G. Mitman u.a. (Hrsg.): Documenting the World

Cover
Titel
Documenting the World. Film, Photography, and the Scientific Record


Herausgeber
Mitman, Gregg; Wilder, Kelley
Erschienen
Anzahl Seiten
285 S., 27 Farb- und 40 SW-Abb.
Preis
$ 35.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Evelyn Runge, Martin Buber Society of Fellows in the Humanities and Social Sciences, The Hebrew University of Jerusalem

Fotografie und Film dienen als Forschungsgegenstände, als dokumentarische Beweise oder auch als pädagogisches Material. Zunächst einmal sind sie aber – sofern analog gefertigt – materielle Objekte. Ihre Aufbewahrung in Archiven und ihre Zirkulation bilden das Fundament neuer Narrative – was sie wiederum für die Forschung interessant macht. Der Band „Documenting the World. Film, Photography, and the Scientific Record“ versammelt diverse Fachrichtungen wie visuelle Anthropologie, Kunstgeschichte sowie Science and Technology Studies. Die Herausgeber Gregg Mitman und Kelley Wilder und sieben weitere Autorinnen und Autoren – unter ihnen bekannte Bildforscher/innen wie Peter Geimer, Elizabeth Edwards und Estelle Blaschke – untersuchen in zehn Kapiteln anhand vielfältiger Fallbeispiele aus der Vergangenheit und Gegenwart, wie Fotografie und Film für wissenschaftliche Zwecke genutzt wurden und werden. Exemplarisch greife ich in dieser Rezension vier Beiträge heraus, die die Fotografie als dokumentarischen Beweis hinterfragen sowie den Umgang mit analogem Material in der digitalen Gegenwart, die Wichtigkeit medienethnografischer Methoden und die Zugänglichkeit von Archiven behandeln.

Die Aufsätze führen aus dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart; sie verbindet die Reflexion über die eigene Herangehensweise als Forscher, wie aus einem Zitat aus Jennifer Tuckers Beitrag „Moving Pictures: Photographs on Trial in the Sir Roger Tichborne Affair“ hervorgeht. Tucker schreibt (S. 41): „The use of photographs as visual evidence in the nineteenth century and beyond prompts us as historians and critics to think in new ways both about how photographic archives are themselves historically constituted and about the methods that we use to trace the passages, or movements, of photographs as they changed hands through time and space, particularly in the age before digital transmission.“ Die Tichborne-Affäre erregte in den 1870er-Jahren großes Aufsehen: Der Aristokrat Roger Charles Tichborne verschwand auf einer Reise in Südamerika. Die Familie gab wiederholt Suchannoncen auf, und Jahre später behauptete ein Australier, er sei Sir Roger. Er strengte gerichtliche Prozesse gegen die Familie Tichborne an, um Erbschaftsansprüche durchzusetzen – letztlich erfolglos. Porträtfotos der beiden Männer wurden herbeigezogen, um die Identität des vermeintlichen Sir Roger zu belegen. Der Sensationsprozess forderte den Glauben der Öffentlichkeit an die fotografische Dokumentation heraus (S. 34f.). Tucker schlägt den Bogen zur Gegenwart: „[…] even today, demonstrative evidence still hovers awkwardly on the boundary between illustration and proof.“ (S. 36) Der Fall wurde mehrfach verfilmt, 1978 als „The Tichborne Affair“ und 1998 als „The Tichborne Claimant“.

Janet Vertesi beschreibt ihre ethnografische Forschung über die Interpretation von Bildmaterial aus NASA-Missionen. „Mars in the Making: Digital Documentary Practices in Contemporary Planetary Science“ ist einer der spannendsten Beiträge des Sammelbandes. Vertesi arbeitet heraus, welche Möglichkeiten digitale Aufnahmen für die Erforschung fremder Planeten bieten – und wie Objektivität, Interpretation und Überprüfung dieser Bilder von den Wissenschaftlern verhandelt werden (u.a. S. 75ff., S. 82f.). Nachdem Raumschiffe mit digitaler Technik ausgestattet worden waren, erschienen frühere, analoge Aufnahmen und deren wissenschaftliche Interpretation „simply untrustworthy […]. In contrast, the acts of composing, combining, and manipulating digital image files became the new standard of visual evidence in the exploration of the planets. What made these digital documents trustworthy was precisely their manipulation.“ (S. 65) Die Planetenforscher setzen beispielsweise Farbfilter ein, um Lichtabsorption und somit mineralische Zusammensetzungen zu erkennen (S. 69f.). Der umgangssprachlich negativ konnotierte Begriff „Manipulation“ im Sinne von Täuschungsabsicht ist vielmehr als Bearbeitung zu verstehen, der den Wissenschaftlern Erkenntnisse ermöglicht. Vertesi diskutiert leider nicht, wie diese Mars-Bilder für die Gesellschaft aufbereitet werden – etwa, ob die Bearbeitungen zu Erkenntniszwecken auch in der Wissenschaftskommunikation mit der breiten Öffentlichkeit bestehen bleiben, und falls ja, ob darauf hingewiesen wird. (Medizinische Illustratoren heben in ihren Zeichnungen bestimmte Körperteile hervor oder bilden Viren in anderen als den realen Proportionen ab, um die Darstellungen für die jeweilige Zielgruppe aussagekräftig zu gestalten. Auf die Unterschiede zur Realität wird hier in der Regel nicht hingewiesen.) Vertesis Feldforschung verdeutlicht neben dem täglichen Umgang mit Aufnahmen aus dem Weltall, wie die Wissenschaftler ihr Fachgebiet und ihre Arbeitstechniken kritisch reflektieren: „Image Data Mining“ bedeutet auch, sich forschungsethische Fragen zu stellen und Hypothesen mit Erkenntnissen von der Erde abzugleichen (S. 77ff.) – einem Ort, den Menschen physisch erfahren und nicht allein aus fotografischen und filmischen Aufnahmen kennen, wie es beim Mars der Fall ist.

Im Beitrag „A Journey without Maps: Film, Expeditionary Science, and the Growth of Development“ berichtet Gregg Mitman über eine private Sammlung von Expeditionsfilmen, die während einer Reise von Mitgliedern der Harvard University nach Liberia und Belgisch-Kongo im Jahr 1926 entstanden: „It was a rare find – a phrase suggestive of how central collection and extraction are to the practices of history, science, and film.“ (S. 124) Mitman verknüpft die Darstellung von Vorbereitung und Verlauf der Expedition konsequent mit der Diskussion von wirtschaftlichen Interessen: Firmen wie Citroën und Firestone sponserten Expeditionen, auch weil der amerikanische Automarkt auf Rohstoffe wie Kautschuk für die Reifenproduktion angewiesen war. In den 1920er-Jahren verbrauchten die Amerikaner 75 Prozent der Welt-Kautschukproduktion, stellten aber nur 1 Prozent selbst her (S. 129). Das Interesse der Harvard African Expedition lag auch darin, Einheimische – potenzielle Arbeiter – mit tropischen Krankheiten zu fotografieren: „Maintaining a healthy population of workers was the greatest impediment to the commercial expansion of American industry in the tropics. This would be the payoff of tropical medicine. And still photography offered a catalogue of the diseases that would potentially threaten Firestone’s foreign investment.“ (S. 133f.) In einem leider sehr kurz gehaltenen Epilog beschreibt Mitman, wie er 2012 mit dem digitalisierten Filmmaterial nach Liberia reiste und versuchte, die Expedition vor Ort nachzuvollziehen: „We were eager to find what historical memory remained of people and places documented in the expedition footage, whose voices had been silenced, first by the expedition members themselves, and then by the ravages of war.“ (S. 144) Die Aufnahmen stießen bei den Liberianern auf große Resonanz, da sie Vorfahren erkannten und in dem Filmmaterial handwerkliche Fähigkeiten im Detail wiederentdeckten, die zwischenzeitlich vergessen worden waren. Das Filmmaterial zeige, so Mitman, dass die Menschen in den Originalaufnahmen „were much more than mere objects of the expedition’s scientific gaze“ (S. 145).

Stefanie Klamm setzt sich in ihrem Aufsatz „Reverse – Cardboard – Print: The Materiality of the Photographic Archive and Its Function“ mit der Heterogenität archivarischer Objekte auseinander – und mit der Frage, wie diese in Spannung zur standardisierten Organisation kunsthistorischer und archäologischer Archive stehen. Von besonderem Interesse für Klamm sind die „complex scientific and social contexts“ sowie die soziale Biografie, die Fotos auf ihrem Weg durch Zeit, Raum und Archivierung akkumulieren (S. 167). Fallbeispiele stammen aus der „Diathek / Digithek“, dem archäologischen Fotoarchiv des Winckelmann-Instituts an der Humboldt-Universität zu Berlin.1 Anders als fotografische Archive, die mit Katalogen arbeiten (vgl. die Beiträge von Wilder und Blaschke im vorliegenden Band), folgen archäologisch-fotografische Archive den Konventionen der Archäologie und somit deren Zeiträumen und chronologischen Ordnungsmustern: Klamm hatte in ihrer Recherche einzelne Boxen nach den gewünschten Aufnahmen zu durchsuchen (S. 169). Die Anordnung der Boxen im Raum kann durch die Nutzer immer wieder verändert werden, wie auch der Inhalt der Boxen selbst: „In its sheer materiality of order (in boxes and drawers) and by inviting the user to place the card-mounted photographic prints of different origins and contexts next to each other, the archive fosters a multiplicity of perceptions.“ (S. 184) Auch wenn die ursprüngliche Absicht der Archivare Standardisierung war, werden Fotografien als archivarische und materielle Objekte über die Zeit hinweg zu neuen Ordnungen zusammengestellt – was, so Klamms Fazit, die Vorannahmen einer Disziplin selbst tilgen kann (S. 193).

Gregg Mitman und Kelley Wilder haben mit „Documenting the World. Film, Photography, and the Scientific Record“ einen – auch in seinen Abbildungen – reichhaltigen Sammelband vorgelegt. Es ist sicher kein Buch, das man an einem Stück durchliest, weil die Fallbeispiele zu divers und in sich komplex sind. Gerade das verdeutlicht, wie viel Potenzial in Fotografie und Film für die Wissenschaft(en) steckt, sowohl als Forschungsgegenstand wie auch als Forschungsmethode. Visualisierung (in) der Wissenschaft ist von zunehmender Bedeutung, nicht nur für den wissenschaftsinternen Diskurs in Fachvorträgen und Publikationen, sondern auch für die Lehre und in der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Zu den letzten Punkten bietet der Sammelband leider keine Beiträge; allerdings ist die Zahl an Publikationen zu Visualisierung von Wissenschaft bislang generell gering2, sodass dieser Kritikpunkt zu positiver Veränderung auffordert, die visuellen Praktiken in Forschung und Lehre stärker in den Blick zu nehmen.

Anmerkungen:
1 Siehe https://www.archaeologie.hu-berlin.de/de/lehrbereich_klarcho/winckelmann/diathek (01.05.2017).
2 Siehe etwa Günter Stock (Hrsg.), Visualisierung oder Vision? Bilder (in) der Wissenschaft, Berlin 2008; Ulrich Nortmann / Christoph Wagner (Hrsg.), In Bildern denken? Kognitive Potentiale von Visualisierung in Kunst und Wissenschaft, Paderborn 2010; Rüdiger Graf / Florian Leese (Hrsg.), Visualisierung der Wissenschaft, Paderborn 2016. Diese Publikationen befassen sich vornehmlich mit Visualisierung in den Naturwissenschaften und der Medizin.