D. Hainbuch: Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924

Cover
Titel
Das Reichsministerium für Wiederaufbau 1919 bis 1924. Die Abwicklung des Ersten Weltkrieges: Reparationen, Kriegsschäden-Beseitigung, Opferentschädigung und der Wiederaufbau der deutschen Handelsflotte


Autor(en)
Hainbuch, Dirk
Reihe
Zivilisationen & Geschichte 46
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Peter Lang/Frankfurt am Main
Anzahl Seiten
567 S.
Preis
€ 96,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anna Karla, Historisches Institut, Universität zu Köln

Kenner der Weimarer Geschichte werden aufhorchen, denn Ausführliches gab es über das Weimarer Reichsministerium für Wiederaufbau bislang noch nicht zu lesen. Diese Forschungslücke, auf die auch die Verfasserin dieser Rezension kürzlich hingewiesen hat1, ist nicht zuletzt deshalb erstaunlich, als das 1919 geschaffene Ministerium mit Otto Geßler und Walther Rathenau zeitweilig prominent besetzt war. In seiner an der Universität Marburg entstandenen Dissertation konstatiert Dirk Hainbuch zu Recht einen Bedarf, „den Forschungsgegenstand anhand der Quellen durch eine erste Darstellung überhaupt greifbar zu machen“ (S. 31). Die genannten Quellen sind die überlieferten Bestände des Ministeriums im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde (Signatur R 3301). Dem Verfasser zufolge beziehen sich diese Bestände auf einen „primären Forschungsgegenstand“ in Gestalt des Reichministeriums für Wiederaufbau sowie auf zahlreiche „sekundäre[ ] Forschungsgegenstände“ (S. 19) in Form von nachgeordneten Dienststellen in insgesamt über 100 Außenstellen im Deutschen Reich sowie teilweise im Ausland. Zu ihnen zählte beispielsweise die Reichsrücklieferungskommission, die Reichskohlenkommission in Essen oder der Reichskommissar zur Ausführung von Aufbauarbeiten in den zerstörten Gebieten.

Was den „primären Forschungsgegenstand“ betrifft, so sind dessen äußere Rahmenbedingungen rasch erzählt: Das Reichsministerium für Wiederaufbau bestand offiziell zwischen 1919 und 1924, war aber ein fragiles Gebilde. Seine Gründung ging auf eine Proporz-Kungelei mit der DDP im zweiten Kabinett Bauer zurück. Der Ministerposten blieb häufiger vakant als besetzt – insofern ist die Prominenz Rathenaus für die Strahlkraft des Ministeriums insgesamt trügerisch. Bis zu seiner Auflösung im Herbst 1924 wurde das Wiederaufbauministerium zwischen dem Reichsfinanzministerium, das die Verwaltung der Reparationen übernahm, dem Reichswirtschaftsministerium und dem Auswärtigen Amt aufgerieben, wobei letzteres, gestärkt durch die Schülerschen Reformen, zusehends Kompetenzen im Bereich der Außenwirtschaftspolitik für sich beanspruchte.

Anstatt diese auffällige Fragilität der Institution zum heuristischen Ausgangspunkt zu machen, wählt der Verfasser den Weg einer deskriptiven Verwaltungsgeschichte. Zwar wird verschiedentlich eingeräumt, dass die vergleichsweise kurze, von erheblichen Vakanzen und wechselnden Zuständigkeiten geprägte Geschichte des Reichsministeriums für Wiederaufbau einen klassisch verwaltungshistorischen Ansatz an die Grenzen des Machbaren führt. Methodisch fruchtbar wird dieser Zweifel allerdings nicht gemacht. Der Stoff gliedert sich in drei große, chronologisch angelegte Kapitel. Die bis zu acht Unterkapitel behandeln die einzelnen Dienststellen bzw. Abteilungen, wobei diese Vorgehensweise erhebliche Redundanzen mit sich bringt. Das erste Kapitel widmet sich den „Ursprüngen während des Ersten Weltkrieges“. Es stellt Institutionen wie die Reichentschädigungskommission und den Reichskommissar für die Liquidation ausländischer Unternehmungen vor, die seit 1916 siegesgewiss als Instrumente im Wirtschaftskrieg gegründet worden waren; sie spielten in den Friedensstrategien ab dem Jahresbeginn 1918 eine Rolle und arbeiteten nach dem Waffenstillstand von Compiègne unter den gewandelten Vorzeichen der deutschen Niederlage weiter. Das zweite Kapitel behandelt die „Ausgestaltung der deutschen Wiederaufbauverwaltung“, womit insbesondere der Prozess der Entstehung und der Etablierung des Reichsministeriums für Wiederaufbau gemeint ist. Das dritte Kapitel unter dem Titel „Die Entwicklung der ressortierenden Ausführungsbehörden nach der Gründung des Reichsministeriums für Wiederaufbau“ betrachtet einzelne der angegliederten Dienststellen hinsichtlich Entstehung, Aufgabenbereiche und Personalstruktur.

Insgesamt handelt es sich um eine solide und insofern begrüßenswerte Quellenstudie zu einem relevanten und bislang zu Unrecht vernachlässigten Aktenbestand. Unabhängig von der Frage nach der Sinnhaftigkeit hermetischer Verwaltungsgeschichten gibt der Bestand des Reichsministeriums für Wiederaufbau fraglos viel her. Mit der Umsetzung der Reparationsbestimmungen des Versailler Vertrags lagen den Ministerialbeamten ebenso illustre wie diverse Dossiers vor, die Schlüsselthemen von Politik und Wirtschaft der frühen Weimarer Republik berührten. Diese lassen sich grob in drei Bereiche einteilen, wobei – dies sei angemerkt – der Autor seinen Lesern derlei Systematiken vorenthält und stattdessen einem chronologisch-kumulativen Zugang folgt. Erstens war das Ministerium mit der Durchführung der sogenannten Sachlieferungen betraut. Es handelte sich dabei um alle nicht-finanziellen Reparationszahlungen wie Kohle, Nutztiere, Bau- und Farbstoffe, Eisenbahnschwellen, Telegrafenstangen und andere Gegenstände des industriellen oder täglichen Bedarfs, zu deren Lieferung das Deutsche Reich per Versailler Vertrag verpflichtet war. Die Ablieferung dieser Waren in die Empfängerländer erfolgte in komplexen, im Laufe der 1920er-Jahre mehrfach angepassten Verfahren. Diese sorgten immer wieder für Probleme, wobei der Streit um die Holzlieferungen an Frankreich und Belgien bekanntermaßen den Auslöser für die Ruhrbesetzung bildete. Ein zweiter Aufgabenkreis umfasste die direkte Behebung von Kriegsschäden. Dieser Bereich überschnitt sich zum Teil mit den Sachlieferungen – etwa wenn Kohle nach Frankreich geliefert wurde, um den Produktionsausfall zerstörter Kohlegruben auszugleichen, oder wenn der Einsatz deutscher Bauarbeiterkolonnen und deutschen Baumaterials im zerstörten Nordfrankreich intensiv erwogen wurde. Er umfasste aber auch die Rückerstattung beschlagnahmter Maschinen sowie geraubter Kulturgüter, etwa die von Wolfgang Schivelbusch beschriebenen Bestände der Bibliothek von Leuwen.2 Drittens war das Ministerium für die Entschädigung deutscher Flüchtlinge zuständig, die durch die Grenzbestimmungen der Pariser Vorortverträge sowie durch das Ende deutscher Kolonialherrschaft ins Reichsgebiet strömten und deren Allokation und Integration ein bis in die 1930er-Jahre hinein politisch heißumkämpftes Thema blieb. Rückt man diese Aufgabenbereiche in ihre politischen und makroökonomischen Kontexte – von den polarisierenden Friedensverhandlungen in Versailles und den Verstaatlichungsphantasien der Novemberrevolutionäre über Inflation und Ruhrkrise bis hin zu den einzelnen Etappen der Reparationsverhandlungen – dann lässt sich erahnen, wie verschlungen die Fäden waren, die im Reichsministerium für Wiederaufbau zusammenliefen.

Es war offenkundig nicht das Ziel der vorliegenden Studie, im Gestrüpp der Akten einen roten Faden aufzuspüren. Umso deutlicher macht der hier nur kursorische Überblick über die im Buch angesprochenen Themen, dass der nun aufgearbeitete Aktenbestand zu brisanten Fragen Aufschluss verspricht. Ein Interpretament, mittels dessen sich die Nachlassverwalter des Weltkrieges in die deutsche und europäische Geschichte der Zwischenkriegszeit sinnhaft einfügen ließen, bietet Hainbuch nicht. Das Fassadenfoto des Ministerialgebäudes in der Wilhelmstraße 62 auf dem Cover ist insofern Programm, als es in einer dem Anspruch nach „vollständigen Darstellung“ (S. 35) darum gehen soll, wer im Reichsministerium wofür zuständig war und wie sich die zumeist auf sich gestellten Ministerialbeamten intern Struktur gaben. Vor diesem Hintergrund mag man es für verzeihlich halten, dass sich die Sprache des Autors auf weiten Passagen der Quellensprache verdächtig annähert und dabei sogar deutsche Rhetorik der Verächtlichkeit gegenüber dem ehemaligen Kriegsgegner Frankreich reproduziert. Anstelle von interpretativen Ausflügen hätte man sich dann sogar noch mehr Akribie in der Ausgestaltung als Quellenstudie gewünscht, etwa durch ein aussagekräftiges Inhaltsverzeichnis oder durch ein Sachregister, das die instruktiven Kurzbiographien im Anhang hätte ergänzen können.

Anmerkungen:
1 Anna Karla, Westeuropas Wiederaufbau – made in Germany? Baustoffe aus Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 13 (2016) 3, S. 426–441, http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2016/id=5394 (25.04.2017).
2 Wolfgang Schivelbusch, Die Bibliothek von Löwen. Eine Episode aus der Zeit der Weltkriege, München 1988.

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