N. Reusch: Populäre Geschichte im Kaiserreich

Cover
Titel
Populäre Geschichte im Kaiserreich. Familienzeitschriften als Akteure der deutschen Geschichtskultur 1890–1913


Autor(en)
Reusch, Nina
Reihe
Historische Lebenswelten in populären Wissenskulturen 16
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Weigand, Universitätsarchiv der Ludwig-Maximilians-Universität München

Diese Veröffentlichung hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Zu fragen, welchen Einfluss Artikel zu Themen aus der Geschichte, gedruckt in Zeitschriften wie etwa „Die Gartenlaube“, auf das historische Bewusstsein ihrer Leser hatten, ist mehr als gerechtfertigt, besonders angesichts der durchaus beträchtlichen Auflagezahlen derartiger Zeitschriften (vgl. S. 73). Nina Reusch hat insgesamt fünf Zeitschriften ausgesucht, von denen anzunehmen ist, dass sie eine jeweils unterschiedliche Leserschaft gefunden haben: „Die Gartenlaube“, „Daheim“ „Alte und Neue Welt“, „Die Neue Welt“ sowie „Sonntagszeitung für Deutschlands Frauen/Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus“. Reusch vermutet bei diesen Presseorganen ein vorrangig nationalliberal bis nationalkonservatives (Die Gartenlaube), ein protestantisch-konservatives (Daheim), ein katholisch-konservatives (Alte und Neue Welt) sowie ein sozialdemokratisches Publikum (Die Neue Welt), während sie von einer so gut wie rein weiblichen Leserschaft bei der „Sonntagszeitung für Deutschlands Frauen/Sonntags-Zeitung fürs Deutsche Haus“ ausgeht. Wenngleich derartige Zuordnungen als sehr plausibel eingeschätzt werden müssen – vor allem angesichts der nachweisbaren politischen Verortung der jeweiligen Verleger –, steht diese Studie, wie fast alle derartigen Untersuchungen, vor einem großen Dilemma: Rezeptionsforschung – also in diesem Fall die konkrete Frage, wer diese Zeitschriften tatsächlich gelesen hat, die Frage, wie diese Zeitschriften bei den jeweiligen Konsumenten ankamen, vor allem aber die Frage, welchen Einfluss die einzelnen Artikel zu historischen Themen auf das Geschichtsbewusstsein der Leser, kurzfristig und langfristig, hatten – ist grundsätzlich ein nicht leicht zu bewältigendes Feld. Bei dem gewählten Thema kommt freilich noch der Umstand hinzu, dass die hier in Frage kommenden Rezipienten längst nicht mehr am Leben sind.

Wie intensiv sich die Autorin der vorliegenden Studie dieser Problematik bewusst ist, ist schwer zu sagen, gerade weil sie selbst formuliert: „Die Analyse von Familienzeitschriften als Quellen der Geschichtskultur erfordert eine Einbeziehung der beteiligten AkteurInnen, die an ihrer Produktion mitwirkten, aber auch der RezipientInnen sowie der Strukturen, innerhalb derer die Zeitschriften und ihre Geschichtsdarstellungen entstanden und gelesen wurden. Eine Analyse allein des fertigen Produkts würde der Komplexität der Wissensgenerierung nicht gerecht.“ (S. 74)

Angesichts der Unmöglichkeit einer methodisch sauberen Rezeptionsforschung, die sich gezielter Befragungen oder zumindest diesbezüglich aussagekräftiger Quellen bedienen müsste, bleiben zwei Untersuchungsgegenstände übrig: einerseits die Verlage bzw. die Verleger sowie die Autoren der in den Zeitschriften veröffentlichten Artikel. Hier geht es dann um die politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Ziele, die Verleger und Autoren damit verbanden, Geschichte so und nicht anders der Leserschaft zu präsentieren. Andererseits gilt es, die Artikel selbst hinsichtlich des traktierten Themas, hinsichtlich der gewählten literarischen Form sowie hinsichtlich der vermittelten Geschichtsinterpretation zu analysieren.

Was die Verlage betrifft, so tut sich ein weiteres Forschungshindernis auf: Nur von zwei Verlagen der hier untersuchten Zeitschriften sind überhaupt Firmenarchive überliefert, von Velhagen und Klasing (Daheim) sowie vom Benziger-Verlag (Alte und Neue Welt). Doch scheinen die hier überlieferten Papiere kaum Aussagen über den möglicherweise bewussten und zielgerichteten Einsatz historischer Themen in den besagten Zeitschriften zuzulassen (vgl. S. 25, Anmerkungen 57 und 58). Daher greift Reusch vorrangig bzw. ausschließlich auf die vorliegende Literatur zu den einzelnen Presseorganen zurück, die aber ihrerseits produktimmanent argumentiert. Gleichermaßen wird, wenn es um die Autoren und Autorinnen der Zeitschriftenartikel zu historischen Themen geht, allein auf Literatur, vielfach auf Lexikonartikel Bezug genommen. Unklar bleibt, ob Reusch zumindest versucht hat zu eruieren, ob von ausgewählten Verfassern besonders aussagekräftiger Zeitschriftenartikel einsehbare Nachlässe existieren, um möglicherweise mit Hilfe der dort verwahrten Papiere mehr über die Motivation und unter Umständen die politische Zielrichtung dieser Verfasser zu erfahren. Wollten die Autoren der Zeitschriftenartikel über historische Themen das Geschichtsbild ihrer Leser bewusst beeinflussen, und wenn ja, in welche Richtung – oder ging es mehr um Bildung im allgemeinen und um Unterhaltung?

Wenn Reusch dann konkret nach den in den Zeitschriftenartikeln vermittelten Geschichtsbildern fragt, werden keine Artikel in toto analysiert, es werden auch nicht spezielle Themen – etwa der Investiturstreit oder die Napoleonischen Kriege und ihre Folgen oder die Reichsgründung – und ihre jeweils unterschiedliche Darstellung in den verschiedenen Zeitschriften in den Mittelpunkt gestellt. Reusch will stattdessen untersuchen, „wie soziale Ungleichheit und Milieuzugehörigkeit die Produktion der Geschichtsartikel in Familienzeitschriften beeinflussten und wie die AutorInnen in ihren Artikeln historische wie zeitgenössische Ungleichheiten und Zugehörigkeiten verhandelten“ (S. 115). Die diesbezüglichen Zwischenüberschriften heißen, wenn es im wichtigsten Teil der Arbeit um „Geschichtskulturen in Familienzeitschriften im Kontext gesellschaftlicher Strukturen“ (S. 115–248) geht, daher auch „Klasse/Stand“, „Geschlecht“, „Konfession und Religion“. Das Ergebnis ist ein eher fragmentierter Blick auf die Darstellung von Geschichte in den der Untersuchung zugrunde gelegten Zeitschriften.

Einige weitere knappe Bemerkungen: Bedauerlich ist, dass einige der im Buch eingestreuten Diagramme aufgrund mangelnder Druckqualität (Grautöne, die nicht zu unterscheiden sind), kaum oder gar nicht zu lesen, zu entschlüsseln sind (Diagramm 1, 2 und 3). Obwohl Reusch dem Einsatz von Bildern (Abdruck von Portraits, von Fotos, von Historiengemälden usw.) in den von ihr untersuchten Zeitschriften – zu Recht – große Bedeutung beimisst, wird ein wichtiger diesbezüglicher Aspekt von ihr nicht thematisiert: nämlich die Frage, ob sich die Autoren der Zeitschriftenartikel oder auch die Redakteure bzw. die Verleger der Problematik des Abdrucks von Historiengemälden, die ja ihrerseits eine ganz eindeutige Interpretation des Geschehenen darboten, bewusst waren.

Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit sind einerseits gut nachvollziehbar, andererseits wenig überraschend: „Die Geschichtskulturen des späten Kaiserreichs sind nur im Plural als ein Nebeneinander verschiedener geschichtskultureller Gemeinschaften zu erfassen. Familienzeitschriften waren Akteure, die innerhalb der verschiedenen Gemeinschaften agierten, zugleich aber auch Verbindungen zwischen diversen geschichtskulturellen AkteurInnen, Institutionen, Praktiken und Denkweisen herstellten. Geschichtsschreibung in Familienzeitschriften zeichnete sich durch eine große Heterogenität von Themen und Ansätzen aus und interagierte mit verschiedensten Traditionen und Feldern der Geschichtskultur. Angepasst an die spezifische mediale Form des Zeitschriftengenres wurden die vielseitigen Inhalte zu einer eigenständigen und innovativen Form der Geschichtsschreibung transformiert, welche partiell bis heute in populären und akademischen Geschichtskulturen nachwirkt.“ (S. 345)

Diese Ergebnisse kontrastieren freilich mit den sehr hohen Ansprüchen, die die Autorin in der Einleitung formuliert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass der als „Überblick“ über die „deutsche Geschichtskulturlandschaft des 19. Jahrhunderts“ angekündigte Abschnitt (S. 43–50) eher lückenhaft, ja zufällig gerät und wichtige Arbeiten, wenn man nur das bayerische Beispiel heranzieht, etwa von Hans-Michael Körner1 und Karl Borromäus Murr2 übersieht. – Und schließlich: Es geht nicht um bibliographische Vollständigkeit, wenn man darauf hinweist, dass eine Arbeit, die sich unter anderem mit dem Komplex Geschichtsbewusstsein beschäftigt, aber die zentrale Studie von Karl-Ernst Jeismann3 nicht kennt oder nicht berücksichtigt, kaum anders denn als dilettantisch zu bezeichnen ist.

Anmerkungen:
1 Hans-Michael Körner, Staat und Geschichte im Königreich Bayern 1806–1918, München 1992.
2 Karl Borromäus Murr, Das Mittelalter in der Moderne. Die öffentliche Erinnerung an Kaiser Ludwig den Bayern im Königreich Bayern, München 2008.
3 Karl-Ernst Jeismann, Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart, in: Erich Kosthorst (Hrsg.), Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie, Göttingen 1977, S. 9–33; ders., Geschichtsbewußtsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Gerhard Schneider (Hrsg.), Geschichtsbewußtsein und historisch-politisches Lernen, Pfaffenweiler 1988, S. 1–24.