S. De Zordo u.a. (Hrsg.): Abortion Governance

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Titel
A Fragmented Landscape. Abortion Governance and Protest Logics in Europe


Herausgeber
De Zordo, Silvia; Mishtal, Joanna; Anton, Lorena
Reihe
Protest, Culture & Society 20
Erschienen
New York 2016: Berghahn Books
Anzahl Seiten
304 S.
Preis
€ 96,80; $ 120,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Kemper, Hamburger Institut für Sozialforschung

Obgleich sich zeitgeschichtliche Fragestellungen aus reichhaltigen gegenwärtigen Problemlagen generieren, wirken bei den sogenannten „Frauenthemen“, auch wenn sie offenkundig übergreifende Bedeutung für die gesellschaftspolitische Selbstverständigung haben, vor allem wissenschaftsimmanente Aufmerksamkeitsökonomien. Eine Politik- und Rechtsgeschichte von Reproduktionsregimen zumal auf europäischer Ebene steht jedenfalls noch aus.1 Die WHO geht davon aus, dass aktuell pro Jahr weltweit etwa 22 Millionen unsichere, weil illegale Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, die insgesamt den Tod von ca. 47.000 Frauen und Langzeitschäden bei weiteren 5 Millionen verursachen. Die medizinische Diskrepanz zwischen den Folgen einer korrekt durchgeführten Abtreibung und einem illegalen (und deshalb in den meisten Fällen prekären) Eingriff sind Grund genug, ein weltweites Gesundheitsproblem zu konstatieren. Die Herausgeberinnen von „A Fragmented Landscape“ nehmen dies zum Anlass, um in verschiedenen europäischen Ländern die Diskussion über und Möglichkeiten zur Abtreibung zu erfassen. Dabei ist ein überwiegend anthropologischer Blick auf Rechtspraxen und politische Diskurse entstanden, versehen mit historischer Tiefenschärfe und gesellschaftspolitischer Kontextualisierung.

1994 erklärten die Vereinten Nationen die freie und selbständige Entscheidung über die persönliche Reproduktion zu einem Menschenrecht, womit die individuelle Entscheidung für oder gegen eine Abtreibung auch in den Rang eines Gleichstellungsrechts gehoben wurde. Das Europäische Parlament bestätigte 2015 diese Vorgabe im Prinzip, überließ es jedoch jedem Mitgliedstaat, das nationale Abtreibungsrecht auszugestalten. Auch wenn die meisten europäischen Staaten relativ liberale Regelungen vorsehen, lassen sich in den letzten Jahren Bewegungen und Veränderungen rund um nationale Abtreibungspolitiken erkennen; etwa offensichtliche Verschärfungen wie in Polen oder die Instrumentalisierung des Themas auf der Agenda rechter und/oder populistischer Bewegungen wie in Frankreich. Das Abtreibungsrecht bleibt ein umstrittenes, emotional aufgeladenes Thema, an dem fundamentale Fragen nationaler Selbstverständigung verhandelt werden, die von so offensichtlichen Umständen wie der Gleichstellung über Demographie bis hin zum weit verzweigten Terrain von Rassismus, Paternalismus und Chauvinismus reichen.

Eine weitere Beobachtung gibt Anlass, nationale Abtreibungspolitiken in Augenschein zu nehmen: Fälle aus Nordirland, Polen, Großbritannien oder Frankreich zeigen, dass sich die politische Debatte zwischen Abtreibungsbefürwortern und -gegnern deutlich in den Rechtsbereich verschoben hat, in dem beide Seiten auf ihr Recht zur individuellen Freiheit pochen. Auf EU-Ebene werden zunehmend Fälle verhandelt, in denen Gewissensgründe zu den vorrangig vorgebrachten Gründen von Klinikpersonal gehören, um die Teilnahme an Abtreibungen zu verweigern.

Neben diesem EU-politischen und -rechtlichen Hintergrund überzeugt die Anlage von „A Fragmented Landscape“ vor allem durch ihre wissenschaftlichen Fragestellungen und Thesen, die freilich diskutiert und weiter analysiert werden müssen, aber als überfälliger Anstoß für eine Beschäftigung mit dem Reproduktionsrecht auf europäischer Ebene gut funktionieren. Dieses sei „central and instrumental in a variety of ‚moral regimes‘ and agendas“, weshalb die Analyse der „protest logics“ sowohl auf Seiten von Befürwortern wie Gegnern zeigen kann, wie sich diese verschieben und verändern (S. 5).

Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte auch das Abtreibungsrecht ins Arsenal der Systemkonkurrenz, zählte etwa 1955 die Sowjetunion zu den ersten Ländern, die Schwangerschaftsabbrüche auf Anfrage von Frauen erlaubte, während im Westen Großbritanniens Gesetzesänderung von 1968 als erster Liberalisierungsschub gilt. So unterschiedlich sich das nationale Abtreibungsrecht entwickelte, so auffällig erscheinen den Herausgeberinnen markante Veränderungen seit den 1990er-Jahren, die durch den Wegfall der Systemkonkurrenz, durch einen vor allem in Osteuropa dramatischen demographischen Wandel und die Folgen der europaweiten neoliberalen Transformation bedingt seien. In post-kommunistischen Staaten geriet das Abtreibungsrecht zu einem Politikum der Abgrenzung von der Vergangenheit und der nationalen Aufbauarbeit, während der Rückbau wohlfahrtsstaatlicher Angebote in vielen Ländern vor allem den Reproduktionsbereich traf. Zugleich ist die Individualisierung universal geltender Normen auch in der Abtreibungsdebatte zu beobachten, womit Probleme auftreten, die in allen Konflikten über Minderheitenrechte, Identitätspolitiken oder politischer Korrektheit zu konstatieren sind: Politische Forderungen nach Anerkennung verbinden sich innerhalb des Menschenrechtsdiskurses mitunter zum Anspruch auf die unbedingte Anerkennung eines individuellen, subjektiven Rechts, womit die Rechte anderer Gruppen oder Individuen automatisch negiert oder marginalisiert werden. In der Abtreibungsdebatte betrifft das die Abwägung zwischen dem „Recht des Fötus“ und dem der Schwangeren. Eine solche Ausweitung der Menschenrechte synthetisiert nicht nur das Verbot der Abtreibung, sondern sämtliche Gesundheitsvorsoge während der Schwangerschaft nunmehr zu einem „Recht des Fötus“. Auf diese Weise positionieren pro-life-Aktivisten ein neues biopolitisches Subjekt in direkter Konkurrenz zur schwangeren Frau. Der Sammelband kreist deshalb um die Frage, wie sich sowohl die Rechtsprechung als auch die rechtliche Sprache innerhalb der Proteste und Debatten verändert hat, wobei der Begriff „reproductive governance“ im Mittelpunkt steht, also diejenigen Mechanismen, mit denen unterschiedliche Akteure „use legislative controls, economic inducements, moral injunctions, direct coercion, and ethical incitements to produce, monitor, and control reproductive behaviours and population practices“ (S. 8).

Die Auswahl der nationalen Fälle im Band ist recht ausgewogen zwischen Nord- und Südeuropa, Ost und West und macht vor allem in seiner Unterschiedlichkeit deutlich, wie sehr eine kohärente Bestandsaufnahme und historische Einordnung im europäischen Maßstab fehlt. So zeigt der schwedische Fall, welche Intentionen ein Abtreibungsrecht aufweisen kann, das seit den 1960ern zwar kontinuierlich liberalisiert wurde, aber gleichzeitig eine Politik implementierte, die das Bild der „richtigen Mutter“ verfestigte, indem Beratungs- und Hilfsmaßnahmen vor allem auf prekäre gesellschaftliche Gruppen wie Migrantinnen, junge oder gehandicapte Frauen konzentriert wurden. Der Beitrag der beiden Historikerinnen im Band zeigt wiederum, dass die Debatte um das Abtreibungsrecht nicht unbedingt von der Frauenbewegung in Gang gesetzt wurde, sondern es wie in Großbritannien ein von Labour in den 1960er-Jahren auf die Agenda gesetztes Klassenkampf-Thema darstellte. In der Schweiz wirkte sich das kantonale Wahlrecht unmittelbar auf die Gesetzeslage aus, die mit Einführung des Frauenwahlrechts 1971 thematisiert werden konnte, aber erst 2001 in ein liberales Abtreibungsrecht mündete. Andere nationale Besonderheiten zeigen sich etwa am Beispiel Russlands, wo die Abtreibungsgegner den US-amerikanischen Trauma-Diskurs für sich entdeckt haben und ihn auf ein „post-abortion-syndrome“ ausweiten, das – geschichtspolitisch gewendet – eine Abgrenzungsmetapher von der sowjetischen Abtreibungspolitik darstellt. Aber auch in katholischen Ländern wie Italien oder Belgien greift der Trauma-Diskurs, womit ein Trend zur Pathologisierung abtreibender Frauen mehr als deutlich wird. Auf die Details der anderen nationalen Studien zu Spanien, Norwegen, Rumänien, Polen und Nordirland kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Sie überzeugen in ihrem umsichtigen Ansatz, der zweifellos einer kritischen Position gegenüber Abtreibungsgegnern entstammt, gleichwohl die Interaktion beider Seiten in den Mittelpunkt stellt, womit sich die mitunter starren Kategorien wie etwa „die Frauen“, „die Kirche“ oder „die pro-life Aktivisten“ hilfreich differenzieren.

Der Sammelband ist nicht nur für GeschlechterhistorikerInnen ein thematischer Fundus, sondern muss auch Bewegungs- und RechtshistorikerInnen2 interessieren, die sich damit auseinanderzusetzen haben, dass ein vermeintlicher Prozess wie die „Liberalisierung“ sowohl von ökonomischen, materiellen Faktoren als auch untergründigen Subjektivierungstechniken kreiert wird und keine Richtung aufweist, sondern eine Konstellation darstellt, die sich jederzeit verschieben kann.

Anmerkungen:
1 Anschlussfähige Arbeiten liegen vor, wie Lutz Niethammer / Silke Satjukow (Hrsg.), „Wenn die Chemie stimmt“: Geschlechterbeziehungen und Geburtenplanung im Zeitalter der „Pille“, Göttingen 2016. Zur Weimarer Republik und zu Osteuropa liegen transdisziplinäre Arbeiten vor, u.a.: Thorsten Eitz / Isabelle Engelhardt, Diskursgeschichte der Weimarer Republik. 2 Bde., Hildesheim 2015, rezensiert von Caroline Rothauge in: H-Soz-Kult, 12.05.2017, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25801 (20.06.2017); Robert Heynen, Degeneration and Revolution. Radical Cultural Politics and the Body in Weimar Germany, Leiden 2015, rezensiert von Jens Elberfeld in: H-Soz-Kult, 14.10.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-26011 (20.06.2017); Igor J. Polianski, Das Schweigen der Ärzte. Eine Kulturgeschichte der sowjetischen Medizin und ihrer Ethik, Stuttgart 2015, rezensiert von Björn Felder in: H-Soz-Kult, 08.06.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25491 (20.06.2017).
2 Anschluss bieten Justin Collings, Democracy's Guardians. A History of the German Federal Constitutional Court, 1951–2001, Oxford 2015; Christian Fischer / Walter Pauly (Hrsg.), Höchstrichterliche Rechtsprechung in der frühen Bundesrepublik, Tübingen 2015, rezensiert von Kim Christian Priemel in: H-Soz-Kult, 13.09.2016, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25643 (20.06.2017).