Perspektive auf militärische Zusammenhänge engt Nicolai den Blick ein: Sein abstraktes Persönlichkeitsdenkmal zielt in besonderer Weise auf die Deserteure. Das mag angesichts der Hinrichtungsrate – etwa die Hälfte aller vollstreckten Todesurteile wandte sich gegen Fahnenflüchtige – berechtigt sein. Tomberger erkennt hier jedoch eine Schieflage. Die Widmungsgruppe des Denkmals ist viel größer. Sie umfasst „Wehrkraftzersetzer“, Angehörige des ausländischen Widerstands oder Helfer und Helferinnen in Netzwerken, die Soldaten versteckten. Das „all alone“ blendet diese soziale Dimension aus: Es bleibt der einsame Verweigerer.

Dabei ist erstaunlich, dass Tomberger kaum auf die geschlechtergeschichtliche Dimension des Bildes des heroisch-männlichen Einzelkämpfers eingeht, die Nicolai mit seinem Werk öffnet. Zudem knüpft sie nicht an Interpretationskonzepte an, die sie bei ihrer Analyse sogenannter Gegendenkmäler der 1980er-Jahre entwickelt hatte.1 Sind diese inversen, in den Boden versenkten Denkmalsetzungen, für Tomberger männliche Akte der Selbstermächtigung der politischen Linken angesichts der Täterschaft der eigenen Väter, also mittlerweile Geschichte? Zumindest bei Nicolais Entwurf dürfte es nicht um die Wiederherstellung einer beschädigten männlichen Genealogie gegangen sein2, und auch nicht um die bruchlose Formulierung eines Identifikationsangebotes, das Tomberger an dem von dem Künstlerduo Elmgreen & Dragset erstellten Entwurf des Denkmals für die verfolgten Homosexuellen in Berlin kritisierte.

Natürlich könnte man beim Wiener Denkmal ebenfalls nach den Motiven der Initiatorengruppe fragen. Bei Tombergers Analyse spielt dies keine weitere Rolle, selbstredend kommen jedoch einzelne Mitglieder als Autoren des Bandes zu Wort. So liefert der Politikwissenschaftler Hannes Metzler die politische Geschichte des Denkmals. Er nennt zehn Ursachen für den keineswegs absehbaren Weg der Umsetzung: von der fundierten wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Militärjustiz über die Unterstützung der Grünen bis hin zum Engagement des Personenkomitees „Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz“, das das strategische Zentrum der Debatte bildete. Dessen Ehrenobmann, der ehemalige Wehrmachtsdeserteur Richard Wadani (geb. 1922), vermochte es, die Geschichte seines Überlaufens „auf einzigartige Weise“, wie Magnus Koch an anderer Stelle des Bandes anmerkt (S. 74), mit dem Schicksal weiterer Verfolgter der Wehrmachtsjustiz zu verknüpfen.

Metzler betrachtet den Entstehungsprozess des Denkmals dialektisch, und er öffnet die Rückschau hier auf den gesellschaftlichen und parlamentarischen Prozess der Anerkennung der Opfergruppe, bei deren Durchsetzung Metzler selbst eine wichtige Rolle spielte. Gerade die politische Ablehnung der Rehabilitation der Wehrmachtsdeserteure, getragen vom Österreichischen Kameradschaftsbund, der FPÖ und ihrer zeitweiligen Abspaltung BZÖ, die in Sätzen wie „Kein Denkmal für Kameradenmörder“ gipfelte, habe das Projekt nach vorn gebracht. Das Unvermögen der Gegner, beim Thema Desertion zwischen Wehrmacht und Österreichischem Bundesheer zu unterscheiden, trug in der Öffentlichkeit am Ende zu einer präziseren Sicht auf die Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg bei. Äußerst erhellend sind darüber hinaus Metzlers Einlassungen zum Umgang der städtischen Wiener Politik mit dem Projekt. Das Bundesland Wien und nicht die Republik Österreich war Auftraggeber des Denkmals. Den Schilderungen des Autors zufolge, der hier auch als Zeitzeuge fungiert, versuchte der zuständige sozialdemokratische Kulturstadtrat Andreas Mailath-Pokorny die zivilgesellschaftliche Initiative in eine eigene Richtung zu lenken. Dabei ging es zunächst darum, den Standort Ballhausplatz zu verhindern und das neue Denkmal in das Heldendenkmal zu integrieren. Aber auch dem von Mailath-Pokorny ins Spiel gebrachten Historiker Oliver Rathkolb gelang es mit „Argumenten, Überredungskünsten, Schmeicheleien und leisen Drohungen“ (S. 43) nicht, die Weichen anders zu stellen. Als der Ballhausplatz schließlich feststand, behauptete der Stadtrat, dies sei der Vorschlag der Landespolitik gewesen.

Der Wiener Erinnerungstopographie widmen sich gleich mehrere Beiträge. Den theoretischen Kern bildet dabei Peter Pirkers Text.3 Die österreichische Erinnerungspolitik nahm ihren Ausgang in der alliierten Moskauer Deklaration über die Wiedererrichtung Österreichs (1943); diese bezeichnete Österreich als „erstes Opfer der Hitlerschen Aggression“, erinnerte aber zugleich an Österreichs Kriegsteilnahme an der Seite Deutschlands und an seine Pflicht, zur eigenen Befreiung beizutragen. Die Deklaration bildet für Pirker den „Urtext“ (S. 126) der frühen österreichischen Denkmäler, die die politischen NS-Gegner als Heroen einer unterdrückten Nation ehrten. Noch in den 1940er-Jahren wandelte sich das Widerstands- zum Kriegsopfergedenken. Damit ging bis in die 1980er-Jahre eine „Hegemonie der wehrmachtsfreundlichen Geschichtspolitik“ einher (S. 135). Mit eigenen Forschungen verleiht Pirker dem Bild der Wiener Erinnerungslandschaft eine genauere Kontur. Hunderte Gedenkzeichen (auch Personen gewidmete biographische Tafeln) wertete er dahingehend aus, ob sie den Nationalsozialismus „thematisieren“ oder „dethematisieren“. Die zweite Kategorie sah er dann als gegeben, wenn der Bezug zum NS-Terror verschwiegen wurde, obwohl er örtlich oder lebensgeschichtlich gegeben war. Nachdem die nationalsozialistische Herrschaft bei den frühen Nachkriegswidmungen häufig präsent war, wurde ihre Nennung in der Folgezeit selten. Der drastische Bruch der Erinnerungspolitik kam als Folge der Auseinandersetzung mit der Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten im Jahr 1986. Zwei Jahre später schaute die Welt auf Österreich, um zu sehen, wie das Land mit dem 50 Jahrestag des „Anschlusses“ umgehen würde. Blieb das Jahr 1988 noch zwiespältig, so entwickelte sich vor allem in Bezug auf die Jahrestage eine differenzierte, auch europäisierte Erinnerungspolitik. Für Pirker droht allerdings heute bei „all der normativen, kulturellen und biografischen Aufladung“ die Frage „zu verschwimmen, […] woran genau erinnert werden solle, von wem und wozu“ (S. 154). Das Wiener Denkmal für die Opfer der NS-Militärjustiz hat für ihn die Formensprache des gegenwärtigen Erinnerungsbooms bereits wieder verlassen, weil es „das Entscheiden in der Tätergesellschaft als zentrales Ereignis“ definiere, an das zu erinnern sei (ebd.).

Erst mit den beiden weiteren Kapiteln wird der Band zum Katalog im eigentlichen Sinn. Die im Bereich „Erinnern“ dargestellten biographischen Vignetten zu den Deserteuren reflektieren die vielfältigen sozialen und biographischen Bezüge des „Entscheidens“ im Krieg. Prominente und unbekannte Fälle (leider nur männliche Verurteilte) werden hier aus der Feder von Angehörigen geschildert und lesen sich bewegend. Im letzten Teil des Buches („Betrachten“) kommt schließlich Olaf Nicolai in einem Gespräch mit Juliane Alton zu Wort. Es wird deutlich, dass der Katalog ohne Nicolai entwickelt wurde. Die von ihm geforderte, ausführliche konzeptionelle Einordnung seines Werkes, die er als Begleitmaterial zu seiner Arbeit vermisste, hätte vielleicht in den Band einfließen können.

Insgesamt haben die Autoren und Autorinnen ein differenziertes Werk vorgelegt, das Kritik und Zweifel an einem Denkmalprojekt im 21. Jahrhundert nicht außen vorlässt. So wendet Matthias Lichtenwagner im Kapitel „Forschen“ bewusst den Blick vom Denkmal ab, geht in einer kleinen Studie auf die „authentischen“ Orte der Militärjustiz in Wien ein und fragt nach ihrer Markierung. Insgesamt ist der Band von Optimismus getragen, dass sich, die notwendige Vermittlungsarbeit vorausgesetzt, der Gedenkort am Ballhausplatz bewähren wird.

Anmerkungen:
1 Corinna Tomberger, Das Gegendenkmal. Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Bielefeld 2007; rezensiert von Tanja Schult, in: H-Soz-Kult, 16.04.2008, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-9925 (14.08.2017).
2 Der Wettbewerbsentwurf von Heimo Zobernig schlug tatsächlich eine halb in den Boden versenkte Stele vor.
3 Dieser Beitrag ist online zugänglich unter http://porem.univie.ac.at/fileadmin/user_upload/p_porem/pdfs_ml/Pirker_Vom_Kopf_auf_die_Fuesse_Deserteursdenkmal_in_der_Wiener_Erinnerungslandschaft.pdf (14.08.2017).