Titel
Phantome des Terrors. Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit 1789–1848


Autor(en)
Zamoyski, Adam
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
618 S., 32 Abb., 2 Karten
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Adam Zamoyski, freiberuflicher Historiker, hat mehr als ein Dutzend Bücher über die Geschichte Polens geschrieben. Über die Interessenten für polnische Geschichte hinaus fanden besondere Beachtung seine Bücher über den Wiener Kongress und über den Russlandfeldzug Napoleons 1812. Den Wiener Kongress sieht er nicht als Ausgangspunkt einer längeren Friedensperiode, sondern als die Grundlegung einer repressiv-reaktionären Ordnung, welche die Interessen vieler Nationen und gesellschaftlicher Schichten missachtete. Dies gilt besonders, wenn man die Ergebnisse des Kongresses aus polnischer Perspektive sieht.

„Phantome des Terrors“ lässt sich als Fortsetzung des Buches über den Wiener Kongress lesen. Die amerikanische Ausgabe seines „Phantom Terror“ akzentuiert im Untertitel etwas andere Aspekte als die ursprüngliche englische Ausgabe: In der New Yorker Ausgabe lautet er: „Political paranoia and the creation of the modern state“.1 Damit wird verständlicher, warum er in der Einleitung von der „surreale[n] Qualität seines Themas“ (S. 9) spricht, mit vagen Hinweisen auf seine Bedeutung für die Gegenwart. Gemeint ist offenbar die Gefahr des totalen Überwachungsstaates als Reaktion auf den aktuellen Terror. Dabei lautet ein Fazit seines Buches, dass nach 1814 die revolutionäre „Ansteckung“ geringer gewesen sei als die durch staatliche Kontrollsucht (S. 68).

Die Arbeit ist mit Hilfe einiger Mitarbeiter/innen entstanden, die für den Autor in Archiven recherchierten und zudem die deutsche Literatur zum Thema durchforsteten. Das zentrale Thema der Monographie ist das seit der Französischen Revolution in Europa entstehende Überwachungssystem mit den Komponenten von Polizei, Spitzeln einschließlich von agents provocateurs, zentralen Beobachtungsbehörden wie der „Beobachtungsanstalt“ in Mailand oder der „Zentraluntersuchungsbehörde“ in Mainz. Letztere soll bis zu ihrer Auflösung 1842 2.140 Namen erfasst haben (S. 429f.). Ausführlich wird das System der Post- und Briefkontrolle (besonders Kap. 27) behandelt. Dies geschieht nicht ganz so ausladend mit der Zensur im Allgemeinen und dem russischen „Zensurterror“ im Besonderen (S. 381ff., 486ff.).

Die Grundlage dieser in fast allen Ländern existierenden Polizei-, Spitzel- und Überwachungssysteme bildeten rechtliche oder einfach polizeiliche Vorschriften wie die Aliens Acts in England, die zeitlich begrenzt die Habeas Corpus Akte außer Kraft setzten, die Karlsbader Beschlüsse und ähnliche Vorgaben in anderen Ländern. A. Zamoyski erklärt sie mit der hysterischen Angst vor revolutionären Verschwörungen und Unruhen in der Bevölkerung. In den Schriften und im Briefwechsel Metternichs, Alexanders I. und anderer Politiker wurde die vermeintliche Bedrohung entweder in medizinischen Metaphern – Ansteckung, Epidemie, Wundfieber, Schwindsucht, Zersetzung (S. 164) – oder in geologischen Metaphern – Sintflut, Sturzbach, Flutwellen, Vulkan, Ausbruch, Erdbeben, Kaskaden (S. 181) – beschrieben. Kursorisch werden die verschiedenen Unruhen in England oder in Frankreich (nach 1814) wie der Geheimgesellschaften, die Carbonari oder die später sogenannten Dekabristen in Russland vorgestellt. Damit will A. Zamoyski die Unangemessenheit der Beobachtungsinstanzen und Verfolgungen im Verhältnis zu tatsächlichen geheimen oder auch nicht so geheimen Gesellschaften und zu den sozialen Unruhen kennzeichnen. Sie alle seien ohnehin ein Produkt der repressiven Regime gewesen. Denn in der Regel zielten diese Organisationen und Bewegungen nicht auf Umsturz, sondern bestenfalls auf politische Mitsprache und soziale Reformen. Die Legitimation für die Unterdrückungs- und Kontrollmaßnahmen findet er im Obskurantismus und in der Paranoia der politischen Eliten und in den konservativen und in jedem Fall hysterisch antirevolutionären Ideen und Ideologien, von Burke bis de Maistre als ihren intellektuellen Vertretern. Ihre dann vulgarisierten Ideen fanden ihren Niederschlag in den Praktiken der Heiligen Allianz, der „pax christiana“ (S. 180), von Metternich und all den Polizeiministern in Gesetzen und polizeilichen Praktiken umgesetzt. Revolutionsfeindliches und konservatives Denken bezog sich immer wieder auf Verschwörungstheorien, mit denen die unterschiedlichsten Unruhen und Aufstände erklärt wurden. Ein zentrales, immer wieder berufenes Phantom war ein Comité directeur, das vermeintlich alle möglichen Unruhen steuerte – von spanischen Pronunciamentos bis zum polnischen Aufstand von 1830 (S. 300, 305, 388, 392, 405, 422f. und andere Stellen).

Das Verdienst der Monographie liegt in dem allgemeinen Überblick über die Polizei-Regime in den europäischen Ländern, ohne dass prinzipiell Neues zum Thema gesagt würde. (Dies betrifft jedenfalls die Staaten Mittel- und Osteuropas, in denen sich der Rezensent besser auskennt). Die Darstellung ist eingebettet in eine Vielzahl von Anekdoten, Affären, Klatsch und Schilderungen aus den herrschenden Kreisen sowie von politischen Ereignissen, die sich in jedem Handbuch über diese Periode finden lassen. Dies und die Redundanz der immer gleichen Berichtstypen von Spitzeln, ihrer Phrasendrescherei, ihrer übertriebenen oder einfach erfundenen Berichte ermüden. „Bewundernswert“ geschrieben, wie das Cover behauptet, ist das Buch sicher nicht. Es fehlte offenbar ein Lektor, dessen Aufgabe drastische Kürzungen gewesen wären. Dass Adam Zamoyski „leidenschaftlich“ (gegen Zensur und Polizeiterror) argumentiert, wie es ebenfalls lobend im Cover heißt, trifft zu. Ob es der historischen Analyse dient, ist eine andere Frage. Der an sich verdienstvolle Überblick über die Polizei- und Kontrollsysteme in Europa neigt dazu, die dann doch beträchtlichen Unterschiede zwischen den Ländern zu nivellieren, nur weil der paranoide antirevolutionäre Diskurs ein europaweiter war. Aber er hatte doch sehr unterschiedliche Wirkungen und praktische Folgen in den einzelnen Ländern und auf die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten. Es wird ein düsteres Bild der Restaurationszeit entworfen. Dies entsprach bekanntlich der Sicht der Liberalen, frühen Sozialisten und Nationalisten. Die Polizei- und Kontrollpraktiken waren schließlich auch eine späte Reaktion auf einen realen „terreur“ und setzten nur fort, was im napoleonischen Frankreich und den besetzten Gebieten praktiziert worden war. Angesichts der Polarisierungen zwischen „unten und oben“ und ebenso zwischen den nationalen und sozialen Bewegungen waren die Ängste der Eliten um den Erhalt der mehr oder minder erzwungenen Privilegien und staatlichen Ordnungen nicht ganz unbegründet.

Ziemlich unterbelichtet bleibt der Aspekt, ob und in welchem Maße Polizei und polizeiliche Kontrollen den modernen Staat konstituierten, wie der Untertitel der amerikanischen Ausgabe suggeriert. Wenig systematisch wird der Aufbau der Polizei in einzelnen Ländern und Phasen geschildert (S. 32ff., 136ff., 182ff, 223ff., 351.) Der Darstellung lässt sich nur entnehmen, dass die Polizei, wo sie denn existierte, die schmalen Schichten des (entstehenden) Bürgertums, das Militär (vor allem wohl in Frankreich) und aktivistische Gruppen bespitzelte. Im Konfliktfall musste gegenüber Tumulten, Volksbewegungen und Aufständen aber doch immer aufs Militär (oder lokale Gegenmobilisierung wie in England) zurückgegriffen werden. Zamoyski ist zu sehr auf die Hysterie, auf Affären, Klatsch und politischem Tratsch der herrschenden Kreise fixiert wie z. B. Metternichs, des „Polizeiministers Europas“, der alles überwachen wollte und dem angeblich nichts entging (S. 193). Diese Ausführungen sagen zwar etwas über die Kommunikationsformen und „herrschende“ Sitten aus, aber wenig über die Eigenart der politischen und polizeilichen Regime. Dabei wäre interessanter gewesen, sich genauer und vor allem systematischer auf das „Handwerk“ von Polizei und ihren Spitzeln und die Reichweite ihres Wissens einzulassen. Dass sie letztendlich Tumulte, Aufstände und Revolutionen nicht vorhersagen und Krisen nicht eigentlich definieren konnten, deutet auf Grenzen hin, welche die „Paranoia“ der Eliten vielleicht nur noch intensiviert haben mögen.

Immerhin akzentuiert die Darstellung noch einmal die dunklen Aspekte, die bei dem Lob auf die vergleichsweise lange Friedensperiode manchmal unterbelichtet bleiben.

Anmerkung:
1 Adam Zamoyski, Phantom Terror. The Threat of Revolution and the Repression of Liberty 1789–148, London 2014; ders., Phantom Terror. Political Paranoia and the Creation of the Modern State, New York 2015.

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