G. Clemens: The Quest for Europeanization

Cover
Titel
The Quest for Europeanization. Interdisciplinary Perspectives on a Multiple Process


Herausgeber
Clemens, Gabriele
Reihe
Studien zur modernen Geschichte 63
Erschienen
Stuttgart 2017: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yaman Kouli, Institut für Europäische Geschichte, Technische Universität Chemnitz

Europa ist – trotz vielfach postulierter Dauerkrise – weiterhin Objekt zahlreicher wissenschaftlicher Publikationen, Tagungen und Diskussionen. Inzwischen kann niemand noch ernsthaft hoffen, den Literaturbestand vollständig zu erfassen. Der anerkannte Begriff der Europäischen Integration erhielt dabei in den letzten 20 Jahren Konkurrenz durch denjenigen der „Europäisierung“. Bezieht sich ersterer meist auf die institutionalisierte Integration seit Gründung der Montanunion, ist letztere Bezeichnung breiter aufzufassen. Sie will – und hier wird sie sehr ungenau – sämtliche Prozesse abdecken, die Europa zum Gegenstand haben und Anpassungs- und Veränderungsprozesse initiieren.

Diese definitorische Unschärfe zu beheben war eines der Ziele des Symposiums „Europeanization of Foreign Policies. International Socialization in Intergovernmental Policy Fields and the Example of the EPC/CFSP“, das im Februar 2015 in Hamburg stattfand. Es stellte den vorläufigen Abschluss des DFG-geförderten Forschungsprojektes „,To speak with one voice‘? Europäisierung in intergouvernementalen Politikbereichen am Beispiel der Europäischen Politischen Zusammenarbeit“ dar. Der aus der Konferenz hervorgegangene Tagungsband ist Gegenstand der vorliegenden Besprechung.

In der Einleitung erfolgt in erster Linie eine theoretische Hinführung zum Begriff „Europäisierung“. Er wird zunächst als ein politikwissenschaftlicher Terminus qualifiziert, der nicht nur den Kompetenztransfer auf die europäische Ebene beschreibt, sondern auch die Rückwirkung der europäischen Institutionen und Prozesse auf die Nationalstaaten und Regionen. Zusätzlich wird ihm eine definitorische Breite attestiert, der ihn zum universellen Analyseinstrument zu machen scheint.

Der Einführung folgen vier Aufsätze zur Außenpolitik. Alle konzentrieren sich dabei auf die 1970 ins Leben gerufene intergouvernemental organisierte Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ). Gabriele Clemens, Alexander Reinfeldt und Telse Rüter zeigen am Beispiel von Namibia, dass die nationalstaatlichen Interessen der (nach 1973) neun EPZ-Staaten das Handeln der Mitgliedsstaaten überragten. Auch in den folgenden Beiträgen von Andreas Bestfleisch zur „Nahostpolitik der Bundesrepublik Deutschland“, Umberto Tulli zu den „Limits of the EPC“ sowie Michael Gehlers zur Wende in Mittel-, Ost- und Südosteuropa in den 1980er-Jahren wiederholt sich dieses Muster: Die EPZ-Staaten waren in allen Fällen erkennbar (jedoch erfolglos) bemüht, mit einer Stimme zu sprechen und gemeinsam zu handeln. Nicht einmal eine Einigung auf gemeinsame Grundsätze (S. 84) gelang. Alle Autorinnen und Autoren kommen daher zum Ergebnis, dass sich eine wirkliche Europäisierung in der EPZ nicht feststellen lasse.

Grund hierfür ist nahezu ausschließlich die Dominanz nationaler Interessen (z.B. S. 113). Im Streit über den Fall Namibias etwa, in dem auch die Südafrikaner großen Einfluss geltend machten, spielten die Briten ein doppeltes Spiel. Durch ihren engen Kontakt mit den Amerikanern wurde eine Einigung innerhalb der 9er-Gruppe praktisch unmöglich. Gleichzeitig vermied Frankreich jegliche Konfrontation gegenüber Südafrika. Aus dieser Perspektive betrachtet scheiterte die EPZ.

Das war jedoch nicht immer so. Insbesondere den kleineren Staaten bot die EPZ neue Handlungsoptionen, wie Marek Neumann in seinem Beitrag über die „Sozialisation in CFSP Working Groups in the Case of the Czech Republik“ zeigen kann. Das erkannte – so zeigt der Aufsatz von Ane Maritdatter Alterhaug – auch die Europäische Kommission, die daher zunehmend anstrebte, in die Prozesse der EPZ einbezogen zu werden.

Die folgenden Aufsätze wählen eine andere Herangehensweise. Mathias Haeussler untersucht die Metamorphose des britischen Außenministers und späteren Premierministers James Callaghan vom Gegner des Integrationsprozesses (S. 158: „Is it not enough that we are all sitting here?“) zum Verfechter europäischer Staatenkooperation. Dieser Prozess wurde, so Haeusslers plausible Vermutung, durch regelmäßige Treffen und enge Kontakte erheblich begünstigt. Die Kommunikationswissenschaftlerin Cornelia Ilie untersucht mittels pragma-rhetorischer und diskurstheoretischer Instrumente die Kommunikationsstrategien der europäischen Staats- und Regierungschefs während des jüngsten Ukrainekonflikts.

Ruth Wodak und Ines Soldwisch rücken dagegen das Europäische Parlament ins Zentrum. Beide heben hervor, dass Europa „soziale Praxis“ der Abgeordneten sei (S. 205, 207). Wodak belegt darüber hinaus auf Basis von semi-strukturierten Interviews mit 14 Europaabgeordneten ein weiteres Mal, dass die Arbeit der Parlamentarier auch durch Zufälle und Unvorhersehbarkeiten geprägt ist. Soldwisch unterstreicht, dass das Europäische Parlament nur dann zum handlungsfähigen Akteur wird, wenn die Volksvertreterinnen und -vertreter eine gemeinsame Linie finden, die sich über die nationalen Partikularinteressen hinwegsetzt – was selten genug vorkommt.

Der Historiker Guido Thiemeyer beschäftigt sich mit der Reaktion der deutschen Bundesländer angesichts der „Europäisierung des deutschen Föderalismus“ 1950–58. Sein Beitrag liest sich wie die Dokumentation des Kampfes ersterer gegen ihre Marginalisierung in den europäischen Entscheidungsprozessen. Aus ihrer Sicht galt es zu verhindern, regelmäßig in eine Lage zu geraten, in der sie entweder im Vorfeld getroffene Entscheidungen abnicken oder einen auf internationaler Ebene beschlossenen Beschluss boykottieren konnten. Diese Bemühungen waren aus Sicht der Spitze der Landesexekutive (Regierung und Ministerien) durchaus erfolgreich, wohingegen die Länderparlamente ihre teilweise Entmachtung nicht verhindern konnten (S. 236). Christian Heinrich-Franke beschließt den Band mit einem Beitrag zu den „,Epistemic Communities‘ of Radio Regulators“. Gemäß seinen Ausführungen wurde diese seit 1960 durch Übertragung nationaler Kompetenzen insbesondere in den 1970er- und 1980er-Jahren europäisiert.

Wie ist das Buch nun in seiner Breite einzuordnen? Die Qualität der Fallstudien ist überwiegend sehr hoch, und sie lassen sich mit großem Gewinn lesen. Das gilt gerade auch für den eher als Innenansicht konzipierten Beitrag von Peter von Jagow, der durch seine Darstellung plastisch vor Augen führt, auf welche Weise nationale Interessen und Positionen in der EPZ artikuliert und zur Geltung gebracht wurden. Die Form des Tagungsbandes bringt es jedoch mit sich, dass sich die Beiträgerinnen und Beiträger der bereits im Titel formulierten theoretischen Fragestellung unterwerfen. Deutlich wird das z.B. bei den Aufsätzen von Wodak und Soldwisch: Ihre Forschung steht auch ohne das Modell der Europäisierung auf einer stabilen Grundlage, wodurch sich die Frage stellt, ob das Forschungsparadigma für die Darlegungen erforderlich ist.

Ohne es damit explizit zu beabsichtigen, legt die Publikation auf diese Weise eine zentrale Schwäche des Europäisierungskonzepts offen: seine analytische Unschärfe. Das Ansinnen, durch eine breite Definition keinen Aspekt außer Acht zu lassen, führt teilweise zu wenig überraschenden Befunden, so z.B. bei Soldwisch zu Beginn ihres Fazits: „Dass es das Europäische Parlament gibt, kann schon als ein Element im Prozess der Europäisierung begriffen werden.“ (S. 218) Auch die Bilanz Ilies, dass sich die Äußerungen der europäischen Staats- und Regierungschefs gleichzeitig durch polyphone Resonanz wie durch polyzentrische Dissonanz (S. 183) auszeichnen, ist kein europäisches Spezifikum und dürfte sich auch für zahlreiche andere Fälle bestätigen lassen. Aus epistemologischer Sicht erfolgversprechender ist es daher, die Definition jeweils gezielt anzupassen, wie es Thiemeyers (S. 221f.) Vorgehen entspricht. Das bedeutet jedoch auch, dass es Europäisierung nicht im Singular gibt, wodurch der Titel des Buches ad absurdum geführt wird.

Eine analytisch nutzbare Definition von Europäisierung – das unterstreicht Clemens bereits in der Einleitung – existiert aktuell nicht. Wer sich eine solche vom Buch erhofft, wird enttäuscht. Aber diese Erwartungen sind vielleicht auch zu hoch. Europäisierung ist zwingend auch mit einem Rückkopplungseffekt verbunden, und tatsächlich können die meisten Beiträgerinnen und Beiträge nachweisen, dass die in den Blick genommenen Gegenstände durch die europäische Zusammenarbeit verändert wurden.

Als Fazit lässt sich daher festhalten, dass die etwas unscharfe Konzeption des Sammelbands der hohen Qualität wie auch der thematischen Eigenständigkeit der meisten Einzelbeiträge nicht gerecht wird. Es dürfte reine Glückssache sein, dass jemand, der einen Aufsatz zur Kooperationsstrategie der europäischen Staaten im Nahostkonflikt sucht, einen Sammelband zur Europäisierung in die Hand nimmt. In jeweils inhaltlich passenden Fachzeitschriften wären die Aufsätze besser aufgehoben gewesen.