S. Hildebrandt: The Anatomy Of Murder

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Titel
The Anatomy of Murder. Ethical Transgressions and Anatomical Science during the Third Reich


Autor(en)
Hildebrandt, Sabine
Erschienen
New York 2016: Berghahn Books
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 113,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Schütz, Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, Ludwig-Maximilians-Universität München

Ein nicht zu vernachlässigender Aspekt der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist, dass wesentliche Impulse hierfür von Außenseitern kamen und gegen „zünftige“ Widerstände durchgesetzt werden mussten. Diese Rolle nahmen etwa in den 1980er-Jahren Götz Aly, Ernst Klee und Karl Heinz Roth im Hinblick auf die Medizingeschichte ein, deren etablierte Vertreter die Involvierung ihres Gegenstands in den alltäglichen nationalsozialistischen Terror meist konsequent ignorierten. Aly und Klee waren es auch, die zu dieser Zeit die Tagebücher der Anatomen Hermann Voss und Johann Paul Kremer veröffentlichten. Erstmals seit der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Thematisierung von August Hirts Humanexperimenten und seiner „jüdischen Skelettsammlung“ sowie von Rudolf Spanners Seifenproduktion aus menschlichem Fett, wurde hier wieder der Blick auf die Anatomie und das Verhalten ihrer maßgeblichen Vertreter im Nationalsozialismus gelenkt.1 Als sich der Marburger Anatom Gerhard Aumüller 1991 an eine Bestandsaufnahme seines Fachs wagte, geschah dies bezeichnenderweise in einer Publikation, die von der dortigen medizinischen Fachschaft herausgegeben wurde.2 25 Jahre später ist nun eine Monographie erschienen, die auf breiter Quellen- und Literaturbasis ein umfassendes Bild von der Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus zu zeichnen in der Lage ist. Die Autorin, Sabine Hildebrandt, hat mit dem Vorreiter Aumüller nicht nur eine Marburger Vergangenheit gemein, sondern die erneut impulsgebende Position des involvierten Außenseiters: Als Anatomin, die an der Harvard Medical School lehrt, ist sie seit zehn Jahren darum bemüht, die medizinhistorische Leerstelle um die NS-Geschichte ihres Fachs zu füllen.

Mit „The Anatomy of Murder“ liegt nun eine Gesamtdarstellung vor, die von zwei Ansprüchen geleitet wird: einerseits, die bisher vor allem auf einzelne Personen und Institute fokussierten und in vielen Fällen von Hildebrandt selbst recherchierten und publizierten Ergebnisse zu systematisieren, und andererseits an die Opfer zu erinnern, deren Körper für die anatomische Lehre und Forschung verwendet wurden. Die Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus wird – eingerahmt von Kapiteln über den Forschungsstand, die Entwicklungen des Fachs vor 1933 und nach dem Zweiten Weltkrieg sowie die medizinethischen Konsequenzen – anhand von drei Themenkomplexen nachgezeichnet: erstens der personellen und wissenschaftlichen Einflussnahme des Nationalsozialismus auf die Anatomie, zweitens der Varianten des Verhaltens sich anpassender und der Schicksale verfolgter Anatomen und drittens der anatomischen Forschung an Hingerichteten. Hildebrandts zentrale These einer „ethical transgression“ der Anatomen und ihres fachlichen Selbstverständnisses lässt sich auf Grundlage dieser drei Themenkomplexe gut nachvollziehen – und zwar nicht nur im Hinblick auf die anatomische Forschung: So zeigt sie etwa auf, wie sich die „Anatomische Gesellschaft“ mit viel taktischem Geschick ihren einzigartigen, internationalen Charakter bewahrte und eine Unterwerfung unter das „Führerprinzip“ umging, während aus politischen und antisemitischen Motiven entlassene und verfolgte Anatomen nicht auf die Solidarität ihrer Kollegen hoffen durften (S. 75f.).

Dass die Integrität des Fachs als „Science, not Pseudocience“ (S. 236) auf Kosten der Opfer des Nationalsozialismus bewahrt wurde, verdeutlicht die Autorin mit ihrer Darstellung der sich ändernden Verhältnisse der Anatomen zu den Leichen Hingerichteter. Deren Körper waren schon vor 1933 in deutschen Anatomien begehrt, doch setzte im Nationalsozialismus ein gleichzeitiger Prozess zunehmender moralischer Rücksichtslosigkeit und methodischer Zuspitzung der anatomischen Forschung ein: Das wissenschaftliche Interesse verschob sich vom toten Körper auf das Leben – und Leiden! – der Hinzurichtenden, welches in neuartige Forschungsdesigns mit einfloss, aber als gewaltsames Schicksal ausgeblendet blieb. Hier wäre zu fragen, was diesen Prozess jenseits der bloßen Opportunität bewirkt hat; zwar tritt auch in Hildebrandts Studie an verschiedenen Stellen zutage, dass die Anatomie als Fach in einer Sinnkrise steckte und ihre praktische Relevanz infrage stellte, weil ihr tradierter Status gegenüber anderen, „nützlichen“ Disziplinen der Medizin zurückfiel. Dieser Aspekt wird jedoch – über Hildbrandts Studie hinaus – weiter und systematischer zu erforschen sein, was sich etwa am Beispiel Eugen Fischers aufzeigen lässt: Den berüchtigten Rassenhygieniker und Gründungsdirektor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik rechnet Hildebrandt in ihrer nachvollziehbaren Klassifizierung von Aktiven, Pragmatikern, Abweichlern und Profiteuren der Anatomie im Nationalsozialismus in die letztere Kategorie (S. 160f.). Dies mag Fischers wissenschaftlicher Ausbildung durchaus entsprechen, nicht aber seinem Status und seiner Bedeutung im Nationalsozialismus: So wurde er 1937 eben als Anthropologe in die Preußische Akademie der Wissenschaften gewählt, während die Akademie zwei Jahre später zum ersten Mal in ihrer Geschichte kein einziges ordentliches Mitglied aus der Anatomie mehr aufweisen sollte3 – auch hieran lässt sich der Bedeutungsverlust des Fachs ablesen, der den Anatomen nicht verborgen blieb und sie zu neuen, unethischen Forschungsmethoden animierte.

Aus dieser unethischen Forschung, dem instrumentellen Verhältnis der Anatomen zu den Leichen Hingerichteter, welches im Nationalsozialismus von der Not zu einer wissenschaftlichen Tugend wurde, resultiert Hildebrandts Erinnerungsmotiv: „One of the failures of anatomists in the Third Reich lay in their refusal to care about the personal history of their research subjects, who had been victimized by a violent regime.“ (S. 217) Dem fachlichen Versagen setzt die Autorin nun die individuellen Geschichten der Opfer entgegen, die sie, wann immer möglich, in ihre Darstellung einfließen lässt. Sie greift dabei auf einen umfassenden Opferbegriff zurück, der angesichts der ständigen Verschärfung des Strafrechts und der schieren Anzahl an Vollstreckungen von Todesurteilen seit 1939 prinzipiell auch alle Hingerichteten miteinbezieht (S. 16). Der Versuch einer individuellen Würdigung der Opfer der nationalsozialistischen Hinrichtungsjustiz ist Hildebrandt hoch anzurechnen, während die Verwendung eines solch umfassenden Opferbegriffs letztlich dazu führt, die Geschichte der Anatomie im Nationalsozialismus mit dem Holocaust in Verbindung zu bringen: „Anatomists assisted the NS regime’s goal to eradicate all those perceived to be harming the German people. Not only were their lives to be taken, but their bodies were to be utterly destroyed. This complete annihilation included the delivery of victims’ bodies to the anatomical institutes and many other places of medical activity, and ended with the murder and industrial use of the bodies of millions of Holocaust victims in the concentration camps.“ (S. 323)

Die Übernahme von und Forschung an zahllosen Leichen Hingerichteter entsprach den Bedürfnissen der Justiz- und Kommunalverwaltungen ebenso wie den Bedürfnissen der Anatomen; sie entsprach aber keineswegs dem wahnhaften Bedürfnis nach planmäßiger Ausrottung einer „Gegenrasse“ (Arno Schickedanz) und der anschließenden Vergrabung oder Verbrennung der Ermordeten. Diese grundsätzliche Differenzierung sollte nicht hinter der richtigen und wichtigen Erinnerung an sämtliche Opfer des Nationalsozialismus zurückstehen, die Hildebrandts Studie ebenso zu einem unverzichtbaren Beitrag zur Medizingeschichte des Nationalsozialismus macht wie ihre präzise Analyse der personellen und wissenschaftlichen Entwicklungen der Anatomie seit 1933.

Anmerkungen:
1 Das Posener Tagebuch des Anatomen Hermann Voss, erläutert von Götz Aly, in: Biedermann und Schreibtischtäter. Materialien zur deutschen Täter-Biographie (Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 4), Berlin 1987, S. 15–66; „Es gab bulgarischen Rotwein und kroatischen Zwetschgenschnaps“. Aus dem Tagebuch des SS-Arztes Dr. Kremer, in: Ernst Klee / Willi Dreßen / Volker Rieß (Hrsg.), „Schöne Zeiten“. Judenmord aus Sicht der Täter und Gaffer, Frankfurt am Main 1988, S. 231–242; zu Hirt und Spanner vgl. Hans-Joachim Lang, Die Namen der Nummern. Wie es gelang, die 86 Opfer eines NS-Verbrechens zu identifizieren, Hamburg 2004; Joachim Neander, The Danzig Soap Case: Facts and Legends around “Professor Spanner” and the Danzig Anatomical Institute 1944–1945, in: German Studies Review 29 (2006), S. 63–86.
2 Gerhard Aumüller, Die Anatomie in der NS-Zeit, in: „Bis endlich der langersehnte Umschwung kam…“ Von der Verantwortung der Medizin unter dem Nationalsozialismus, hrsg. von der Fachschaft Medizin der Philipps-Universität Marburg, Marburg 1991, S. 87–112.
3 Florian Steger / Mathias Schütz, Anatomiegeschichte – Akademiegeschichte. Zur Entwicklung der Wissenschaftsakademien im Dritten Reich am Beispiel der Anatomie, in: Rüdiger vom Bruch u.a. (Hrsg.), Wissenschaftsakademien im Zeitalter der Ideologien. Politische Umbrüche – wissenschaftliche Herausforderungen – institutionelle Anpassungen (Acta Historica Leopoldina, Bd. 64), Stuttgart 2014, S. 259–288, hier S. 266–268.