T. Siebeneichner: Proletarischer Mythos und realer Sozialismus

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Titel
Proletarischer Mythos und realer Sozialismus. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR


Autor(en)
Siebeneichner, Tilmann
Reihe
Zeithistorische Studien 55
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
579 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Wagner-Kyora, Center for Metropolitan Studies, Technische Universität Berlin

Die historiographische Wahrnehmung des Arbeiter-Seins in der DDR ist maßgeblich geprägt vom Aufstand des 17. Juni 1953, aber nicht von einer umfassenden Kenntnis der Betriebspolitik. Auch wenn die Angst der Parteioffiziellen vor einem unkalkulierbar großen Protestpotenzial virulent blieb, das sich einmal phasenspezifisch radikalisiert hatte, waren es nicht die Arbeiter als soziale Gruppe, die dem SED-Staat tatsächlich gefährlich werden konnten. Und dennoch wurde ein immenser Aufwand betrieben, um ein solches Protestpotenzial nicht erneut entstehen zu lassen. Sichtbarer Ausdruck dessen wurde die Über-Organisation der Arbeiter in den Betrieben seitens der Staatsgewerkschaft und der Staatspartei sowie der Geheimpolizei. Und diese schlechte Trias wurde durch eine zusätzliche militärpolitische Gängelung noch ergänzt, nämlich durch jene sogenannten „Kampfgruppen der Arbeiterklasse“, die den Gegenstand der Göttinger Dissertation von Tilmann Siebeneichner aus dem Jahr 2014 bilden.

Jene bewaffneten Brigadeschützen, die dann etwas ausrichten sollten, wenn wieder Massendemonstrationen gegen den SED-Staat drohten, blieben jedoch allenfalls eine Vision der Parteifunktionäre für den innenpolitischen Barrikadenkampf. Als sich im Oktober und November 1989 diese Situation unverhofft tatsächlich wiederholte, wurden DDR-weit „insgesamt 8.162 Kampfgruppen-Angehörige alarmiert […]. Von ihnen kamen 4.631 zum Einsatz.“ (S. 441) Der Einsatz wurde aufgeboten, um die Montagsdemonstrationen potenziell zu unterdrücken. Dass es dazu nicht gekommen ist, verdankt sich einer Kette protestpolitischer Zufälle, die abschließend von Siebeneichner resümiert werden können und den abrupten Niedergang dieser Abenteurertruppe unter der Überschrift „Die (Selbst-)Verkehrung des proletarischen Mythos“ illustrieren (S. 399–466).

Tatsächlich handelte es sich bei den Kampfgruppen mehr und mehr um ein monströses „militärpolitisches“ Freizeitgebilde, das eher an Abenteuerspielplatz erinnerte, als an ernstzunehmende, mit der Waffe in der Hand herumfuchtelnde Betriebssportler, die zu allem entschlossen gewesen wären. Infolgedessen wird vom Verfasser die Organisationsgeschichte dieses Mobilisierungsverbandes als spannender denn die Nahsicht der Erlebnisperspektive eingeschätzt, wohl auch deswegen, weil es kaum etwas eigenständig seitens der Kampfgruppen-Angehörigen zu beeinflussen gab. So bietet Siebeneichner ergänzend eine Perspektive von unten in fünf Zeitzeugen-Interviews auf. Ausschnittweise entsteht in der Kombination mit den offiziösen Schriftquellen unterschiedlicher Funktionärsgruppen ein zureichendes Gesamtbild der politischen Außenwirkung dieser „Kampfgruppen“ innerhalb von vier Jahrzehnten der Alltagsdiktatur der DDR.

Thema ist der „proletarische Mythos“ vom bewaffneten und kampfbereiten Arbeiter, der in der kommunistischen Arbeiterbewegung in der Frustration ihrer Marginalisierung und späteren Verfolgung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden war und der in der DDR spät wiederauflebte (S. 27–31). Aufgrund zahlreicher archivalischer Hindernisse hat der Verfasser seine Forschungstätigkeit schließlich auf das Landeshauptarchiv Magdeburg konzentriert (S. 35) und hier auf die staatliche Überlieferung der Volkspolizei, um auf der Ebene der Bezirke Magdeburg und Halle die phasenspezifische Veränderung der Kampfgruppenausbildung nachzuzeichnen. Dies gelingt in vier unterschiedlich umfangreichen Kapiteln, die sich nacheinander dem 17. Juni 1953 zuwenden, den „Aufbau-Jahren“, also den späten 1950er-Jahren, den 1960er-Jahren mit Mauerbau 1961 und 1968 sowie abschließend dem Untergangsjahr der DDR 1989.

Man kann hier kritisch anmerken, dass dieser makropolitische Zugriff auf eine regionale und lokal organisierte paramilitärische Freizeitorganisation die Realität der Betriebsebene völlig ausblendet, also die schon länger eingeführten mikropolitischen Ansätze in der Arbeitergeschichtsschreibung.1 Insofern reduziert die organisationspolitische Fragestellung mentalitätsgeschichtliche Weiterungen allein auf die Brille der Berichtsaktivitäten staatlicher Funktionsorgane. Dennoch kann in der Aneinanderreihung ziemlich interessanter Protokolle ein Stück weit das Spektrum arbeiterlicher Devianz gegenüber der Staats- und Parteimacht im Betrieb aus verschiedenen Zeitphasen der DDR-Arbeitergeschichte sichtbar gemacht werden.

Siebeneichner kann somit ein insgesamt gespaltenes Wahrnehmungsraster der Kampfgruppen-Aktivitäten konstatieren: Einerseits erhielt man dort als Uniformierter Anerkennung, sofern man die als ziemlich störend empfundene paramilitärische Kampfausbildung mitmachte, andererseits war das alles aber insgesamt einfach eher lästig. Es wurde als unzeitgemäß, als kontroll-freakig und letztlich auch als unrechtmäßiger Eingriff in die Persönlichkeitsautonomie empfunden. Ein gemeinsamer Mentalitätskern wird auf Grundlage dieser disparaten Erwartungshaltung andeutungsweise beschrieben. Letztlich wurden die Kampfgruppen als ein ziemlich überflüssiges Kollektivorgan wahrgenommen, welches der eigentlich nur von der SED-Führungsriege gewünschten permanent möglichen Massenmobilisierung ideologischen Zündstoff lieferte – mehr aber nicht.

Ertragreicher ist hingegen die Funktion politischer Kommentierung, welche aus der Organisationsgeschichte abgeleitet werden kann: Da der vordergründige mentalitätsgeschichtliche Ansatz auch bei den Kernthemen Aufstand 17. Juni 1953, Mauerbau und Friedliche Revolution überblickshaft beibehalten wird, erfährt der Leser so Manches über die internen Reaktionen darauf, aber eben leider zu wenig über die gruppenspezifischen Dynamisierungsprozesse, über die Opfer dieser Entwicklung und auch über die Rezeption der Kampfgruppen in der Gesellschaft – bis hinein in das familiäre Umfeld, das ja ein dankbarer Untersuchungsgegenstand hätte sein können, aber ohne die Stasi-Protokolle Inoffizieller Mitarbeiter nicht zu erschließen ist.2

Im Jahr 1955 waren bereits 22.000 Arbeiter in den Kampfgruppen mobilisiert und diese sollten sich vorwiegend auf Arbeiter-Demonstrationen zeigen, um Emotionen des Arbeiter-Seins positiv zu stabilisieren. Siebeneichner ordnet sie aber eher den „milieuspezifischen Traditionen“ als der Erfolgswelle gelingender SED-Propaganda zu (S. 159–163). Gleichzeitig wurde jedoch die zunehmende „Tendenz zur Kriegsspielerei“ vehement auch intern kritisiert, womit sich die Überlagerung der zeitgenössisch noch ziemlich virulenten Kriegs- und Enttäuschungserfahrungen durch einen hasardierenden NS-Staat widerspiegelten. Damit entzog sie aber Solidarisierungsansätzen von Parteifunktionären und Arbeitern den Boden von vorneherein (S. 167–173). Hier fällt kommentierend aus der Zeitzeugenperspektive der Begriff der „Ewiggestrigen“ (S. 173), der geschickt in die Beurteilung dieser Zeitspanne integriert werden kann. Diese weigerten sich schlicht, die heterogenen Realitäten einer modernen Arbeits- und Industriegesellschaft zu akzeptieren.

Die zaghaften Ansätze einer Emotions- inmitten der Mentalitätsgeschichte des Kollektivs der Arbeiter-Kampfgruppler werden von Siebeneichner mit Honeckers Leitbegriff des „Vertrauens“ von 1957 aufgegriffen und im Umkehrschluss ansatzweise kritisch als „Misstrauen“ konnotiert (S. 181). Denn die Bevölkerung habe diese bewaffneten Arbeiter eher als „Bürgerkriegsarmee“ wahrgenommen und sie lag damit wohl auch richtig, wie die entsprechende Volkspolizei-Einschätzung von Juli 1957 resümiert.

Anmerkungen:
1 Anzumerken ist hier der Sammelband von Hermann-Josef Rupieper und Friederike Sattler sowie des Rezensenten „Die mitteldeutsche Chemieindustrie und ihre Arbeiter im 20. Jahrhundert“ aus dem Jahre 2005, der einiges an weiterführender Anregung in Hinblick auf diesen Forschungsansatz hätte anbieten können.
2 Auch hier hätte der Archivbesuch in der regionalen Stasi-Unterlagen (Gauck-)Behörde in Halle Abhilfe schaffen können.

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