Cover
Titel
Das aufgeklärte Kind. Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950–2010)


Autor(en)
Sager, Christin
Anzahl Seiten
348 S.
Preis
€ 34,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Maik Tändler, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Eine Variante des organisierten antiliberalen Affekts, der sich seit einiger Zeit lautstark politisch Bahn bricht, ist das christlich-rechtskonservative Aktionsbündnis „Demo für Alle“. Seit 2014 mobilisiert es gegen „Gender-Ideologie“ und „Sexualisierung der Kinder“ – womit die schulische Aufklärung über die Vielfalt menschlicher Sexualität und Förderung ihrer Akzeptanz gemeint ist, die inzwischen als Richtlinie Eingang in die Bildungspläne einiger Bundesländer gefunden hat bzw. finden soll. So sehr die Frage, ob und auf welche Weise Kinder über Sexualität aufgeklärt werden sollen, gegenwärtig wieder die Gemüter erhitzt, so wenig ist die jüngere Geschichte kindlicher Sexualaufklärung bisher empirisch erforscht worden. Christin Sager will mit ihrer erziehungswissenschaftlichen Dissertation einen Beitrag zur Schließung dieser Forschungslücke leisten.

Die Untersuchung basiert auf einem Quellenkorpus von 100 zwischen 1950 und 2010 in der Bundesrepublik erschienenen Publikationen, die zum Zweck der innerfamiliären Sexualaufklärung von Kindern bis zum zwölften Lebensjahr verfasst wurden (wobei allerdings etliche der Titel auch der Aufklärung von Jugendlichen dienten). Ergänzend wurden Quellen aus einem Forschungsprojekt zur Kinderladenbewegung herangezogen, an dem Sager beteiligt war. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht zum einen die Frage, welches Sexualwissen Kindern von Erwachsenen zu Verfügung gestellt worden ist, wie in diesem Zusammenhang kindliche Sexualität konstruiert wurde und welche Normierungen damit verbunden waren; zum anderen will Sager hieraus Rückschlüsse über den allgemeinen Wandel von Kindheits-, Geschlechter- und Familienbildern ziehen. Ein durchgehender Fokus liegt zudem auf dem Umgang mit dem Thema der sexualisierten Gewalt.

Der Einleitung folgen zwei sehr weit ausholende Kapitel zur Geschichte und Theorie der Sexualität im Allgemeinen sowie der Sexualaufklärung und -pädagogik im Besonderen. Die eigentliche quellenbezogene Untersuchungsarbeit findet im vierten Kapitel statt. Sager unterteilt ihren Untersuchungszeitraum in fünf Phasen: Die erste Phase (1950–1962) charakterisiert sie als eine der „Tabuisierung und Domestizierung des Sexuellen“, in der sich der kindbezogene Sexualaufklärungsdiskurs ganz in den sexualmoralischen Konservatismus der westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft einfügte. Zentraler Topos war die Triebbeherrschung, Sexualität wurde ausschließlich als ehelicher Fortpflanzungsakt dargestellt und die (begrenzte) sexuelle Aufklärung des Kindes als notwendiges Übel angesehen. Das Kind selbst galt als „unschuldiges“ asexuelles Wesen, das jedoch zugleich von sexuellen Regungen wie der Onanie abgehalten werden musste. Dies änderte sich ab der zweiten Phase (1963–1967), die Sager als „Interimsphase“ bezeichnet. Ausgehend vom psychoanalytischen Modell der Sexualentwicklung, wurde dem Kind nun von einigen Autoren ein eigenes, allerdings von der erwachsenen (genitalen) Sexualität klar unterschiedenes sexuelles Triebleben zugeschrieben. Damit einher ging die Tendenz, Kindern ein Recht auf die „Entdeckung“ des eigenen Körpers zuzusprechen und vor den negativen Folgen einer autoritären Unterdrückung des Sexualtriebs zu warnen.

Radikalisiert wurden solche Ansätze in der dritten Phase (1968/69–1977), die Sager als nachhaltige sexualpädagogische Zäsur kennzeichnet. Sie stand ganz im Zeichen der um 1968 vor allem unter Berufung auf Wilhelm Reich proklamierten „sexuellen Befreiung“, welche auch den Kindern zugutekommen sollte. Entsprechend stand die Entfaltung der sexuellen Bedürfnisse des Kindes im Mittelpunkt der neuen „progressiven“ und „emanzipatorischen“ Aufklärungsbücher. Ein weiteres Charakteristikum dieser Phase war die von Sager detailliert analysierte fotografische Präsentation nackter Kinder. Der auch visuell inszenierte Anspruch, dass Erwachsene Kindern in sexuellen Fragen „auf Augenhöhe“ begegnen sollten, konnte dabei jedoch leicht in eine fatale Entgrenzung zwischen kindlicher und erwachsener Sexualität umschlagen.1

Das betreffende Kapitel ist nicht nur das längste der Arbeit, es hebt sich auch hinsichtlich der analytischen Tiefenschärfe und der historisch-diskursiven Kontextualisierung ab, was unter anderem auf die erweiterte Quellengrundlage zurückzuführen ist. Die beiden nachfolgenden Kapitel betreten dafür mit den 1980er- bis 2000er-Jahren zeitgeschichtlich weitgehend Neuland und können mit einigen aufschlussreichen Beobachtungen aufwarten, die ein allzu geradliniges Narrativ der sexuellen Liberalisierung und Pluralisierung nach 1968 in Frage stellen. In der vierten Phase (1978–1989) erkennt Sager eine sexualaufklärerische Neuausrichtung „zwischen Angst und Lust“, die sie auf eine gesellschaftliche Eindämmung der emanzipatorischen Impulse der 1970er-Jahre sowie, etwas später, auf das Auftreten von AIDS zurückführt. Es kamen sehr viel weniger Neuerscheinungen auf den Markt, die zudem zurückhaltender formuliert und bebildert waren. Einerseits polemisierten nun einige christlich-konservative Ratgeber gegen die 68er-Ideale als „Gefährdung der Familie“, andererseits stellt Sager im Großen und Ganzen eine weiterhin positive Einstellung zur kindlichen Sexualität fest, die sich etwa im gelassenen Umgang mit kindlicher Onanie äußerte.

Für die fünfte Phase schließlich, die von 1990 bis in die jüngste Vergangenheit reicht, diagnostiziert Sager eine gleichzeitige „Hinwendung zum Kind“ und eine „Abwendung von der kindlichen Sexualität“. Die jetzt wieder in größerer Zahl erscheinenden Aufklärungsbücher adressierten mehrheitlich die Kinder selbst. Ihnen wurde dabei einerseits ein wachsendes Maß an eigenständiger Wissensaneignung und Handlungsfähigkeit zugeschrieben, andererseits tendierte die Literatur seit Beginn des 21. Jahrhunderts erneut zu einer Tabuisierung kindlicher Sexualität. Dies hing mit einer wieder zunehmenden Reduktion des Sexuellen auf den (heterosexuellen) Geschlechtsverkehr zusammen, lässt sich aber auch als eine Folge der seit Mitte der 1990er-Jahre vermehrt aufgedeckten Fälle sexuellen Kindesmissbrauchs ansehen.

Ambivalent waren auch die vermittelten Familien- und Geschlechternormen: Im Rahmen eines erweiterten Normalitätsspektrums wurden zwar nun gelegentlich auch „abweichende“ Familienkonstellationen (Alleinerziehende, Patchworkfamilien, gleichgeschlechtliche Eltern) dargestellt, doch die heterosexuelle Kleinfamilie behauptete unangefochten ihr normatives Monopol und wurde zumindest in den präsentierten Quellen fotografisch als harmonisches Privatidyll inszeniert. Im untersuchten Bildmaterial manifestierten sich zudem hartnäckig diskursiv eigentlich bereits obsolete Geschlechterstereotype. Hier erweist sich noch einmal die Kontrastierung von Text- und Bildebene, von denen Letztere nicht selten Erstere konterkarierte, als ein Vorzug von Sagers Untersuchung. Freilich lässt die begrenzte Quellenbasis Verallgemeinerungen nur unter Vorbehalt zu.

Damit ist ein grundsätzliches Problem angesprochen, denn die Repräsentativität und diskursive Einordnung der konkret analysierten Quellen erscheint gelegentlich etwas fragwürdig. Sager wertet ihren Quellenkorpus zwar quantitativ minutiös nach Wandel des Autorengeschlechts, der Zielgruppe, der Verlagsarten etc. aus, doch werden die betreffenden Ergebnisse kaum in Bezug zur inhaltlichen Einzelanalyse gesetzt. Nähere Informationen über die Verfasserinnen und Verfasser und die Verlage der zitierten Titel finden sich nur sporadisch, und auch deren Verbreitung und Bedeutung bleibt meist unklar.

Es irritiert in diesem Zusammenhang beispielsweise, dass im Kapitel über die 1950er-Jahre, für die Sager eine quantitative wie qualitative Dominanz christlich-konservativer Positionen feststellt, am häufigsten die Bücher von Kurt Seelmann zitiert werden. Dieser zählte jedoch gerade nicht zum besagten Spektrum; als Schüler des an Alfred Adler orientierten Individualpsychologen Leonhard Seif war er vielmehr ein Protagonist der analytisch-tiefenpsychologischen Sexual- und Erziehungsberatung, die sich in der Weimarer Republik entfalten, mit Einschränkungen und Anpassungen aber von ihren „arischen“ Vertretern auch im Nationalsozialismus fortgeführt werden konnte.2 Auch Seelmann hat seine Aufklärungsbücher zum Teil bereits während der NS-Zeit publiziert, sein sexualpädagogischer Ansatz kann im Kontext der 1950er-Jahre aber durchaus als „fortschrittlich“ gelten. Zudem kamen Seelmanns Ratgeber bis weit in die 1970er-Jahre in hohen Druckauflagen auf den Markt, und 1970 steuerte er ein Nachwort zu Günther Hunolds berühmt-berüchtigtem „Schulmädchen-Report“ bei, indem er die sexuelle Prüderie und Sprachlosigkeit der älteren Generation anprangerte, die sexuelle Gleichberechtigung der Frau einforderte und sich für eine psychoanalytisch orientierte schulische Sexualaufklärung aussprach.3 All das erfährt man bei Sager jedoch nicht.

Aus Historikersicht grundsätzlich erfreulich sind die Bemühungen, die Untersuchungsergebnisse in den größeren sozial- und kulturgeschichtlichen Kontext einzuordnen, der im Großen und Ganzen treffend nachgezeichnet wird. Allerdings versucht Sager dabei vornehmlich, ihre Befunde im Sinne einer Widerspiegelungsthese mit den allgemeinen historischen Entwicklungstendenzen zur Deckung zu bringen. Nach möglichen Divergenzen, die genauere Rückschlüsse auf die Eigenlogik und die spezifischen Sagbarkeitsregeln des von ihr untersuchten Diskurses zuließen, fragt sie leider nicht. Die quellenkritische Reflektion bleibt ohnehin sehr oberflächlich: Die Spezifika des gewählten Genres werden nur kurz angerissen, und die analytischen Beschränkungen, die sich aus dem Verzicht auf eine systematische Einbeziehung etwa der einschlägigen fachwissenschaftlichen, schulpädagogischen oder massenmedialen Diskurse ergeben, werden nicht diskutiert.

Spätestens im unübersichtlichen Fazit hätte man sich schließlich noch eine konzisere, thesengeleitete Bündelung der Untersuchungsergebnisse gewünscht. Von den in erster Linie methodischen Schwierigkeiten und der nicht immer stringenten Darstellung abgesehen, bietet Sagers Untersuchung aber besonders hinsichtlich der zweiten Hälfte ihres Untersuchungszeitraums eine Reihe interessanter sexualitäts- und erziehungsgeschichtlicher Einsichten und leistet damit einen substantiellen Beitrag zum Forschungsfeld.

Anmerkungen:
1 Zu diesem Zusammenhang jetzt auch detailliert Franz Walter / Stephan Klecha / Alexander Hensel (Hrsg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015.
2 Geoffrey Cocks, Psychotherapy in the Third Reich. The Göring Institute, 2nd ed., rev. and expanded, New Brunswick 1997, S. 268–270.
3 Günther Hunold, Schulmädchen-Report. Sexprotokolle, mit einem Nachwort von Kurt Seelmann, München 1970.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension