D. Wootton: The Invention of Science

Cover
Titel
The Invention of Science. A New History of the Scientific Revolution


Autor(en)
Wootton, David
Erschienen
London 2015: Allen Lane
Anzahl Seiten
XIV, 769 S.
Preis
€ 28,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simone De Angelis, Zentrum für Wissenschaftsgeschichte, Universität Graz

Es mag vielleicht erstaunen, aber Bücher über die „wissenschaftliche Revolution” haben wieder Konjunktur, besonders im angelsächsischen Sprachraum.1 Seit Mitte der 1980er-Jahre gab dort eine soziologisch bzw. sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Historiographie den Ton an. Eigentlich sollte man denken, dass sich über dieses Thema kaum noch etwas Neues schreiben ließe, angesichts der Fülle an Publikationen, die im Anschluss an die großen Würfe von Steven Shapin und Simon Schaffer über Robert Boyle oder über die sogenannte „Social History of Truth” entstanden sind. Vielleicht deswegen und vielleicht auch, um einen etwas anderen Akzent zu setzen, hat sich David Wootton, der 2010 schon eine vielbeachtete Monographie über Galilei vorlegte, dieses Themas angenommen.

Ein zentrales Anliegen seines Buches ist es, zu erklären, wie und warum die Wissenschaft, insbesondere die Erklärung der natürlichen Welt, im 17. Jahrhundert zu dem geworden ist, was wir in weiten Teilen noch heute darunter verstehen. Dazu gehört auch das Eruieren dessen, was eine wissenschaftliche Erklärung ausmachte oder was als gute Erklärung eines physikalischen Phänomens präsentiert werden konnte. Das ist im Wesentlichen, was Wootton als „die Erfindung von Wissenschaft” begreift. Damit ersetzt er zwar nicht die Idee der „wissenschaftlichen Revolution”, die – wie in der Einleitung ausführlich dargelegt – ein Konstrukt der „old history of science” der 1920er- und 1930er-Jahre (Burtt, Butterfield, Koyré) sei und damit im 17. Jahrhundert so nicht stattgefunden habe, schreibt sie aber in signifikanter Weise um.

Den Kern von Woottons Buch bildet die Erörterung zentraler „intellectual tools” (S. 565) der „wissenschaftlichen Revolution”. Dabei will Wootton nicht nur zeigen, woher „the intellectual apparatus of the new science – facts, experiments, theories, laws of nature, evidence” (S. 428) – herstammte und sich in seiner neuen Bedeutung konstituierte, sondern auch wie er in der Praxis funktionierte. Zu einem Paradigma der neuen Physik zählt Wootton besonders die Vakuum-Experimente von Galileis Schüler Torricelli, der diese 1643 anhand einer Quecksilbersäule durchführte. Man wollte verstehen, was die Höhe der Quecksilbersäule determinierte und ob sich das, was sich im oberen Teil des versiegelten Glasbehälters bildete, wirklich ein Vakuum war. Entscheidend war nun, dass Torricellis Experimente von anderen Forschern und Mathematikern, unter anderem von Marin Mersenne und Blaise Pascal 1646 in Frankreich, erfolgreich reproduziert wurden, im Publikum gezeigt und deren Resultate 1647 rasch veröffentlicht wurden; berühmt ist auch Pascals Experiment auf dem Vulkan Puy-de-Dôme im französischen Mittelgebirge, in dem er zeigen konnte, dass die Höhe der Quecksilbersäule vom Gewicht der Luft abhing; damit bestätigte er Torricellis Befund, dass es ein Vakuum gab und dass das Gewicht des Quecksilbers von dem der Luft ausbalanciert wurde. Torricellis Experimentalmodell bildete später auch die Basis für Robert Boyles „New Experiments“ (1660), die schließlich in dessen Gasgesetz (1662) mündeten (S. 337, 397).

Nun leuchtet es natürlich ein, dass wir es hier nach Wootton im Vergleich zu Aristoteles, der ein Vakuum in der Natur schlicht leugnete, mit einer „peculiar sort of explanation” (S. 391) zu tun haben: diese machte ein kausales Verhältnis von Gewichten zwischen Flüssigkeiten und Gasen sichtbar; es gab nur eine Wirkursache: die Balance von Gewichten, die auch gemessen und mathematisch-abstrakt ausgedrückt werden konnten (z.B. durch ein Längenmaß oder eine Proportion); reale Substanzen waren austauschbar: anstatt Quecksilber wurden auch Wein oder Wasser verwendet; der Ausgang des Puy-de-Dôme-Experiments konnte vorausgesagt werden (erfolgreiche Voraussagen machten allerdings lange vorher auch die mathematischen Modelle der Astronomen, die ein Ptolemäisch-Aristotelisches Weltbild vertraten, wie Pierre Duhem gezeigt hat). Mit Blick auf die Aristoteliker kommentiert Wootton Pascals Erklärung so: „It is hard to reconstruct in our minds a mental universe where Pascal’s explanation seems obviously unsatisfactory and an explanation in terms of nature’s purposes seems obviously preferable.” (S. 392) Vielleicht unterschätzt Wootton die mentale Einstellung eines Aristotelikers um 1600, der gerade der Sinneserfahrung und der Empirie große Bedeutung einräumte.2 Jedenfalls greift seine Argumentation im Hinblick auf Pascals Umgang mit den Autoritäten (S. 297f.), allen voran Aristoteles, zu kurz: Denn, in der „Préface sur le Traité du Vide“ (1651) („Vorwort zum Traktat über das Vakuum”), das Wootton in seinem Facts-Kapitel heranzieht (S. 279), schreibt Pascal, dass es die Antiken im Blick auf das Vakuum nicht besser wissen konnten und dass, wenn sie dieselben Erfahrungen und Experimente gemacht hätten wie die Naturforscher im 17. Jahrhundert, sie auf dieselben Schlussfolgerungen gekommen wären („ils auraient tiré les mêmes conséquences”).3 Dies bedeutete zweierlei: 1. Pascal historisierte die antiken Autoritäten und deren Wissensansprüche und ging mit ihnen respektvoll um (dies tat übrigens auch Francis Bacon4); 2. Pascal sprach den Autoritäten rationales Denken nicht ab, da er ihnen zumutete, dass sie ihre Aussagen revidieren würden, hätten sie die neuen Vakuumexperimente vor Augen gehabt. Ganz ähnlich argumentierte auch Galilei gegenüber Aristoteles im „Dialogo“ (1632), als es um die neuen Beobachtungen und Entdeckungen am Himmel durch das Teleskop ging: Wenn Aristoteles die Kometen und neuen Sterne sähe, würde er seine Meinung über die Unveränderlichkeit der Himmelskörper ändern.5 Wenn man aber behauptet, der neue Stern von 1572 „marks, quite precisely, the beginning of the Revolution” (S. 13), so muss man diese komplexe epistemische Situation, in der das Verhältnis mit den Autoritäten harmonisiert wurde, und die die new science grundsätzlich prägte, berücksichtigen.

Sicherlich trifft Wootton ferner einen wichtigen Punkt, wenn er feststellt, dass die new science von „the old notion of true knowledge (scientia)” Abstand nahm und dieses Konzept mit einem „new concept of theory” ersetzte; so erklärt er sich, dass etwa Newton seine „Opticks“ (1704) als „the Theory of Light” deklarierte (S. 396f.). Dies mag für die „Optik“ stimmen, in der Newton Lichttheorie und Experimente aufeinander abzustimmen versuchte. Der Newton der „Principia Mathematica“ (1687) hielt jedoch am Begriff der Wahrheit fest, gerade in Bezug auf den Kraftbegriff in seiner Gravitationstheorie, den er ausschließlich mathematisch (als mathematisch wahr) verstand, physikalisch jedoch nicht erklärte („hypotheses non fingo”). Newton wie Galilei haben in der Tat eine Erklärung der Natur präsentiert, die unter anderem mit mathematischen bzw. geometrischen Modellen operierte und insofern ideal-abstrakt war und von einzelnen Körpern oder Substanzen auch absehen konnte. Dies reflektierte sich auch in deren Konzept von Naturgesetz, der sich an idealen Raum-Körper-Konstellationen orientierte und reale impediments (wie zum Beispiel Luftwiderstand oder Reibung in Galileis Fallgesetz) ganz bewusst ignorierten. Hier mag vielleicht der größte Unterschied der new science zu der Physik der realen Substanzen und substantiellen Formen des Aristoteles liegen. Insofern ist es plausibel, dass ‚Theorie‘ und ‚Hypothese‘ (modelliert nach der Praxis der Astronomen) sowie ‚facts‘ und ‚evidence‘ (abgeleitet von der Rechtsprechung) ab den 1660er-Jahren die „standard terminology for discussing science in England” konstituierte (S. 398). Wootton widmet der „Mathematization of the World“ einen ganzen Abschnitt und führt deren Anfänge auf Leon Battista Alberti und Regiomontanus zurück (S. 163-210). Die genannten intellectual tools, die auch cultural values ausdrückten, welche die community der scientists teilte, brachten, so Woottons Narrativ, schließlich die „new styles of thinking” (S. 565) der new science auf den Weg.

Eine zentrale These dieses Buches ist somit, dass der Wandel in der Sprache, sprich: in den Texten der Wissenschaften, ein „crucial marker” (S. 63) dafür ist, wie sich das Denken der wissenschaftlichen Akteure veränderte; insofern ist diese Art von Historiographie einer neuen Ideengeschichte oder intellectual history verpflichtet, an der auch die history of science teilhat. Das liest sich – zugespitzt formuliert – wie ein Gegenprogramm zu den (radikal) wissenssoziologischen Ansätzen der 1980er- und 1990er-Jahre, von denen sich Wootton kritisch absetzt. Wootton hat ein kenntnisreiches und lesenswertes Buch geschrieben, in dem er in großen Linien den Wandel der Wissenschaftssprache und der Naturerklärung im 17. Jahrhundert aufzeigt, den er in der Renaissance und mit der Entdeckung Amerikas (discovery) beginnen lässt und den er sogar bis zur „Industriellen Revolution” und dem Beginn der Moderne weiterverfolgt. Für Laien ist das bestimmt eine lohnenswerte Lektüre, für Experten fehlt es an Tiefgang, der letztlich nur durch genaue mikrogeschichtliche Studien zu erreichen ist.

Anmerkungen:
1 John Henry, The Scientific Revolution: Five Books about It, in: Isis, 107 (2016), S. 809–817.
2 Marco Sgarbi, The Aristotelian Tradition and the Rise of British Empiricism. Logic and Epistemology in the British Isles (1570–1689), Dordrecht 2013.
3 Pascal, Préface Sur Le Traité Du Vide [1651], in: Michel Le Guern (Hrsg.), Pascal, Oeuvres complètes, 2 Bde., Bd. 1, Paris 1998, S. 452–458, hier S. 457f.
4 Simone De Angelis, Anthropologien. Genese und Konfiguration einer ›Wissenschaft vom Menschen‹ in der Frühen Neuzeit, Berlin 2010, bes. S. 265–268.
5 Ottavio Besomi / Mario Helbing (Hrsg.), Galileo Galilei, Dialogo sopra i due massimi sistemi del mondo tolemaico e copernicano [1632], 2 Bde., Bd. 1, Padova 1998, S. 54.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch