Cover
Titel
Boom in der Krise. Konsum, Tourismus, Autofahren in Westdeutschland und Großbritannien 1970–1990


Autor(en)
Fabian, Sina
Reihe
Geschichte der Gegenwart 14
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
494 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Hung, Department of History and Art History, Utrecht University

Als vor einigen Jahren ein kurzlebiges Siebziger-Revival die britischen Inseln erfasste, rief der Kolumnist Jim White seinen Lesern die grundlegende Unzulänglichkeit der Dekade ins Gedächtnis: „[N]othing was any good. Nothing ever seemed to work. We were nearly 20 years on from the gloom of the immediate post-war world, yet we still lived in black and white. Sure, things had progressed. Unlike his dad, my father did have a car. Actually he had a succession of them. The only drawback was, they were forever breaking down.”1

Dieser Widerspruch zwischen der Ausweitung der individuellen Prosperität und der gleichzeitigen Wahrnehmung der 1970er-Jahre als einem Krisenjahrzehnt, in dem die Nachkriegsgesellschaft aus den Fugen geriet, ist – ganz kurz gefasst – das Thema von Sina Fabians vergleichender Studie über den Massenkonsum in Großbritannien und Westdeutschland während dieser Epoche. Die Autorin dehnt die Krisenzeit dabei auf die 1980er-Jahre aus und fügt den damaligen Öl- und Wirtschaftskrisen die von Zeitgenossen prognostizierte „innere“ Krise einer zunehmenden Individualisierung der Gesellschaft hinzu, „die sich insbesondere im Konsumverhalten und in eigenen Konsumstilen“ (S. 14) ausdrückte. Konkret behandelt die Forschungsarbeit, die auf Fabians Dissertation an der Universität Potsdam beruht, die Frage inwiefern die Krisen und die Krisenwahrnehmung langfristig das Konsumverhalten in beiden Ländern veränderten und ob sich dabei eine zunehmende Individualisierung der Bevölkerung feststellen lässt. Als beispielhafte Konsumfelder untersucht sie dabei den Tourismus und das Automobil. Die Arbeit ist „im Feld einer erweiterten Sozialgeschichte und der Neueren Kulturgeschichte“ (S. 16) angesiedelt und stellt ausdrücklich die Konsumenten und deren Konsumpraktiken in den Mittelpunkt des Interesses. Die Autorin sieht in diesem Fokus eine wichtige Innovation ihrer Arbeit, da es an einer „Bottom-up-Perspektive“ auf das Konsumverhalten bisher gemangelt habe (S. 15).

Mit dieser Fragestellung positioniert sich die Autorin in einem äußerst dynamischen Forschungsfeld: Nachdem die 1970er- und 1980er-Jahre lange Zeit als Übergangsepoche zwischen 1968 und 1989 behandelt worden sind, arbeiten Historiker seit einiger Zeit an einer umfassenden Neuinterpretation der Zeit. Jüngst wurden die 1970er-Jahre sogar als „der wichtigste Wendepunkt“ der Nachkriegsgeschichte zwischen 1945 und 1989 bezeichnet.2 Fabians Arbeit reiht sich in eine wachsende Anzahl von Forschungsbeiträgen ein, die das Narrativ des „nach dem Boom“ hinterfragt haben, das sich in der geschichtlichen Aufarbeitung der Zeit nach 1973 etabliert hat. Mit ihrer Perspektive auf die Konsumgeschichte leistet Fabian einen wichtigen Beitrag zu einer komplexeren Sichtweise dieser Epoche. So legt sie anhand einer Vielzahl verschiedener Quellen – von Reisekatalogen und Autowerbung bis zu Tagebüchern, Leserbriefen und zeitgenössischen Schlagertexten – überzeigend dar, wie sich die Konsumerfahrung einer breiten Mehrheit der Bevölkerung als überwiegend positive „Gegenerzählung“ zu den politik- oder wirtschaftsgeschichtlichen Darstellungen der Epoche positionieren lässt. So zeigt sie beispielsweise, wie der Auslandsurlaub zur Erprobung neuer Konsumpraktiken benutzt wurde und so zuhause der Akzeptanz hedonistischer Lebensstile und der Zurschaustellung von Konsum Vorschub leistete (S. 232–237).

Während diese Befunde überzeugen, sind Fabians Ergebnisse hinsichtlich der Individualisierung nicht ganz so einschlägig. Die Autorin räumt der Begrenzung der individuellen Freiheit durch Staat und Produzenten viel Platz ein, um damit zu zeigen, dass die damalige Prognose einer radikalen Individualisierung falsch oder zumindest zu kurz gegriffen war. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass die Wahrnehmung dieses vermeintlichen „Wertewandels“ schon damals durchaus kritisch gesehen wurde, geraten bei diesem Fokus einige wichtige Aspekte aus dem Blick.3 So argumentiert Fabian etwa, dass durch die Einführung der Gurtpflicht und der begrenzten Anzahl von Automodellen den Individualisierungsmöglichkeiten, die der Kauf eines eigenen Pkw eröffnete, enge Grenzen gesetzt wurden (S. 373). Diese richtige Feststellung ignoriert jedoch die Aneignung von Massengütern, die innerhalb solcher Grenzen stattfand, etwa in Form von Fahrzeugtuning, das gerade in den 1970er-Jahren zunehmend populär wurde.4 Die Autorin erwähnt zwar am Rande eine Autobesitzerin, die ihre erste Ente selbst umlackierte und mit Schmetterlingsaufklebern verzierte (S. 363), geht auf solche Personalisierungen des Massenprodukts Automobil allerdings nicht weiter ein. Bei einer Arbeit, die sich explizit im Feld der Neuen Kulturgeschichte positioniert, wäre dies jedoch wünschenswert gewesen. Ein solcher Blick hätte möglicherweise interessantere Befunde geliefert als jenen, dass sich die Sache mit der Individualisierung „bei einer genaueren Betrachtung aus der Perspektive der […] Bevölkerung als wesentlich vielschichtiger und ambivalenter“ (S. 430) erweist als bisher angenommen.

Einige Abschnitte des knapp 500 Seiten umfassenden Buchs hätten zudem ohne Schäden an der Argumentation gestrichen oder zumindest verkürzt werden können. So räumt Fabian einigen Details viel Platz ein, bei denen die Verbindung zur übergeordneten Forschungsfrage nach dem Konsumverhalten und der Individualisierung nicht immer ganz einleuchtend ist, beispielsweise der Einführung des Fünf-Gang-Getriebes und der Benutzung von computer-aided design (CAD) in der Entwicklung benzinsparender Fahrzeuge oder dem Ausbau des Tourismus im franquistischen Spanien. Dagegen kommt die Einbettung in größere gesellschaftliche Zusammenhänge streckenweise etwas zu kurz: Fabian zeigt beispielsweise sehr überzeugend, wie sich die Konsumerfahrung oft hinsichtlich sozialer Klasse oder Geschlecht unterschied – etwa für Mütter, die sich auch im Urlaub um die Hausarbeit kümmern mussten (S. 209–210) oder für Ehefrauen, die sich durch den Kauf eines Autos unabhängiger von ihren Ehemännern machten (S. 374–381). Eine Verbindung zur zweiten Welle der Frauenbewegung und der zeitgenössischen Debatte über die „Emanzipation“, sicherlich eines der wichtigsten gesellschaftlichen Phänomene der Zeit, wird dabei aber nicht geschlagen. Auch der Kalte Krieg als ideologischer, politischer und kultureller Rahmen des Untersuchungszeitraums kommt fast gar nicht zur Sprache. Dies wäre vielleicht nicht unbedingt problematisch, wenn es sich bei dem vorliegenden Buch um einen Beitrag zur traditionellen Automobil- oder Tourismusgeschichte handeln würde. Fabian positioniert die Arbeit aber ausdrücklich als Versuch, das Geschichtsbild der 1970er-Jahre als „Krisenjahrzehnt“ und der 1980er-Jahre als „Jahrzehnt der Individualisierung“ zu hinterfragen. Angesichts eines solchen Anspruches wären umfangreichere Querverbindungen zum breiteren historischen Kontext wünschenswert gewesen.

Der Eindruck, dass Anspruch und Herangehensweise nicht immer ganz in Einklang sind, stellt sich auch hinsichtlich der herangezogenen Methodik ein: Zwar ist der Versuch lobenswert, in einem multiperspektivischen Ansatz sozial- und kulturgeschichtliche Quellen zusammenzuführen, allerdings stehen diese beiden Aspekte in der Studie oft etwas isoliert nebeneinander, ohne sich gegenseitig zu befruchten. Und obwohl die Studie auf einer umfangreichen Quellenbasis beruht, ist es nicht einleuchtend, warum gerade auf Zeitzeugeninterviews verzichtet wurde, wenn doch soziale Praktiken im Mittelpunkt der Arbeit stehen. Der angegebene Grund, „[a]ufgrund der Fülle des vorhandenen Materials“ (S. 25) davon abgesehen zu haben, ist nicht vollauf befriedigend. Entsprechend verbinden sich die einzelnen Teilaspekte der großangelegten Studie nicht immer zu einem großen Ganzen, so dass sie dem formulierten Anspruch, die bisherige Forschung grundlegend zu hinterfragen, nicht immer gerecht werden kann.

Insgesamt handelt es sich jedoch um eine umfangreiche, zeitgemäße, quellenreiche und gut lesbare Forschungsarbeit, die einen wichtigen Beitrag zur Interpretation und Einordnung einer immer noch unterbelichteten Epoche liefert.

Anmerkungen:
1 Jim White, It was a dog’s life in the 70s, in: The Telegraph, 13.02.2007, http://www.telegraph.co.uk/news/features/3631563/It-was-a-dogs-life-in-the-70s.html (19.06.2017).
2 Thomas Borstelmann, The 1970s: A New Global History from Civil Rights to Economic Inequality, Princeton 2012, S. 123.
3 Vgl. dazu ebd., S. 227–277 und die Aufsätze in Dan Berger (Hrsg.),The Hidden 1970s: Histories of Radicalism, New Brunswick/N.J. 2010, S. 177–284.
4 Siehe dazu beispielhaft für die frühe Phase des Automobils: Kathleen Franz, Tinkering: Consumers Reinvent the Early Automobile, Philadelphia 2005.

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