K. Orth: Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten

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Titel
Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen


Autor(en)
Orth, Karin
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
480 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Fischer, Universität Trier

Das Buch ist die gekürzte Fassung einer Qualifikationsarbeit, die im Sommer 2015 von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg als Habilitationsschrift angenommen wurde. Insgesamt handelt es sich um eine beeindruckende Leistung innerhalb eines immer noch florierenden Forschungsfeldes, die mit frischen Daten und Einsichten über eine bisher nicht unter dem Blickwinkel der Vertreibung untersuchten Institution sowie der vom Handeln dieser Institution Betroffenen aufwartet. Dabei geht es, anders als der Obertitel andeutet, keineswegs nur um jüdische Gelehrte, sondern auch um Gelehrte, die einen jüdischen bzw. teilweise jüdischen Ehepartner hatten oder die (wie die Mehrheit der untersuchten Personengruppe – vgl. S. 72 und S. 89) schon lange nicht mehr der jüdischen Religion angehörten. Die aus rassischen Gründen Verfolgten bildeten gleichwohl die übergroße Mehrheit des Samples. Unschärfen und Diskrepanzen dieser Art zwischen Selbstwahrnehmung und Fremdzuschreibung findet man – um dieser Bemerkung den Charakter eines Einwandes zu nehmen – in nahezu allen Arbeiten in den Forschungsfeldern NS-Vertreibung von Wissenschaftlern und Wissenschaftsemigration aus Deutschland nach 1933.

Das Forschungsdesign der Arbeit ist komplex und – wie bei Arbeiten aus diesem Themenbereich zu erwarten – nicht ohne Probleme. Eines der Probleme ergibt sich aus dem Doppelcharakter der Studie als Institutionengeschichte auf der einen und einer um die Biografien einzelner Personen – nämlich der ausgeschlossenen Wissenschaftler – zentrierten Arbeit auf der anderen Seite. Das der Autorin bewusste (S. 23f.) Problem dabei ist, die beiden Fäden der institutionellen Entwicklung und der Individualbiografien so zu verweben, dass beides nicht nebeneinander herläuft, sondern aufeinander bezogen und in Interaktion stehend gezeigt werden kann. Dabei werden die von der NS-Politik Betroffenen nicht nur als Objekte staatlichen Handelns, sondern auch als Akteure mit eigenen Strategien, Sichtweisen und Zielen dargestellt.

Die Verfasserin konnte das Problem der Verknüpfung von Institutionengeschichte und Individualbiografie unter den gegebenen Umständen nicht perfekt lösen. Zuweilen gewinnt die Institutionengeschichte starkes Eigengewicht (etwa S. 29ff., 135ff., 320ff.), zuweilen auch die Lebensgeschichte Einzelner, wie die von Heinrich Spangenberg (S. 118ff.), Hans Winterstein (S. 145ff.), Carl Neuberg (S. 193ff.) oder Alfred Philippson (S. 243ff.). Die Gründe für diese Bevorzugung liegen teilweise in der Reichhaltigkeit der jeweils verfügbaren Daten, teilweise im vermuteten exemplarischen Charakter der betreffenden Lebensgeschichten. Obwohl man über das Exemplarische daran streiten kann, sind die präsentierten Abrisse und Geschichten immer interessant und mit überraschenden Einsichten verbunden.

Viele der verbleibenden Probleme dieses Forschungsansatzes liegen in der Natur der Sache. Zum einen ist eine Institution wie die DFG/Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft keine monolithische Einheit. Auch hier können Personen Akzente setzen oder eigenverantwortlich durchaus eigenwillige Entscheidungen treffen. Dies bedeutet, dass auch Institutionengeschichte durch das Handeln von Individuen mitgeprägt ist, obwohl der Rahmen dieses Handelns durch das übergeordnete System (in diesem Fall: den nationalsozialistischen Staat), seine Wissenschaftspolitik und seine Rassengesetze bestimmt wird. Zum anderen bilden die durch die NS-Gesetze betroffenen Individuen durch die Anlage der Studie keine organische Einheit (wie etwa die Mitglieder einer wissenschaftlichen Disziplin oder eines Spezialgebiets), sondern ein Agglomerat von Einzelpersonen aus unterschiedlichen Fächern und mit unterschiedlicher Reputation. Was zur Folge hat, dass Typisierungen nur schwer möglich sind und im Extremfall jede Person als Individuum mit – hinsichtlich der untersuchten Fragen – nicht generalisierbaren Eigenschaften zu behandeln ist. Die vorliegende Studie zeigt allerdings, dass sich auch in einem sehr heterogenen Sample durchaus verallgemeinerbare Züge finden lassen.

Diese verallgemeinerbaren Züge wären möglicherweise bei einer größeren Untersuchungsgruppe deutlicher hervorgetreten. Ein Teil des Samples ist zahlenmäßig festgelegt und umfasst mit 20 Personen die Mitglieder der zentralen wissenschaftlichen Notgemeinschafts-Gremien bis 1933, die aufgrund der NS-Rassenpolitik ihre Positionen verloren. Weitere neun Personen verloren ihre Position durch politisch bedingten Ausschluss, werden aber hier nur aufgelistet (S. 70), im weiteren Verlauf jedoch nicht mehr berücksichtigt. Es handelt sich statistisch also um eine Totalerhebung der im weiteren Sinne aus rassischen Gründen vertriebenen Gremienmitglieder, die im Verlauf der Studie individualbiografisch untersucht werden. Der zweite Teil des Samples ist umfangreicher und umfasst 46 Personen, die aufgrund „pragmatischer Kriterien“ ausgewählt wurden. Leider gibt die Autorin keine weiteren Informationen darüber preis, was sie unter „pragmatisch“ versteht. Ihr Sample (oder handelt es sich um die Gesamtheit an Personen, über die entsprechende Informationen verfügbar sind?) umfasst Personen, die Anträge auf Forschungsförderung bei der Notgemeinschaft/DFG gestellt haben und – sofern sie den Krieg überlebten – nach 1945 zumindest einen weiteren Antrag auf Förderung bei der DFG/Bonner Notgemeinschaft gestellt haben (S. 23 und S. 318). Die Gesamtzahl der Antragsteller (Einzelpersonen) zwischen 1920 und 1933 schätzt die Autorin auf etwa 3100 (die Zahl von 46 Personen entspricht somit etwa 1,5 Prozent, also weniger als ein Zehntel der Entlassungsquote im gesamten Hochschulbereich). Wichtig ist, dass es sich um keine statistisch repräsentative Zufallsauswahl handelt, sondern dass sich das Hauptauswahlkriterium aus den Zufälligkeiten des Zustandekommens der verfügbaren Quellen ableitet. Die Quellenlage wird von der Verfasserin als prekär (lückenhaft, fehlerhaft, möglicherweise gezielt vernichtete Akten, etc.) beschrieben (S. 20ff.). Die Konsequenzen der verzerrten Datenbasis für die Repräsentativität der vorliegenden Studie liegen auf der Hand.

Allerdings wird Repräsentativität im statistischen Sinn von der Autorin auch nicht beansprucht (S. 88, 318). Kriterium für die Aufnahme in das Sample war die Interaktion der ausgewählten Personen mit der hier im Mittelpunkt stehenden Institution in Form von Anträgen, Korrespondenzen, Netzwerken. Nicht alle aufgenommenen Personen erwiesen sich in dieser Beziehung als ergiebig (etwa Sigmund Hellmann oder Fritz Mayer, S. 133 und S. 226). Was die Quellenlage im Hinblick auf den biografischen Teil der Arbeit allenfalls – mit einer gehörigen Portion Optimismus – gestattet, ist die Erzielung exemplarischer Ergebnisse.

Den Kern des biografischen Teils bilden die längeren Abrisse über Fritz Haber, Heinrich Spangenberg, Hans Winterstein, Carl Neuberg, Alfred Philippson, Wilibald Gurlitt, Kurt Eisenmann und Erich Regener. Weitere ca. 30 Personen werden in kürzeren Porträts behandelt, über den verbleibenden Teil des Samples erfährt man eher wenig. (Auch hier scheint das Lotka’sche Verteilungsgesetz zu gelten.) Allerdings gibt es biografische Abrisse über andere Personen, die zur Erklärung des Institutionenhandelns der DFG wichtig erschienen, wie etwa zu Karl Geiler, Otto Flachsbart und Ludwig Reiser (S. 330ff.). Typisierungen innerhalb des Samples erfolgen (ohne statistisch repräsentativen Anspruch) anhand verschiedener Kriterien, wie Zeitpunkt der Entlassung bzw. Emigration, Lebensalter, Charakter der Exklusion, erreichte Karrierestufe, rassische Einstufung, Überlebensstrategie in Deutschland, Emigrations- und Akkulturationsgeschichte. Inwieweit die an verschiedenen Stellen der Arbeit (S. 105, 133, 187, 191, 222f., 266, 317) eingefügten Zahlen über Emigrationsquote, Rücktritte, Suizide, Deportationen, Sterbefälle, Rückkehrer, etc., (jeweils zu bestimmten Stichzeitpunkten) etwas über die jeweiligen Grundgesamtheiten aussagen, muss, abgesehen von der Teilgruppe der Gremienmitglieder, aufgrund der ungeklärten Repräsentativität der Daten offen bleiben.

Nicht alle Ziele, die die Verfasserin an verschiedenen Stellen ihrer Arbeit formuliert (S. 7, 13f., 101, 104f., 135, 318, 416) konnten erreicht werden. Die zunächst als Programm angekündigte (S.104) Untersuchung der „Veränderung von Denkstilen und Wissenschaftspraxen“ konnte die Studie „nicht leisten“, weil dafür „die Forschung selbst in den Blick genommen“ werden müsste (S. 174) – was bei der vorliegenden Fächerspreizung von einer einzelnen Historikerin nicht geleistet werden kann.

Die Erträge der Arbeit sind dennoch sehr beachtlich. Was sie bietet, ist gut recherchiert, behutsam argumentiert und gut lesbar. Die Zahl an formalen und inhaltlichen Fehlern, überzogenen Behauptungen oder rhetorischen Verbeugungen (S. 104f.) bleibt auf niedrigem Niveau. Besonders hervorzuheben sind die Analysen zu den Überlebensstrategien der Nichtemigrierten in Deutschland und zu ihren paradoxen Effekten (S. 313f.), zu den Problemen älterer, an den Regeln der deutschen Wissenschaftskultur festhaltender Emigranten (wie etwa Carl Neuberg) mit der akademischen Kultur der USA, zu den Akkulturationsschwierigkeiten der Emigranten in der Türkei, zur Aufarbeitungspolitik der NS-Zeit durch die Bonner Notgemeinschaft/DFG und zum Schlingerkurs der letzteren in der Förderpolitik gegenüber NS-Verfolgten.