Kulturen und Geschichten des Vergessens

: Formen des Vergessens. . Göttingen 2016 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-1856-4 224 S., 16 Abb. € 14,90

: In Praise of Forgetting. Historical Memory and Its Ironies. London 2016 : Yale University Press, ISBN 978-0-300-18279-8 X, 145 S., 13 Abb. $ 25.00; £ 14.99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jarula M.I. Wegner, Institut für England- und Amerikastudien, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Der „memory boom“, welcher auch das gesteigerte Interesse an der Erforschung kulturellen Erinnerns seit den 1980er-Jahren bezeichnet, wendet sich seit einiger Zeit seiner vermeintlichen Kehrseite zu: Es erscheinen nun diverse Veröffentlichungen zum Thema des Vergessens. Zwar gab es schon früher einzelne Publikationen, die sich diesem Aspekt des Gedächtnisses widmeten1, doch seit der Jahrtausendwende mehren sich die Tagungen, Aufsätze und Bücher zu diesem Forschungsfeld.2 Im Jahr 2016 sind zwei Monographien zum kulturellen Vergessen erschienen, die besondere Aufmerksamkeit gefunden haben. Eine verfasste der US-amerikanische Journalist David Rieff, eine weitere kürzlich die deutsche Gedächtnisforscherin Aleida Assmann.

Die Publikation von „In Praise of Forgetting. Historical Memory and Its Ironies“ im Mai 2016 erregte in den USA und darüber hinaus schnell öffentliches Aufsehen. Rieff argumentiert darin zum einen gegen die empirische Annahme, dass jene, welche die Vergangenheit nicht erinnerten, verdammt seien, diese zu wiederholen. Zum anderen wendet er sich gegen die damit oft verbundene moralische Vorstellung eines Erinnerungs-Imperativs. Während er behauptet, die empirische Annahme sei unhaltbar, zeigt er etwas Sympathie für die moralische Annahme. Doch auch im Kontrast zum moralischen Imperativ, argumentiert Rieff, gebe es Situationen, in denen das Vergessen nicht nur legitim, sondern geradezu angebracht sei. Dies gelte besonders für die Krisen der Geschichte und der Gegenwart in den Balkanstaaten, in Nordirland und im Mittleren Osten. Rieff berichtete als unabhängiger Autor lange über blutige Konflikte in Afrika, auf dem Balkan und in Zentralasien. Diese journalistische Erfahrung bringt er in den Text mit vielen Beispielen und Vergleichen ein. Er hält sich jedoch nicht mit detaillierten, tiefgehenden Untersuchungen auf, sondern führt die konfliktreichen Fälle lediglich ein, um seine Argumentation voranzutreiben.

Zur theoretischen Fundierung bezieht sich Rieff auf den Soziologen Maurice Halbwachs (1877–1945), der als einer der Vordenker des kollektiven Gedächtnisses gilt, und auf Pierre Nora, der in seinen Arbeiten zum französischen Nationalgedächtnis die Theorie Halbwachs’ aufgriff, weiterentwickelte und ihr seit den 1980er-Jahren zu neuerlicher Aufmerksamkeit verhalf. Allerdings gelingt es Rieff nicht, die Unterschiede zwischen den theoretischen Ansätzen von Halbwachs und Nora zu überbrücken. So argumentiert er (mit Halbwachs), dass der Bezug auf das kollektive Gedächtnis nach einer Phase von drei bis vier Generationen nur mehr metaphorisch sein könne (S. 106). Rieff untersucht jedoch nicht familiäre, religiöse oder ökonomische Praktiken, sondern (mit Nora) staatliche oder quasistaatliche öffentliche Gedenkzeremonien (S. 128). Das sind jedoch zwei unterschiedliche Formen der Erinnerung. Rieff basiert seine theoretischen Annahmen auf ein (außerinstitutionelles) kommunikatives Gedächtnis, untersucht freilich Beispiele eines (institutionellen) politischen Gedächtnisses.3 Deshalb vertritt er wohl auch die Annahme, dass öffentliches Gedenken immer politisch sei (S. 128) und dass kollektives historisches Gedenken zum einen der Mythenbildung und zum anderen der politischen Propaganda gleiche (S. 22). Diese Hypothesen gründen jedoch nicht in generellen Erkenntnissen zum kollektiven Gedächtnis, sondern in Rieffs spezifischen Beispielen, weshalb seine Verallgemeinerungen irreführend sind.

Der Zwiespalt zwischen Halbwachs’ und Noras Theoriemodellen wird noch deutlicher, wenn von den Medien der kollektiven Erinnerung die Rede ist (S. 74). Die Monographie nennt zum einen Familiengeschichten und zum anderen den Staat, Schulen, öffentliche Gedenkveranstaltungen und Vereine, übersieht jedoch vollständig die Rolle von Massen- und Kommunikationsmedien – wie Bücher, Filme, das Internet usw. Es wird deutlich, dass Rieffs Verständnis vom kollektiven Gedächtnis auf dem Forschungsstand der 1980er-Jahre aufbaut, dass ihm die aktuellen Erkenntnisse und Kategorien der Erinnerungsforschung jedoch fehlen. So hat auch das Insistieren, dass es sich beim Begriff der kollektiven Erinnerung um eine Metapher handle, da sich nicht Kollektive erinnerten, sondern nur Individuen (S. 74, 98), den Effekt, dass alte Debatten hervorgeholt werden, aber nicht auf Fragen eingegangen wird, welche die Gedächtnisforschung im 21. Jahrhundert bewegen.

Im Umschlagtext heißt es, Rieff leiste einen Beitrag zu Debatten der Moralphilosophie. So verwundert es nicht, dass er sich am intensivsten mit Avishai Margalits „The Ethics of Memory“ auseinandersetzt und sich davon abgrenzt (S. 40ff.).4 Entgegen Margalits Position, dass Vergebung ein ethisch notwendiger Umgang mit erinnertem Unrecht sein könne, behauptet Rieff, dies sei zwar eine noble Vorstellung, könne jedoch in manchen Erinnerungskonflikten nicht helfen. In vielen Fällen könne nicht mehr vergeben werden, sondern man müsse direkt die Option des Vergessens wählen (S. 101). Dies sei möglich, so Rieff, da Margalit fälschlich annehme, man könne nicht willentlich vergessen. Zwar liege Margalit damit richtig, wenn er sich auf einzelne Personen beziehe, nicht jedoch, wenn er auf kollektive Erinnerung verweise. Das kollektive Gedächtnis sei ein soziales Konstrukt, und deshalb sei es nicht weniger unnatürlich, unmoralisch oder unmöglich, eine sozial konstruierte Gemeinschaft des Vergessens zu postulieren (S. 99).

Rieff überzeugt mit dem Argument, dass ein strukturelles Vergessen als Kulturleistung möglich ist. Problematisch wird es jedoch, wenn in seinen anekdotischen Beispielen letztendlich immer Individuen zum Vergessen aufgefordert werden – die, wie auch Margalit argumentiert, in manchen Fällen eben nicht vergessen können (S. 102).5 Im Beispiel des spanischen „Pakts des Vergessens“ nach dem Ende der Franco-Diktatur wiederum handelt es sich um ein Edikt, welches später gebrochen wurde (S. 122ff.) und folglich nicht einfach das Vergessen, sondern eine andere Handhabung des Erinnerns festlegte. Hierbei wird deutlich, dass Rieffs Gegenüberstellung von Erinnern und Vergessen zu pauschal ist. Notwendig wäre eine differenziertere Analyse der Formen des Erinnerns und Vergessens, welche über die Frage hinausgeht, ob erinnert oder vergessen wird, und sich der Frage widmet, wie das geschieht. Dies kann Rieffs „Lob des Vergessens“ jedoch nicht leisten.

Aleida Assmanns im Oktober 2016 erschienene Monographie „Formen des Vergessens“ untersucht Formen und Funktionen des kulturellen Vergessens in seinen psychologischen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen. Das Buch basiert auf einer Vorlesung, die Assmann 2014 zum Anlass ihrer Auszeichnung mit dem A.H.-Heineken-Preis für Geschichte der Königlichen Niederländischen Akademie der Wissenschaften und 2015 am Forschungszentrum Historische Geisteswissenschaften in Frankfurt am Main hielt. Sie erweitert und verfeinert ihr früheres Modell sowohl im Bereich der theoretischen Überlegungen als auch im Bereich der Anwendungsbeispiele. Das Buch bietet eine theoretische Einführung und sieben ausführliche Fallstudien. Im Theorieteil werden sieben unterschiedliche Formen und Funktionen des Vergessens „idealtypisch“ (S. 222) vorgestellt. Die sieben Fallbeispiele liefern eine „kleine Ethnographie des Vergessens“ (S. 8). Sie führen die zuvor dargestellten Typen jedoch nicht sorgfältig getrennt aus, da „in jedem Einzelfall mehrere Formen des Vergessens ineinandergreifen“ (S. 222).

Als eine der bedeutendsten Expertinnen der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung hat Aleida Assmann sich weit über den deutschen Sprachraum hinaus einen Namen gemacht. Deutsche Bestseller wie „Erinnerungsräume“6 und „Der lange Schatten der Vergangenheit“7 wurden in mehrere Sprachen übersetzt und sind zu internationalen Standardwerken avanciert. Mit „Formen des Vergessens“ hat sie nun auch den „Antipode[n] und Widersacher des Erinnerns“ (S. 12), das Vergessen, in Angriff genommen. Die Tatsache, dass Assmann in der Untersuchung des kulturellen Vergessens auf Überlegungen und Theorien ihrer Arbeiten zum kulturellen Erinnern zurückgreift, erweist sich dabei nicht als Nachteil, sondern untermauert vielmehr ihren Grundgedanken, dass „Erinnern und Vergessen [unlösbar] ineinander greifen“ (S. 13). Mit anderen Worten, Erinnern und Vergessen sind keine binären Gegensätze, wie Rieffs „In Praise of Forgetting“ das suggeriert.

Einleitend folgt Assmann der Differenzierung Augustins, der im zehnten Buch seiner „Bekenntnisse“ bereits zwischen einem partiellen und einem totalen Vergessen unterschied (S. 18). Während dem erinnernden Subjekt im ersten Fall noch bewusst ist, dass etwas vergessen wurde, fehlt in letzterem Fall auch davon jede Spur. Diese Einsicht stellt die (kulturelle) Vergessensforschung vor eine schwierige Aufgabe, denn wie soll etwas erforscht werden, das bereits vollständig vergessen wurde? Folglich ist das kulturelle Vergessen in den historischen Übergangsphasen zu beleuchten. Assmann schreibt, „[m]an kann beobachten, wie etwas gerade im Vergessen versinkt und wie es aus dem Vergessen wieder zurückkehrt“ (S. 26f.). In ihren Fallbeispielen bespricht sie unter anderem das Dr.-Karl-Lueger-Denkmal in Wien, das Verschwinden Lenins als Ikone in der ehemaligen DDR und in Russland, die Zerstörung der historischen Stadt Palmyra durch den „Islamischen Staat“, den Kampf um Anerkennung der Genozide an den Armeniern sowie an den Herero und Nama im heutigen Namibia, das Erinnern an die Nakba (Vertreibung von Palästinensern) in Israel, eine unterlassene Ehrung des Romanisten Hans Robert Jauß und das kürzlich beschlossene „Recht auf Vergessen“ im Internet. Ein geographisch und thematisch derart weit gefasstes Feld lässt sich nur exemplarisch analysieren. Das zeigt sich vereinzelt an etwas eigenwilligen Quellennachweisen. Die Auswahl gibt der Monographie jedoch einen hohen Aktualitätswert. Die Leserin oder der Leser erhält einen Überblick zur Erforschung von Prozessen kulturellen Vergessens in vielen unterschiedlichen Fächern, wie zum Beispiel Architektur, bildende Kunst und Kunstgeschichte, Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft, postkoloniale Studien, Medienwissenschaft, Kultur- und Literaturwissenschaft.

Hervorzuheben unter den interessanten, sachlich und klar beschriebenen Fallbeispielen sind die Besprechung der damnatio memoriae, mit welcher Jauß (1921–1997) beim Jubiläum zum 50-jährigen Bestehen der Universität Konstanz (2016) belegt wurde, und die gegenwärtige Diskussion zur sogenannten „Post-Knappheits-Kultur“ (S. 213), welche in Anbetracht der rasant wachsenden Speicherkapazitäten neuer Medien und Vernetzungsmöglichkeiten im Internet entbrannt ist. Letzteres wird laut Assmann von den einen als Bedrohung (Hans Ulrich Gumbrecht), von anderen wiederum als Potential (Andrew Hoskins) wahrgenommen (S. 214). Assmann selbst distanziert sich von beiden Tendenzen. Sie verweist zum einen darauf, dass es außerhalb des scheinbar zeitlosen Internets noch ein biologisches und materielles Leben gibt, das jeweils eigenen Verfallszeiten unterliegt (ebd.). Zum anderen betont sie, dass zwischen den Begriffen Medien und Gedächtnis „grundsätzliche Unterscheidungen angebracht [sind]“ (S. 215). Deshalb schlägt sie eine Differenzierung zwischen Speichern und Erinnern vor. Ersteres „kann an technische Maschinen abgegeben werden“, letzteres „dagegen können nur Menschen“ (ebd.). Damit bleibt die grundlegende Asymmetrie vorerst bestehen, auf welche Assmann anfangs verweist: „Nicht Erinnern, sondern Vergessen ist der Grundmodus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens.“ (S. 30)

Es sind gerade solche Begriffsbildungen, wie die Differenzierung zwischen Speichern und Erinnern, welche den Wert des Buches ausmachen. Wie bereits in vorangegangenen Schriften gelingt es Assmann, klare Unterscheidungen vorzunehmen. Besonders im theoretischen Abschnitt zu den sieben Formen des Vergessens und den zugehörigen Grafiken (S. 20, 68) kommt dies zum Ausdruck. Das begriffliche Werkzeug findet sich aber auch im Abschnitt der Fallbeispiele – etwa die Gruppierung von defensivem, symptomatischem und komplizitärem Schweigen (S. 57), von negierendem Vergessen, affirmativem und historischem Erinnern (S. 78), von Vernachlässigung als Zerstörung und Vernachlässigung als Konservierung (S. 124) oder der Idee von verschränkter Erinnerung (S. 172). Letztere stellt ein Mittel der Verständigung und der Annäherung dar, welches auch einen Ausweg aus den Konflikten andeutet, über welche Rieff schreibt. Denn ein einseitiges Vergessen „erhält das Unrecht aufrecht und stabilisiert das Trauma der Opfer“ (S. 173). Verschränkte Erinnerung jedoch wäre „nicht auf eine Auswechselung des Gedächtnisses, sondern auf dessen Erweiterung ausgerichtet“ (ebd.).

Teilweise werden Bezeichnungen oder Gegenüberstellungen nicht weiter ausgeführt oder konzeptualisiert – etwa bei so grundsätzlichen Begriffen wie der „Ökonomie des Gedächtnisses“ (S. 44) oder bei assoziationsreichen Aneinanderreihungen wie „Aufweichen, Verdünnen, Entmonumentalisieren und Entschärfen“ (S. 80). Eine in jeder Hinsicht stringente Darstellung hat Aleida Assmann mit ihrem essayistischen Band jedoch auch nicht beabsichtigt. Insgesamt bietet „Formen des Vergessens“ einen erkenntnisreichen Überblick zum Feld des kulturellen Vergessens und gibt Interessierten zahlreiche Begriffe an die Hand, mit denen sie eigenständig weiterlesen, analysieren und reflektieren können. Im Vergleich mit David Rieffs „In Praise of Forgetting“ ist dies das aktuellere, ergiebigere Buch.

Anmerkungen:
1 Siehe zum Beispiel Yosef H. Yerushalmi, Usages de l’oubli, au colloque de Royaumont, Paris 1988; Gary Smith / Hinderk M. Emrich (Hrsg.), Vom Nutzen des Vergessens, Berlin 1996; Harald Weinrich, Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens, München 1997.
2 Besonders zu nennen sind hier Paul Ricœur, Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern – Vergessen – Verzeihen, Göttingen 1998; ders., La mémoire, l’histoire, l’oubli, Paris 2000; Daniel L. Schacter, The Seven Sins of Memory. How the Mind Forgets and Remembers, Boston 2001; Paul Connerton, How Modernity Forgets, Cambridge 2009.
3 Für die begriffliche Differenzierung zwischen kommunikativem und politischem Gedächtnis siehe Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 36.
4 Avishai Margalit, Ethik der Erinnerung, Frankfurt am Main, 2000; siehe auch ders., The Ethics of Memory, Cambridge 2002.
5 Mit dem Problem, in Bezug auf kollektive Erinnerungen über abstrakte soziale Strukturen zu schreiben und individuelle Subjekte zu negieren, in der Beweisführung jedoch auf Individuen zurückgreifen zu müssen, hatte schon Maurice Halbwachs zu kämpfen. Siehe ders., Individual Consciousness and Collective Mind, in: American Journal of Sociology 44 (1939), S. 812–822.
6 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandel des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.
7 Dies., Der lange Schatten.