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Titel
"Niedergang". Variationen und Funktionen eines kulturkritischen Diskurselements zwischen 1900 und 1930. Großbritannien und Deutschland im Vergleich


Autor(en)
Gutsche, Verena
Erschienen
Anzahl Seiten
450 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Seidl, SFB 1095 „Schwächediskurse und Ressourcenregime“, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Pierre Chaunu meinte Anfang der 1980er-Jahre, man müsse nur die Augen öffnen und um sich herumblicken, um zu erkennen, dass die Dekadenz überall sei.1 Tatsächlich sind es heutzutage vor allem die allgegenwärtigen Reden von einem wie auch immer gearteten „Niedergang“, denen man kaum entkommen kann. Neu sind diese Dekadenzdiagnosen und Untergangsprophezeiungen allerdings keineswegs und es ist daher sehr zu begrüßen, dass sich Verena Gutsche in ihrer Eichstätter Dissertation den „Variationen eines kulturkritischen Diskurselements zwischen 1900 und 1930“ im britisch-deutschen Vergleich annimmt.

Ihre Arbeit, die im Fach „Europastudien: Sprache, Literatur, Kultur“ entstanden ist, zielt darauf ab, den Niedergangsdiskurs zu analysieren, indem sie „die historischen Kontexte und Einflüsse sowie zugrundeliegenden Normbezüge“ einbezieht und dessen „Variationen und Funktionen“ untersucht (S. 29). Das klingt im ersten Moment einleuchtend, ist aber im Grunde zu vage, um als konzeptioneller ‚roter Faden‘ zu dienen. Schon die Einleitung beginnt mit langen begriffsgeschichtlichen Referaten zu „Niedergang“ (Reinhart Koselleck) und „Dekadenz“ (Matei Calinescu), um schließlich festzustellen, dass die Begriffe im Englischen eine andere Bedeutung haben. Dagegen wird die Forschungslage überwiegend in den Fußnoten abgehandelt, wobei gerade einschlägige kulturgeschichtliche Arbeiten übersehen werden, die etwas Licht ins Dunkel der Kulturkritik hätten bringen können.2 Lohnt es sich denn „Niedergang“ und „Dekadenz“ abstrakt und feinsäuberlich voneinander abgrenzen zu wollen, wenn selbst Koselleck diese nicht ernsthaft unterscheidet und darüber hinaus die Quellen unzählige andere Metaphern kennen, um eine Verschlechterung der Zustände auszudrücken? Ist „Niedergang“ nicht nur ein spezielles Sprachbild aus einem semantischen Feld? Gutsche wählt einen anderen Weg, der sich stärker an kultur- und literaturwissenschaftlichen Ansätzen (Deutungsmuster, Diskurs, Dekonstruktion) orientiert.

Ein erster, kürzerer (ideen)geschichtlicher Grundlagenteil widmet sich dem historischen Kontext, den Einflüssen Charles Darwins, Friedrich Nietzsches und Max Nordaus, aber auch der „Metaphorik des Untergangs und des Wiederaufstiegs“. Darauf folgt ein umfassender Analyseteil, in dessen Mittelpunkt ein Sample von jeweils vier englischen und deutschen Texten und Autoren steht (Arthur James Balfour, William und Catherine Whetham, R. Austin Freeman, William Ralph Inge sowie Rudolf Pannwitz, Oswald Spengler, Albert Schweitzer, Paul Rohrbach), das die Verfasserin mit Blick auf den gesellschaftlichen und vor allem biographischen Entstehungshintergrund, die diagnostizierten Symptome und die vorgeschlagenen Gegenmittel ausführlich beschreibt.

Einem Historiker bietet der erste Teil nicht wirklich viel Neues. Allenfalls die Überlegungen, ob „Kultur versus Zivilisation“ eine spezifisch deutsche Debatte sei, regen dazu an, erneut über die Oberflächlichkeiten der alten Sonderwegsdebatte nachzudenken. Recht gelungen ist außerdem die Auseinandersetzung mit der Metaphorik von Niedergangsbeschreibungen, die allerdings eine größere Aufmerksamkeit verdient gehabt hätte, wird doch lediglich die Organismus- bzw. Heilsmetapher behandelt. Der zweite Teil enthält einiges Interessantes, insbesondere wenn die Verfasserin verschiedene wiederkehrende Topoi skizziert und das erstaunlich weite Spektrum der vorgeschlagenen Gegenmittel vorstellt. Gerade hier zeigt sich, dass die Niedergangspropheten, wenn überhaupt, nur vordergründig in Nietzsches „amor fati“ verfielen, sondern stattdessen mögliche Auswege formulierten. Resignation war in diesem Sinne ein rhetorisches Mittel, um die Alternativlosigkeit der eigenen Lösungsvorschläge zu untermauern, wobei Gutsche diesen Zusammenhang jedoch nicht erkennt.

Gerade im Analyseteil wird offensichtlich, woran die Arbeit letztlich scheitert: Erstens interessiert sich die Autorin nur wenig für die Funktion, Rezeption und Wirkung der vorgestellten Texte. Warum und zu welchem Zweck etwa der ehemalige Prime Minister Arthur Balfour 1908 einen Vortrag über „decadence“ hielt, wird kaum erklärt, noch weniger erfährt man vom öffentlichen Echo, das auf die Rede folgte. Eva Marlene Hausteiner hat dies in ihrer politikwissenschaftlichen Dissertation weitaus besser gelöst.3 Selbst im Abschnitt zu Rudolf Pannwitz’ „Die Krisis der europäischen Kultur“ (1917) scheint es, als sei das Buch zeitgenössisch kaum rezipiert worden. Im Fazit schließlich schreibt Gutsche, dass der Niedergangsdiskurs „ein europäisches Phänomen“ (S. 397) war, der sich aus gemeinsamen Erfahrungen der Moderne und neuen Bedrohungen speiste, ob aber deshalb die wortreichen Klagen darüber selbst europäisierend wirkten, bleibt offen.

Zweitens behandelt Gutsche ihren Textkorpus erstaunlich einseitig und verurteilt regelmäßig die Argumente der Autoren von einer moralischen Warte aus. Das mag überwiegend gerechtfertigt sein; „Kulturkritik zu widerlegen ist aber nicht Sache des Historikers“, wie Theo Jung zu Recht festgehalten hat.4 Auffällig wird das vor allem im Umgang mit Albert Schweitzer, dem Gutsche eine „Sonderstellung“ einräumt, was „nicht zuletzt daran erkennbar [wird], dass viele Gedanken des Autors bis heute als relevant erachtet werden“ (S. 236). Gilt das denn – unter umgekehrtem Vorzeichen – nicht auch für Oswald Spengler? Dass die Verfasserin den Theologen deshalb durchgehend lobt, ist im Grunde nicht zu beanstanden. Tatsächlich gewinnt die Analyse sogar an Tiefe, wenn Gutsche ihr anstößig erscheinende Aussagen Schweitzers relativiert, indem sie diese in den historischen Kontext einordnet (u.a. S. 232f., 270, 291f., 295, 358, 405). Wo ihr andere Protagonisten, etwa Freeman und seine ökologische Kritik der Urbanisierung, allerdings „recht fortschrittlich“ erscheinen, warnt sie dagegen schnell davor, darüber „nicht seine höchst fragwürdigen Kategorisierungen der Bevölkerung nach biologischen Qualitätsmaßstäben [zu] vergessen“ (S. 313f.).

Drittens wiegen jedoch nicht die engagierten Urteile der Autorin am schwersten, sondern die gravierenden Schwächen der Textauswahl, die das breite Spektrum der Niedergangserzählungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts – mit Ausnahme Schweitzers – im Grunde auf die Kassandrarufe rechter Provenienz verengt und darüber hinaus auch keinen tragfähigen deutsch-britischen Vergleich gewährleistet. So stammen zwei der englischen Texte aus der Vorkriegszeit (1908/1911) und die anderen beiden aus den Zwanzigerjahren (1921/1926), während drei der deutschen im Umfeld des Weltkrieges entstanden und einer im Jahr 1930. Auch die Auswahl nach „Profession und Disposition“ (S. 145) ist nicht wirklich überzeugend, wenn zwar im britischen Kontext ein Politiker (Balfour), ein Naturwissenschaftlerehepaar (die Whethams), ein Schriftsteller (Freeman), und ein Theologe (Inge) aufgenommen werden, im deutschen jedoch ein Schriftsteller (Spengler), ein Philosoph (Pannwitz) und zwei Theologen (Schweitzer, Rohrbach). Ökonomen, deren Berechnungen oft die angeblich ‚objektive‘ Grundlage der Abstiegsvorhersagen bildeten, sucht man ebenso vergeblich wie etwa Stimmen aus dem pazifistischen Umfeld, die Europas Schwächen aus einer anderen Perspektive kritisierten.5 Da darüber hinaus alle (!) ausgewählten Engländer der „Eugenics Society“ angehörten, überrascht es auch nicht, dass sich der „eugenische Diskurs“ in ihren Texten wiederfindet, während dieser ansonsten nur bei Rohrbach auftaucht. Für die Autorin „wirft [dies] die Frage auf, warum es in Großbritannien […] nicht zu einer derartigen Radikalisierung [der Eugenik ab 1933] wie in Deutschland kam“ (S. 396). Zur Erklärung der deutsch-britischen Unterschiede muss Gutsche im Fazit schließlich eingestehen, dass ihr Ergebnis „lediglich in Bezug auf die hier vorgenommene Textauswahl gilt und nicht unbedingt verallgemeinert werden kann“ (S. 403). Auch den „Biologismus deshalb als ‚englisches Phänomen‘ hinzustellen, wäre allerdings eine völlig falsche Schlussfolgerung“, immerhin habe sich im Königreich keine eugenische Gesetzgebung entwickelt und habe es auch in Deutschland „schon früh biologistische Untergangsschriften“ gegeben, die „nicht Teil des hier analysierten Textkorpus sind“ (S. 404). Wie aussagekräftig die Ergebnisse der Studie sind, bleibt somit völlig offen.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Gutsche ein ambitioniertes Buch vorgelegt hat, das seinen hohen Anspruch allerdings nicht erfüllt. Um die zahlreichen interessanten Details leichter auffinden zu können, hätte der Verlag meiner Meinung nach besser ein Register beigefügt. Auf den oberflächlichen abschließenden „Ausblick“, der die untersuchten Thesen in die Gegenwart fortschreibt, hätte man dagegen gut verzichten können; so steht am Ende eine Auseinandersetzung mit Thilo Sarrazin.

Anmerkungen:
1 Pierre Chaunu, Histoire et Décadence, Paris 1981, S. 9.
2 Vgl. etwa Peter Burke, Tradition and Experience. The Idea of Decline from Bruni to Gibbon, in: Daeadalus 105 (1976), S. 134–152 und vor allem Theo Jung, Zeichen des Verfalls. Semantische Studien zur Entstehung der Kulturkritik im 18. und frühen 19. Jahrhundert, Göttingen 2012.
3 Eva Marlene Hausteiner, Greater than Rome. Neubestimmungen britischer Imperialität 1870–1914, Frankfurt am Main 2015.
4 Jung, Zeichen, S. 37.
5 Etwa William Thomas Stead, The Americanisation of the World or The Trend of the Twentieth Century, London 1902 oder Norman Angell, Europe’s Optical Illusion, London 1909.