C. Aubry: Schule zwischen Politik und Ökonomie

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Titel
Schule zwischen Politik und Ökonomie. Finanzhaushalt und Mitspracherecht in Winterthur, 1789–1869


Autor(en)
Aubry, Carla
Erschienen
Zürich 2015: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
328 S.
Preis
€ 43,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Gabriela Wüthrich, Department of Economics, University of Zurich

Politische Debatten über Bildungsfinanzierung sind angesichts angespannter Staatsfinanzen ein hochaktuelles Thema, sowohl in der Schweiz als auch im europäischen Kontext. Interessanterweise haben sich bislang aber weder die Erziehungs- noch die Geschichtswissenschaft allzu intensiv damit auseinander gesetzt. Vielmehr haben sie den Fokus ihrer bildungspolitischen Untersuchungen zumeist auf Lehrinhalte und -methoden gelegt. Carla Aubry beschäftigt sich in ihrer Dissertation also mit einem noch wenig bearbeiteten Forschungsfeld, das mehr Aufmerksamkeit verdient hätte.

„In schulgeschichtlicher Tradition ging man meist vom pädagogischen Soll aus und vernachlässigte das wirtschaftlich-soziale Haben“, meint Aubry denn auch zu Beginn ihres Literaturüberblicks (S. 18). Ihre Dissertation ordnet sie entsprechend in eine breite Palette von Themen der Bildungsökonomie und -finanzierung sowie der Bildungs- und Finanzgeschichte ein. In diesen Bereichen hat die US-Forschung bereits seit den 1980er-Jahren einige Grundlagen erarbeitet. Im deutschsprachigen Raum sind in den vergangenen zehn Jahren aber ebenfalls einige Untersuchungen erschienen.1 Schule und Bildung als Ausdruck und zum Zweck der Staatenbildung und der Entstehung von Öffentlichkeit haben unter anderem Peter H. Lindert und Walter W. Powell thematisiert.2 Indem sie Entscheidungsprozesse ins Zentrum der Analysen stellt, reiht sich Carla Aubry in diese Tradition ein.

Für die Schweiz hat Ingrid Brühwiler im Zusammenhang mit der sogenannten Stapfer-Enquête die Finanzierung von Schulen in verschiedenen Bezirken und Gemeinden um 1800 untersucht.3 „Die Fülle an Lokalstudien zur Geschichte des Kantons Zürich und der Stadt Winterthur“ (S. 25) ermöglicht Aubry darüber hinaus die Einordnung ihrer Studie in einen lokalgeschichtlichen Kontext. Sie versucht auch, ökonomische Konzepte wie den „Spillover effect“ heranzuziehen, der auf sogenannte positive Externalitäten der Bildung einzelner auf die Gesamtgesellschaft verweist. In diesem Zusammenhang wäre auch der Charakter von Bildung als öffentliches Gut zu nennen gewesen, der in der ökonomischen Forschung zumeist betont wird. Unter dem Stichwort „Humankapital“ beschäftigt sich seit den 1960er-Jahren ein ganzer Zweig der ökonomischen Forschung mit dem Zusammenhang zwischen Bildung, den dafür eingesetzten Mitteln und wirtschaftlichem Erfolg des Einzelnen bzw. ganzer Unternehmen und Gesellschaften.4 Um den konkreten ökonomischen Nutzen von Bildung streiten sich die Ökonomen seither, und auch Aubry will hierzu keine abschließende Antwort liefern. Sie weist aber auf das in den Debatten regelmäßig vorgebrachte Argument von Bildung als Voraussetzung von ökonomischem Erfolg für den Einzelnen und die Stadt hin (S. 19).

Der betrachtete Zeitraum erstreckt sich von 1789, als die Stadt Winterthur die Abschaffung der Schulgelder für die Bürgerkinder beschloss, bis zur staatlich angeordneten Aufhebung der Schulgelder im Kanton Zürich im Jahr 1869. Aubry teilt diese 80 Jahre in zwei Perioden ein, davon beschäftigt sich die erste (1789 bis 1830) mit der Schulfinanzierung in Winterthur vor, die zweite (1831 bis 1869) mit den veränderten politischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Bedingungen nach dem liberalen Umbruch im Kanton Zürich. Beide Teile gliedern sich in mehrere Unterkapitel, die jeweils mit einem kurzen Resümee schließen.

Unter dem Titel „Alte Ordnung im Wandel“ beleuchtet Aubry im ersten Teil das Geschehen zumeist chronologisch und konzentriert sich in erster Linie auf die verschiedenen Akteure im Bildungswesen. Sie stellt dabei die Stadtbürger den nach 1800 vermehrt sich niederlassenden sogenannten „Ansassen“ gegenüber und konzentriert sich auf die finanzielle Ausgestaltung der nach Art des Bürgerrechts verschiedenen Schulformen, ohne die sozio-ökonomischen Unterschiede und die politischen Einflüsse außer Acht zu lassen.

Im zweiten, ausführlicheren Teil kommt mit dem neuen kantonalen Staatswesen ein weiterer Akteur hinzu, der die Ausgestaltung des Schulwesens nicht nur inhaltlich, sondern auch finanziell stark verändert. Entsprechend verstärkt sich die Komplexität der Wirkungsrichtungen, die Carla Aubry aber mit diversen Querverweisen auf die entsprechenden Kapitel hilfreich nachzeichnet. Die Winterthurer versuchen zwar zunächst, sich mit dem Verzicht auf finanzielle Unterstützung des Kantons der entsprechenden Regulierung zu entziehen und ihre Selbstständigkeit zu wahren. Mit dem zunehmenden Ausbau des kantonalen Schulwesens ab den 1840er-Jahren gelingt ihnen dies jedoch immer weniger, so dass die Debatten um die Winterthurer Stadtschulen auch ein anschauliches Beispiel für die Staatenbildung im 19. Jahrhundert liefern. Mit Blick auf die Abgrenzungskämpfe gegen die Einflussnahme des Staates, das heißt des Kantons Zürich, ab den 1830er-Jahren lassen sich so die Konfliktlinien des entstehenden föderalistischen Staatsgebildes anhand des Bildungswesens exemplarisch verfolgen.

Ein historisch interessanter Nebenaspekt ist die Betrachtung der lokalen Machtverhältnisse, die sich im betrachteten Zeitraum unter dem Einfluss der Französischen Revolution markant verändern und den Weg hin zum modernen Bundesstaat nachvollziehen. Sehr spannend nachgezeichnet ist die Überzeugung der Winterthurer, dass die Ausbildung fähiger Bürger als Mittel der politischen und ökonomischen Machterhaltung dient. Gleichzeitig zeigt Carla Aubry anhand der unzähligen und oft langwierigen Debatten unter den Winterthurern die Entwicklung eines demokratischen Bürgerbewusstseins auf.

Wünschenswert gewesen wären generell mehr konkrete quantitative Vergleiche – sei dies mit der Stadt Zürich oder mit den umliegenden Landgemeinden. Gegenüber beiden versuchte sich Winterthur während des untersuchten Zeitraums abzugrenzen, wie Aubry immer wieder überzeugend anhand der Verhandlungen in den verschiedenen zuständigen Gremien darzustellen vermag. Vergleiche innerhalb der Stadt sind zwar teilweise vorhanden, hätten aber konsequenter durchgeführt werden können: Wie viel die Lehrer im Vergleich mit anderen Stadtbeamten verdienten, oder welchen Anteil die Bildungsausgaben an den gesamten Auslagen der Stadt ausgemacht haben (S. 209), sind Fragen, die angedeutet, aber nicht durchgängig beantwortet werden. Aus wirtschaftshistorischer Sicht etwas problematisch ist zudem die Verwendung nominaler, das heißt nicht um die Preisentwicklung bereinigter Geldwerte über einen Zeitraum von 80 Jahren. Allerdings sind so weit zurückreichende, lokale Preisreihen nach wie vor nur schwer erhältlich.

Carla Aubry ist sich bewusst, dass die wohlhabende, wirtschaftlich aufstrebende, aber politisch wenig einflussreiche Stadt Winterthur als Sonderfall zu betrachten ist. So ist das Stadtschulwesen im betrachteten Zeitraum dem Einfluss der Kirche vollständig entzogen, was für die Landschulen selbst nach 1830 kaum denkbar gewesen wäre. Carla Aubry stellt ihre Aussagen stets in den Winterthurer Kontext, ohne diesen zu verallgemeinern. Die Dissertation darf und soll so auch als Ausgangspunkt für weitere Forschungsprojekte zum Thema dienen.

Hinter dem eher unspektakulären Titel der Dissertation verbirgt sich eine umfassende und informierte Untersuchung, mit Fragestellungen, die nach wie vor von großer Aktualität sind. Aubry liefert eine gehaltvolle Analyse der vorhandenen Quellenbestände. Dabei berücksichtigt sie auch solche, die auf den ersten Blick wenig mit der Schule zu tun gehabt mögen (z.B. die Steuerlisten von Winterthur). Die große Stärke der Darstellung ist der Vergleich der normativen Debatten mit den faktisch umgesetzten Reformen – eine letztlich entscheidende Verbindung, der in der Forschung bisher zu wenig Beachtung geschenkt worden ist. „Pädagogische Reformen [lassen sich] nicht einfach vom Ökonomischen trennen“, fasst Carla Aubry ihr Kernargument treffend zusammen (S.197). Hieran ist für zukünftige Untersuchungen anzuschließen.

Anmerkungen:
1 David Mitch, 2004. School Finance, in: International Handbook on the Economics of Education, Cheltenham 2004. Nancy Beadie, Education and the Creation of Capital in the Early American Republic, Cambrige 2010. Thomas Adam, Der unverzichtbare Beitrag von Stiftungen zur Finanzierung des höheren Schulwesens in Preußen im 19. Jahrhundert, in: Paedagogica Historica 48 (2012) 3, S. 451–468. Joachim Bahlcke / Thomas Winkelbauer (Hrsg.), Schulstiftungen und Studienfinanzierung. Bildungsmäzenatentum in den böhmischen, österreichischen und ungarischen Ländern, 1500–1800, Wien 2011. Jonas Flöter (Hrsg.), Bildungsmäzentanentum. Privates Handeln – Bürgersinn – kulturelle Kompetenz seit der frühen Neuzeit, Köln 2007. Jonas Flöter, Eliten-Bildung in Sachsen und Preußen. Die Fürsten- und Landesschulen Grimma, Meißen, Joachimsthal und Pforta (1868–1933), Köln 2009. Sandra Salomo, Die Ökonomie des knappen Geldes. Studentische Schulden in Jena 1770–1830, Köln 2016. Klemens Ketelhut, Berthold Otto (1859–1933) als pädagogischer Unternehmer. Eine Fallstudie zur deutschen Reformpädagogik, Köln 2016.
2 Peter H. Lindert, Growing Public. Social Spending and Economic Growth since the Eighteenth Century, Cambridge 2004. Walter W. Powell / Richard Steinberg, The Non-Profit Sector. A Research Handbook Second Edition, New Haven 2006; Thomas Adam / Manuel Frey / Rupert Graf Strachwitz (Hrsg.), Stiftungen seit 1800. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 2009.
3 Ingrid Brühwiler, Finanzierung des Bildungswesens in der Helvetischen Republik. Vielfalt – Entwicklungen – Herausforderungen, Heilbrunn 2014. Siehe dazu die Rezension auf H-Soz-Kult von Thomas Adam, 02.03.2015, http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-22776 (19.12.2016).
4 Gary S. Becker, Human Capital, New York, 1964. Jacob Mincer, Investment in human capital and personal income distribution, in: Journal of Political Economy 66 (1958), S.281-302. Theodore W. Schultz, The Economic Value of Education, New York 1963.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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