W. Greiling u.a. (Hrsg.): Zwischen Stadt, Staat und Nation

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Titel
Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland


Herausgeber
Gerber, Stefan; Greiling, Werner; Kaiser, Tobias; Ries, Klaus
Erschienen
Göttingen 2014: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
2 Bde., 852 S.
Preis
€ 99,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Schäfer, Dresden

Die beiden Bände „Zwischen Stadt, Staat und Nation: Bürgertum und Deutschland“ versammeln insgesamt 45 Einzelbeiträge, in denen, so die Ankündigung im Vorwort, das deutsche Bürgertum „in all seinen Facetten als Wirtschaftsbürgertum, als Stadtbürgertum, als Staatsbürgertum und als Bildungsbürgertum“ beleuchtet werden soll (S. 11). Die Herausgeber begreifen dabei das Bürgertum weniger als eine „sozial-ökonomisch determinierte Formation, sondern vielmehr als eine kulturelle Kategorie“. Nicht Einkommen, Beruf, politisch-rechtliche Stellung kennzeichneten in erster Linie den Bürger, sondern eine spezifische Art zu leben, sich zu kleiden, seine Freizeit zu gestalten, ein Habitus, in dem sich dann auch die „härteren“ Faktoren wie Besitz, Berufsstatus etc. verdichteten. Dieser neueren und umfassenderen Bedeutung von Bürgertum versuche man im vorliegenden Doppelband gerecht zu werden. Es sollen dabei neue kulturhistorische Fragestellungen auf die Bürgertumsforschung angewandt werden (S. 11f.).

Um es vorwegzunehmen, die beiden Bände können das angekündigte Versprechen, einen neuen Blick auf das „Bürgertum in Deutschland“ zu werfen, in keiner Weise einlösen. Bei dem vorliegenden Werk handelt es sich nämlich offenbar um eine Festschrift zum 65. Geburtstag des Jenaer Historikers Hans-Werner Hahn. Bei einer Festschrift geht es nun gemeinhin darum, einem geschätzten Kollegen und Lehrer gegen Ende seiner akademischen Laufbahn die Honneurs zu erweisen. Dementsprechend breit fällt meistens, und so auch hier, das thematische und zeitliche Spektrum der Beiträge aus. Es reicht vom Universitätshumanismus der Reformationszeit bis zu einer „Friedenswallfahrt“ im Thüringen der 1980er-Jahre, von Goethes Beziehung zu Napoleon bis zur hessischen Landesplanung in der frühen Bundesrepublik.

Ein Teil der Aufsätze hat überhaupt keinen erkennbaren Bezug zum Bürgertum. Die meisten anderen Beiträge beschäftigen sich zwar in irgendeiner Weise mit Personen oder Personengruppen, die dem Bürgertum als soziokultureller Formation zugeordnet werden können. Dieser Zusammenhang wird aber kaum explizit hergestellt und scheint die meisten Autoren auch gar nicht weiter zu interessieren (was wiederum im Rahmen einer Festschrift durchaus legitim ist). Selbst die neun Beiträge, die in der Sektion „Bürgertum und bürgerliche Lebenswelten“ subsumiert sind, kommen überwiegend ohne Bezug auf den Begriff des Bürgertums oder den der Bürgerlichkeit aus. Im Grunde operieren lediglich zwei der 45 Autoren mit analytischen Begriffen der Bürgertumsforschung: Andrea Hopp beschäftigt sich mit der Konstruktion von Bürgerlichkeit in den Selbstzeugnissen Frankfurter Juden zwischen dem späten 19. Jahrhundert und der NS-Zeit. Tobias Kaiser widmet sich auf den letzten drei Seiten (S. 448ff.) seiner biographische Skizze Eduard Baltzers, eines 48er Revolutionärs und Vorreiters der deutschen Vegetarierbewegung, der Frage, inwiefern sein Denken und Handeln als „bürgerlich“ gelten kann.

Diese beiden, an sich gelungenen Beiträge verweisen in ihrer Verwendung des Bürgerlichkeitsbegriffs auf ein Problem, das die neuere Bürgertumsforschung im Grunde seit ihren Anfängen in den 1980er-Jahren begleitet hat und das durch die von den Herausgebern angedeutete „kulturalistische“ Wendung eher noch verschärft wird. Von ihrem programmatischen Ausgangspunkt betrachtet, beschäftigte sich die Bürgertums-Historiographie – die „Frankfurter“ wie die „Bielefelder“ – mit einer Geschichte des Verrats: Das deutsche Bürgertum wandte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts von „bürgerlichen“ Tugenden, Werten, Gesellschaftsentwürfen ab oder prägte diese Werte und Tugenden möglicherweise nie ausreichend aus. Ihre Schubkraft bezog diese Lesart der Geschichte des Bürgertums in Deutschland von der definitorischen Engführung der beiden Bedeutungsvarianten des „Bürgers“ im Deutschen, des Bourgeois als Angehörigem einer sozialen Formation, einerseits und des Citoyen als Angehörigem eines politischen Verbandes, andererseits. Mittlerweile ist in der Historiographie das Narrativ des Verrats ziemlich zurückgetreten, die begriffliche Engführung des Bourgeoisen und des Zivilen ist aber geblieben. Zur Bürgerlichkeit als Habitus und Lebensstil des Bürgertums werden nun meist ziemlich umstandslos auch die Zivilität, das zivilgesellschaftliche Engagement und Ähnliches gezählt. Dieser Perspektivenwechsel hat mitunter den wundersamen Effekt, dass dem deutschen Bürgertum nicht mehr ein Mangel an ziviler Bürgerlichkeit attestiert wird, sondern die Zivilität nun zu seiner habituellen Grundausstattung zu gehören scheint.

Aber, wie gesagt, das Thema Bürgerlichkeit und Bürgertum spielt trotz der großspurigen Ankündigung im Titel und im Vorwort in den allermeisten Beiträgen des Bandes eine allenfalls periphere Rolle. Thematische, räumliche und chronologische Schwerpunkte sind insoweit auszumachen, als eine größere Anzahl von Aufsätzen regional und lokal in Thüringen verortet ist. Mehr als die Hälfte der Autoren beschäftigt sich mit Themen aus dem 19. Jahrhundert, einer Zeitperiode, in der auch der Jubilar Hans-Werner Hahn wissenschaftlich zuhause war (und wohl noch ist). Einen thematischen Kern des Doppelbandes bilden die 15 Beiträge, die in den Sektionen „Vormärz und Nation“ und „Revolution und Nation“ zusammengefasst werden und auch tatsächlich in einem relativ dichten gegenseitigen Bezug stehen. Der Fokus liegt hier auf der Geschichte der deutschen Verfassungs- und Nationalbewegung zwischen dem Vormärz und der Reichsgründungszeit. Eine gewisse thematische und zeitliche Nähe zur Geschichte dieser Bewegung zwischen 1815 und 1871 weist auch der größte Teil der Sektion „Bürgertum und bürgerlichen Lebenswelten“ auf.

Im Einzelnen bieten diese Aufsätze eine große Diversität theoretisch-methodischer Zugänge. Um die Konstruktion von Geschichtsbildern geht es etwa in Georg Schmidts Beitrag über den Mythos, der sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts an Weimar und Jena als Wirkungsstätten Goethes und Schillers geheftet hat. Die beiden thüringischen Städte stehen auch im Mittelpunkt von Michael Maurers Studie zu dynastischer und bürgerlicher Denkmalkultur. Mit der Popularisierung und Unterdrückung politischer Symbole im Vormärz beschäftigt sich Erich Schunk am Beispiel der Farben „Schwarz-Rot-Gold“. Eine geschlechtergeschichtliche Perspektive nimmt Gisela Mettele ein, wenn sie die politische Mobilisierung Jenaer Studenten zur Zeit der antinapoleonischen Befreiungskriege in den Blick nimmt. Neben solchen kultur- und diskurshistorischen Arbeiten finden sich auch eher konventionelle organisations- und politikgeschichtlichen Studien wie Eckhardt Treichels datengesättigter Beitrag zum Mitgliederprofil der Kommission der Deutschen Bundesversammlung 1816-1820. Eine ganze Reihe biographischer Skizzen befasst sich mit Protagonisten der Verfassungs- und Nationalbewegung, meist mit thüringischem Bezug.

Eher lose erscheint dagegen der thematische Zusammenhang zwischen den einzelnen Beiträgen, die unter den Titeln „Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte“ und „Wirtschaft und Industrialisierung“ subsumiert sind. In der Sektion „Regionen und Räume“ sind schließlich diejenigen Aufsätze versammelt, die partout nicht in eine der anderen thematischen Kategorien passen wollten, Abhandlungen zur frühneuzeitlichen Bevölkerungsgeschichte Thüringens, zu den bildlichen Darstellungen des Saarbrücker Schlossbrandes von 1793, zur Biographie des Schmalkadener NSDAP-Kreisleiters, zur bereits erwähnten „Friedenswallfahrt“ 1983 und anderes mehr.

So fällt das Fazit insgesamt etwas ambivalent aus. Die beiden Bände bieten sicherlich viele interessante und lesenswerte Aufsätze zur politischen Kultur zwischen Vormärz und Reichsgründung, zur thüringischen Regionalgeschichte und zahlreichen anderen Themen. Wer aber auf einen neuen Blick auf das „Bürgertum in Deutschland“ gespannt war, den wird dieses Werk wohl eher enttäuscht zurücklassen.