M. Sauter: Die Erschliessung des Klausenpasses

Cover
Titel
Saumpfad – Lini – Speedway. Die Erschliessung des Klausenpasses


Autor(en)
Sauter, Marion
Erschienen
Emmenbrücke 2016: Edition Typoundso
Anzahl Seiten
216 S.
Preis
69.00 CHF
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Romed Aschwanden, Departement Geschichte, Universität Basel

Über Pässe respektive über einen Pass hat man in der Schweiz 2016 einiges, ja gar zu viel lesen können. Man muss der Architektur- und Kunsthistorikerin Marion Sauter danken, hat sie in diesem „Gotthardjahr“ einer Nebenroute, der Straße über den Klausenpass, zu einem Auftritt verholfen. Einer Straße, die, so Sauters Einschätzung, trotz ihres Zeugnisses der planerischen und bautechnischen Meisterleistung im Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz nicht ausreichend gewürdigt wird. Mit dem Buch will die Autorin eine der vielen Lücken in der Forschung zu den inneralpinen Pässen füllen. Das Buch zur Klausenpassstraße ist in erster Linie ein Beitrag zur Verkehrsgeschichte, spiegelt aber auch die regionale Wirtschafts- und Sozialgeschichte wider.

Der Titel des Buches spielt auf drei unterschiedliche Bereiche an: „Saumpfad“ setzt den Klausenpass in Verbindung mit dem (früh-)neuzeitlichen alpinen Wirtschaftszweig des Saumverkehrs, wobei die Autorin darauf hinweist, dass diese Verkehrsart sich am Klausenpass bis ins 18. Jahrhundert nicht belegen lasse; „Lini“ verweist auf die Bezeichnung eines Streckenabschnitts der Klausenpassstraße im Volksmund, der sich durch seine gerade Linienführung und den für eine Passstraße sanften Anstieg als ungewöhnlich erweist; „Speedway“ assoziiert die Straße mit den Bahnrennen, die in den USA der 1920er-Jahre populär werden, und spielt damit auf die Passrennen an, die am Klausen zwischen 1922 und 1935 (und heute als Nostalgierennen) stattfanden und eine internationale Bekanntheit erreichten.

Die Studie liest sich quasi als Entwicklungsroman. Die erste Hälfte widmet sich den Vorläufern der Passstraße, den Alp- und Viehpfaden von Glarner und Urner Seite auf den Klausen und den ersten Projekten für einen fahrbaren Weg im 19. Jahrhundert. Die Autorin betont, dass es bis ins 19. Jahrhundert nicht einen einzigen, sondern viele verschiedene Wege auf den Klausenpass gegeben habe, was mit der Siedlungsstruktur zu begründen sei – der Klausen war zeitweise beinahe bis unter die Passhöhe besiedelt und alpwirtschaftlich rege genutzt. Weiter behandelt sie die unterschiedlichen wirtschaftspolitischen Interessen der Kantone Glarus und Uri: Während Glarus einen Anschluss an die Gotthardroute suchte, um den Absatzmarkt für Webereiprodukte besser zu erreichen, sah Uri primär ein finanzielles Risiko in der Passerschließung. Trotz in Aussicht gestellter Subventionen durch die schweizerische Eidgenossenschaft blockierten die Urner die Bauprojekte der 1860er- und 1870er-Jahre. Ein Abschnitt erläutert die Bedeutung des Gotthardpasses als Hauptverkehrsachse: Dem Ausbau der Gotthardstraße zwischen 1817 und 1830 folgte der Bau interkantonaler Passstraßen wie der Oberalp- und Furkastraße 1863 bzw. 1866. Die militärische Bedeutung des Klausenpasses zur Sicherung der Nord-Süd-Achse stieg nach Eröffnung der Gotthardbahn 1882 und legitimierte die starke Subventionierung der Straße durch die Eidgenossenschaft.

Die zweite Hälfte des Buches widmet sich dem eigentlichen Bau der Klausenstraße und ihrer Nutzung bis in die Gegenwart. Auf Beharren der Glarner Regierung, die „Sackgasse“ (S. 121) Linthal aufzubrechen, kam es in den 1890er-Jahren doch zu einer Einigung mit den Urnern: An der Landsgemeinde vom 13. November 1892 akzeptierten die Urner das Bauprojekt. Der Planung und Umsetzung des Straßenbaus widmet sich die Autorin mit einer bewundernswerten Akribie: Sowohl die Sektionierung der Bauetappen, die Baulosevergabe als auch die Zahl der beteiligten Unternehmen sind detailreich dargelegt und stets mit Verweisen auf Baupläne und auf die Landschaft verknüpft. Unter den Firmen wie unter den Arbeitern befanden sich vornehmlich Italiener. Den Trasseebau bis zur Eröffnung der Straße am 10. Juni 1900 beschrieben die beteiligten Ingenieure als besonders herausfordernd.

Der Klausenpass wurde 1917 vergleichsweise spät für den motorisierten Verkehr freigegeben – auch hier forderten die Glarner die Freigabe bereits 1909. An dieser Stelle bleibt die Frage offen, ob die Freigabe der Straße ausgerechnet in den Krisenjahren des Ersten Weltkriegs mit administrativen Verzögerungen zu begründen ist oder möglicherweise erneut einem übergeordneten strategischen Interesse folgte. In der Zwischenkriegszeit gewann der Klausenpass bei Automobilisten rasch an Popularität. Seit 1922 fand regelmäßig das Klausenpassrennen statt, bis es 1935 aufgrund von Konflikten mit dem Kanton eingestellt wurde: Die große Besucherzahl von bis zu 30.000 Personen schädigte die Alpweiden. Das Buch schließt mit Ausbauetappen und Instandhaltungsarbeiten sowie einem kurzen Fazit, das die Bedeutung der Klausenstraße für die beiden Kantone Uri und Glarus resümiert und den Einfluss der vorhandenen Siedlungsstruktur auf den Planungs- und Bauprozess hervorhebt.

Nebst der detailreichen Recherche zu Bauprojekten, Bauetappen, planerischen und bautechnischen Schwierigkeiten sowie politischen Episoden bietet das Buch eine außerordentlich gute Bebilderung: Sämtliche im Text behandelten Pläne und Karten sind in guter Qualität abgedruckt, was nachfolgenden Forschungsprojekten einen überaus großen Nutzen bietet. Ergänzt werden sie durch historische Fotografien, denen aktuelle Bilder gegenübergestellt werden, und die den wissenschaftlichen Inhalt um die Ebene des Vergleichs, aber auch um ästhetischen Genuss erweitern. Das stark chronologische Narrativ bricht Sauter hin und wieder mit Randinformationen zur Quellenlage auf: So beschreibt sie etwa, wie sie lediglich durch Wirtschaftsbewilligungen im Urner Amtsblatt darauf schließen konnte, dass während der Bauphase entlang der Straße ganze „Barackenwirtschaften“ für die Bauarbeiter bestanden. Oder sie streift Projekte wie dasjenige der „Klausenbahn“ von 1896, ein Eisenbahnprojekt über den Pass, das nie verwirklicht wurde. Sauters quellenkritische Arbeit ist beispielhaft: So stellt sie im Abgleich mit archäologischen Befunden fest, dass die Siegfriedkarte, eine der frühen topographischen Karten der Schweiz, den Verlauf des alten Klausenwegs nicht korrekt wiedergibt – eine Feststellung, die grundsätzlich zur Vorsicht im Umgang mit Karten als Quellen aufruft.

Die Verkehrsgeschichte hat sich in den vergangenen Jahren zu einem dynamischen und innovativen Forschungsfeld entwickelt, das sich stark von seinen Ursprüngen in der Erforschung von Verkehrswegen und -technologien entfernt hat und vermehrt nach den Auswirkungen und der Nutzung von Verkehrsinfrastruktur fragt. In diesem Sinne ist „Saumpfad – Lini – Speedway“ eine klassische verkehrshistorische Studie, die auf Planung und Bau fokussiert. Indem Sauter den Einfluss der Siedlungsstruktur auf die Routenwahl erwähnt und den Wandel der Straßennutzung vom exklusiven Touristenziel der 1920er-Jahre zum populären Ausflugsziel der 20. Jahrhunderts beschreibt, bezieht sie am Rande auch soziale und wirtschaftliche Aspekte mit ein.

Das Buch – die Biographie dieser Straße – besticht durch seine Aufmachung, die Materialfülle und die Akribie der Autorin. Ob dem großen Detailreichtum kommen leider Einbettung und Interpretation des Materials häufig zu kurz. Auch wenn Sauter mit Recht auf die Forschungslücke zu den inneralpinen Pässen hinweist, eine innovative und zeitgemäße Verkehrsgeschichte müsste über die Dokumentation von Fakten hinausgehen. Zwar ist die Literaturvielfalt zu Schweizer Verkehrswegen nicht überbordend, aber Arbeiten von Hans-Ulrich Schiedt und Laurent Tissot böten durchaus Anknüpfungspunkte.
Nebst allen Trends zur global history bleibt lokale Geschichtsschreibung unverzichtbar. Umso mehr muss sie sich aber bemühen, die Dynamik des Fachs mitzumachen – und im besten Fall mitzugestalten.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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