J. Callmer (Hrsg.): Identity Formation in the Early Medieval Baltic

Titel
Identity Formation and Diversity in the Early Medieval Baltic and Beyond. Communicators and Communication


Herausgeber
Callmer, Johan; Ingrid, Gustin; Roslund, Mats
Reihe
(Northern World)
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 135,13
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Brather, Institut für Archäologische Wissenschaften, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Der problematischen Vorstellung einer einheitlichen skandinavischen Kultur der Wikingerzeit einerseits und einer ebenso homogenen frühslawischen Kultur andererseits begegnet dieser Band mit dem Versuch, regionale Diversität, plurale kulturelle Identitäten sowie interpersonale und interregionale Kommunikation hervorzuheben. Erfasst wird ein Raum zwischen Mittelschweden, Südfinnland, Nordwestrussland und Estland zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert. Methodisch konzedieren die Herausgeber sowohl den konstruktivistischen Charakter von Ethnizität als auch die notwendige Unterscheidung zwischen ethnischer Identität und kultureller Prägung, aber erstere wird dennoch als grundlegend für Kleingruppen und Staatsbildungen beschrieben. Überlagerungen und Dynamiken werden als charakteristisch angesehen, und Kommunikation soll in soziale und kulturelle Beziehungen eingebettet sein. Begrifflich und zeitlich werden ar-Rus und Rus’ um 860 n. Chr. unterschieden (bevor ab dem späten 10. Jahrhundert slawisch sprechende Gruppen an politischem und kulturellem Einfluss gewannen), und als Waräger gelten in Osteuropa aktive Skandinavier.

Alle zehn Beiträge gehen auf eine Konferenz in Lund von 2007 zurück; inwieweit die zwischen 10 und 50 Seiten umfassenden Studien danach aktualisiert worden sind, bleibt offen. Die Autoren stammen aus Schweden (4), Dänemark (2), Estland (2), Finnland (1) und Norwegen (1).

Aus estnischer Perspektive blickt Marika Mägi auf die Nachbarregionen seit der Bronzezeit; während der mehr als zwei Jahrtausende vor der Wikingerzeit koexistierten lokale Besonderheiten und interregionale Beziehungen, die von der traditionellen Forschung überwiegend durch die nationale und evolutionistische Brille betrachtet wurden. Auf diese Weise erschienen Skandinavien dominant und die westliche Ausstrahlung des östlichen Baltikums marginal. Pferdezaumzeug in Gräbern und Pferdegräber in Estland zwischen 500 und 1000 stellt Valter Lang ebenfalls in einen weiteren kulturellen und zeitlichen Zusammenhang; der These, daraus lasse sich auf die verbreitete Vorstellung eines „Ritts ins Jenseits“ schließen, wird man angesichts der dürren Beweislage nur eingeschränkt folgen können.

Dagegen entwirft Søren Sindbæk ein plausibles Modell für Staraja Ladoga, das sich demzufolge nicht aus dem Nichts als Fernhandelsumschlagplatz etablierte, sondern sich vor dem Hintergrund existierender Netzwerke zu einem regionalen Mittelpunkt entwickelte, der schließlich zu einem Knotenpunkt von Fernverbindungen entlang der Flussläufe wurde. Ohne den vorangegangen Austausch zwischen Taigabewohnern und Skandinaviern im 8. und 9. Jahrhundert hätten sich keine Verbindungen zum Kalifat aufbauen lassen. Charlotte Hedenstierna-Jonson hebt die kulturellen Einflüsse aus Persien, Ungarn und Byzanz in Birka hervor, die sich ebenso in Novgorod, Gnëzdovo und Šestovica feststellen lassen. Zusammen mit dem östlichen Vorkommen von im Borrestil verzierten Gegenständen sieht sie darin Belege für eine gemeinsame Identität als Rus’ im 10. Jahrhundert, was einerseits spekulativ erscheinen mag, aber andererseits die Perspektive auf erfrischende Weise einmal umdreht.

John H. Lund greift sein Modell einer „warägischen Christenheit“ auf und hebt anhand hagiographischer Texte hervor, dass im Hochmittelalter skandinavische und angelsächsische Heilige wie Olaf oder Alban in der Kiever Rus’ verehrt wurden; das Schisma von 1054 bedeutete in der Praxis offenbar keinen raschen Bruch zwischen Westen und Osten.

Mit der Etablierung der ar-Rus im 8. und 9. Jahrhundert im heutigen Nordwestrussland befasst sich Johann Callmer in einem souveränen Überblick. Verglichen mit Skandinavien spielten Fernverbindungen eine größere Rolle für die frühe Staatsentwicklung, die sich zunächst im Norden vollzog, um sich dann rasch bis zum Kaspischen und Schwarzen Meer auszudehnen. Am unteren Volchov etablierten sich im mittleren 8. Jahrhundert ausgedehnte Siedlungsagglomerationen – vor dem Hintergrund einer primär ‚autochthonen‘ Bevölkerungsverdichtung. Grabhügel von mehr als 2 m Höhe mit Steinsetzungen und Brandgräbern (sopki) können als Innovation gelten. Man baute in Zentralsiedlungen große zweiräumige Häuser in Blockbauweise von 12 x 6 m² mit einem bis zu 3 m langen Herd, die von mehreren kleinen Gebäuden umgeben waren; bislang nur in Staraja Ladoga belegt, spiegeln sich darin skandinavische Einflüsse. Die Keramik vom Typ Ladoga mit hohem Schulterknick, die häufigste Form im 8. Jahrhundert, stellt ebenfalls eine (balto-finnische) Neuentwicklung dar und kann nicht mit westslawischen Parallelen in Verbindung gebracht werden. Fernverbindungen in den Ostseeraum und zum oberen Donec brachten viele ‚Fremdgüter‘ hierher, während vor allem Pelze exportiert wurden. Politisch verlagerte sich das Zentrum Mitte des 9. Jahrhunderts von Ladoga nach Rjurikovo Gorodišče bei Novgorod; sozial lassen sich vier ‚Schichten‘ unterscheiden: die Herrscher (kagan) und ihr Umfeld, die Kaufleute, die Bevölkerungsmehrheit und Sklaven. Insgesamt betrachtet Callmer diese Neuentwicklungen als Hinweis auf eine neue kulturelle und auch religiöse ‚Identität‘.

Für die Analyse schwedisch-finnischer Kontakte sieht Mats Roslund beide Regionen als ebenbürtig an und vermeidet damit, den Osten als ‚Peripherie‘ zu marginalisieren. Ausführlich wird die kulturelle Entwicklung in Finnland erläutert, bevor finnische Funde in Uppland vorgeführt werden: Scheiben- und Ringfibeln, Keramik und weiteres, die überwiegend aus der Wikingerzeit stammen. Dann verschob sich das schwedische wirtschaftliche Interesse nach Novgorod, bevor die schwedischen Könige im 13. Jahrhundert als Kreuzfahrer ‚zurückkehrten‘. Daran schließt der mit 50 Seiten längste Beitrag des Bandes an, in dem sich Ingrid Gustin mit südwestfinnischen Objekten in den Gräbern aus Birka befasst. 13 Kleidungsbestandteile sowie 36 Gefäße des Typs Selling A III aus insgesamt 46 Gräbern (kaum 4 %) sind bislang bekannt. Nach detaillierter Analyse der Kontexte resümiert Gustin „eklektische“ Zusammenstellungen, die sozialer Repräsentation dienten.

Karolingerzeitliche Schwerter behandelt Anne Stalsberg und gelangt anhand archäologischer Funde und schriftlicher Quellen zu zwei Thesen. Erstens sind Schwerter aus dem Karolingerreich nicht ‚offiziell‘ nach Skandinavien exportiert, sondern illegal geschmuggelt worden; zweitens gelangten Schwerter über den Ostseeraum in weiter entfernte östliche Regionen. Dirhamhorte um den Bottnischen Meerbusen (Nordwestrussland, Estland, Finnland) sind Gegenstand des Beitrags von Tuuka Talvio; diese Regionen waren von entscheidender Bedeutung für die Fernverbindungen zwischen Ost und West, wobei die Ålandinseln eine zentrale Rolle spielten.

Das Verdienst des Bandes liegt darin, neue Kontextualisierungen jenseits eingetretener Pfade vorzuschlagen – und dabei nüchtern zu argumentieren. An die Stelle einfacher, da ethnischer bzw. nationaler Interpretationen treten komplexere und zugleich interessantere Rekonstruktionen. Das gelingt naturgemäß besser in jener Hälfte der Beiträge, die sich mit umfassenden Perspektiven befasst, als in der anderen, die primär spezifische Funde in den Mittelpunkt stellt. Zugleich ergibt sich daraus eine Relativierung des skandinavischen „Zentrums“, gegenüber dem der „Rest“ als sekundär erschiene – erst in der Verflechtung konnte die „Ostseewelt“ zu dem werden, was sie im Früh- und Hochmittelalter war.

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