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Titel
Der Wasserbau-Staat. Die Transformation des Nils und das moderne Ägypten 1882–1971


Autor(en)
Blocher, Ewald
Reihe
Geschichte der Technischen Kultur 1
Erschienen
Paderborn 2016: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Haas, Institut für Umweltsozialwissenschaften und Geographie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Ägypten und der Nil: Über Jahrtausende lebten die Menschen mit und vom scheinbar ewigen Kreislauf regelmäßiger und fruchtbarer Nilfluten. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten mehrere Faktoren zu einer Umbesinnung: Der Mensch fühlte sich in dieser Zeit zunehmend in der Lage, Gesetzmäßigkeiten der Natur zu erkennen und ihre Schranken zu seinen Gunsten zu überwinden. Die wasserbaulichen Maßnahmen am Nil wurden von der Geschichtsforschung zumeist als Folge der politischen Rahmenbedingungen – vor allem der Kolonialgeschichte und der ägyptischen Emanzipation – gedeutet. Ewald Blocher jedoch verlässt diesen Blickwinkel, ja stellt ihn auf den Kopf: Plausibel legt er dar, weshalb der Wasserbau in Ägypten den Staat schuf – den Wasserbau-Staat.

In vier großen Abschnitten interpretiert er die Geschichte des Wasserbaus am Nil als ein Modernisieren, Entwerfen, Kontrollieren und Konfigurieren des Stroms und bezieht sich auf den Zeitraum von der britischen Besetzung des Landes im Jahr 1882 bis zur Eröffnung des Assuan-Hochdamms 1971. Dabei geht es ihm aber gerade nicht um eine Beschreibung ingenieurswissenschaftlicher Fortschritte im Wasserbau am Beispiel des Nils, sondern um die Synthese aus Wasserbau und Politik, die erst das moderne Ägypten erschaffen habe. In der Einleitung spannt er hierfür bereits den Rahmen auf, indem er der britischen wie auch ägyptischen Gesellschaft jener Zeit einen festen Glauben an eine in Zahlen und Fakten objektiv erfassbare und beschreibbare Welt konstatiert. Wissenschaft als zentrale Deutungsmacht war ein politisches Subjekt, das sich in einer regelrechten Mathematisierung des Nils Bahn brach. Blocher belegt mit seiner Arbeit eindrucksvoll, wie inter- bzw. transdisziplinäre Fragestellungen die „klassische“ Geschichtsforschung bereichern können. Erst in der Verbindung aus Politik- und Sozialgeschichte mit Technikgeschichte, Ingenieurswissenschaft und verschiedenen Spielarten der Geographie lässt sich sein Weg beschreiten. Leider verpasst er es, ihn konsequent zu Ende zu gehen und in einen noch größeren Rahmen einzupassen, da er auf die Komponenten Klima- und Umwelt-, aber auch Mentalitätsgeschichte und nicht zuletzt auch Religion vollständig verzichtet.1 Zudem beschränkt sich seine Analyse auf die Perspektiven der britischen respektive ägyptischen Ingenieure und Politiker. Weder thematisiert er die Implikationen für die Bevölkerung – insbesondere aus deren Sicht – noch andere Zugänge, etwa von nicht direkt involvierten Kolonial- bzw. Großmächten oder einer wie auch immer gearteten „Weltöffentlichkeit“. Gab es von dort möglicherweise kritische Töne? Damit verliert sein Ansatz insgesamt deutlich an Strahlkraft, die ihm eigentlich zu wünschen ist.

Zunächst befasst sich der Band mit der Idee, den Nil und damit auch Ägypten zu modernisieren – eine Absicht, die auch die Kolonialmacht Großbritannien zur Stabilisierung der Region seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verfolgte. Entlarvend sind die dabei zutage tretenden Vorstellungen der Briten, die sich offenbar als Heilsbringer verstanden: Nicht nur erlöste man die Fellachen im Zuge des Abolitionismus aus der Sklaverei, sondern in Ägypten sei es auch nur mit britischer Hilfe möglich, die Natur zu kontrollieren. Weshalb ein Land mit der Geschichte Ägyptens nie auch nur den Versuch unternommen habe, den Nil zu kontrollieren, von dem es doch abhänge, konnte in britischen Kreisen nur Kopfschütteln auslösen. Der Strom, an dessen Leistungsfähigkeit man hohe Erwartungen hegte – nicht zuletzt zur Steigerung der Baumwollproduktion –, erschien in Ingenieursdarstellungen um das Jahr 1900 herum als ineffizient-defizitäres Mängelobjekt, das es zu optimieren gelte. Die „Launen“ des Nils müssten von einem Zustand der Sicherheit und der verlässlichen Prognosemöglichkeit abgelöst werden – und hierzu begann eine Epoche der hydrologischen Messungen am Strom. Erst der Blick des Ingenieurs auf das Datenmaterial schien die Wirklichkeit zu offenbaren. Der Nil wurde in ein „Zweck-Mittel-Narrativ eingebunden, das auf der mathematischen Nutzungsgleichung aus Wasserbedarf und -verfügbarkeit fußte“ (S. 70). Am vorläufigen Ende stand die Ökonomisierung Ägyptens sowie physisch die Errichtung des Assuan-Damms (Fertigstellung 1902). Dies bedeutete, so Blocher weiter, eine Neuerschaffung Ägyptens durch die Ingenieure (S. 74).

Nach dem Bau des Assuan-Damms jedoch stellte sich bald heraus, dass Ägypten nicht von den Unsicherheiten unregelmäßiger Nilfluten befreit worden war, sondern immer empfindlicher darauf reagierte. Pläne für einen „neuen Nil“ entstanden. Die hierfür notwendigen Daten sollten helfen, Potenziale zu erkennen, um sie dann zu nutzen. Die Datenakkumulation stand dabei für Sicherheit und Präzision in der planerischen Gestaltung. Dies war nicht nur ein elementarer Bestandteil der Transformation, sondern hatte eine Kettenreaktion von Optimierungsstrategien zur Folge: Immer neue Erwartungen an die Leistungsfähigkeit des Nils wurden formuliert, die Abhängigkeit Ägyptens von immer neuen wasserbaulichen Maßnahmen kontinuierlich vergrößert.

Nach der formellen Unabhängigkeit Ägyptens 1922 wurden dort zunehmend andere Denkweisen der Nilnutzung abseits des britischen Weges denkbar. Im Hintergrund stand damals die Angst vor einer englischen Übermacht im Sudan. Zum deklarierten Ziel Ägyptens wurde es in der Folge, die Besatzer von dort zu vertreiben und eine Einheit des Niltals unter ägyptischer Kontrolle zu erreichen. Blocher zeigt äußerst gründlich die verschiedenen Wege und Ideen der maßgeblichen Akteure auf. Entscheidend blieb dabei die Rolle des Wasserbaus: In den Interessenskonflikten der Akteure lieferten Ingenieure auf beiden Seiten weiter politische Handlungsanleitungen. Sie waren eine entscheidende performative Kraft, weil ihre Expertise als objektiv anerkannt war – nutzten sie doch anerkannte wissenschaftliche Methoden, die vermeintlich neutrale Fakten über ihr Untersuchungsobjekt produzierten.

Diesen Umstand sollten sich nach der ägyptischen Revolution 1952 auch die „Freien Offiziere“ zunutze machen, um ihre Herrschaft auch abseits des militärischen Faktors auf eine stabile Basis zu stellen. Sie maßen der nationalen Modernisierung höchsten Stellenwert bei. Der Nil avancierte hierbei zu einem hydraulischen Erwartungsraum, sein Wasser zum Zentrum aller Modernisierungsbestrebungen. In der Kontrolle der natürlichen Ressourcen sahen die neuen Machthaber, aber auch Experten in der ganzen Welt, die Grundlage zur Weltverbesserung: Die globale Armut könne mittels Social Engineering und großplanerischen Projekten überwunden werden.

Der Bau des Assuan-Hochdamms ab 1960 war in diesem Sinne eine folgerichtige Entscheidung der ägyptischen Regierung, wie im letzten großen Abschnitt des Bandes weiter ausgeführt wird. Denn im Kalten Krieg scheiterten letzte Versuche der Umsetzung einer überregionalen Nutzung und Kontrolle des Nils in Gestalt des computerberechneten Nile Valley Plan oder der Century Storage, einer intelligenten Kopplung der vorhandenen Subsysteme und wasserbaulichen Maßnahmen. Die ägyptische Führung versprach sich letztlich größeren Erfolg mit einem herausragenden Symbol der Modernisierung und technischen Leistungsfähigkeit Ägyptens, und zwar trotz einer deutlich höheren prognostizierten Verdunstungsrate – dem Assuan-Hochdamm. Damit transformierte man das hydrologische System des Nils zur Erfüllung der eigenen Ansprüche: Der Nil wurde konfiguriert, und zwar für eine nationalstaatliche Nutzung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und im Systemwettstreit des Kalten Krieges trat Großbritannien als Akteur zunehmend in den Hintergrund – vor allem die Suezkrise hatte ein politisches Fiasko für die einstige Großmacht und das Ende des britischen Nil-Imperialismus bedeutet. Die USA und die UdSSR traten nun auf den Plan, namentlich in der Frage der Finanzierung des Hochdammprojekts. Ägypten lavierte lange erfolgreich zwischen den beiden Blöcken und entschied sich letztlich für eine sowjetische Finanzierung. In der Folge änderten beide Großmächte ihre Stoßrichtung hin zu einer Klientelpolitik anstelle von Großlösungen für geopolitische Räume. Auch wenn Ewald Blocher diesen Schluss nicht explizit formuliert, der ägyptische Wasserbau beeinflusste somit auch maßgeblich die Weltpolitik während des Kalten Krieges.

In der Summe wurde Ägypten als Wasserbaustaat von einem kolonialen zu einem postkolonialen Planungsstaat mit ausgeprägter infrastruktureller Naturbeherrschung (sic) und territorialisierter Ressourcennutzung, dessen wichtigstes Anliegen die Herstellung von Ressourcensicherheit war und ist. Trotz des Jahrhundertprojekts Assuan-Hochdamm blieb die Wasserknappheit bis heute systemimmanent. Daher ist der Aspekt des Klimawandels in diesem Kontext alles andere als eine Randnotiz, zumal Blocher in seiner Schlussbetrachtung durchaus die Brücke bis in die Gegenwart schlägt.

Der Band beeindruckt mit einer großen Akribie in der Beweisführung, verzettelt sich teilweise jedoch in Detailfragen, insbesondere bei der Einführung von Fachbegriffen aus nicht-historischen Disziplinen (etwa Raum, Landschaft, Perspektivität, Narrativität, Textkonstruktion). Etwas altmodisch wirkt die Bündelung aller Abbildungen in der Buchmitte, was den Lesegenuss ebenso herabsetzt wie die überaus häufige Verwendung von Anführungszeichen oder das Fehlen eines Stichwortverzeichnisses. Nichtsdestoweniger belegt Ewald Blocher anhand der Transformation des Nils überzeugend, welche Kraft die Idee vom Überwinden der Grenzen der Natur auf regionaler, nationalstaatlicher und auch welthistorischer Bühne entwickeln kann.

Anmerkung:
1 Hier sind unter vielen jüngeren Arbeiten zumindest zu nennen: Franz-Josef Brüggemeier, Schranken der Natur. Umwelt, Gesellschaft, Experimente 1750 bis heute, Essen 2014; Oliver Parodi, Technik am Fluss. Philosophische und kulturwissenschaftliche Betrachtungen zum Wasserbau als kulturelle Unternehmung, München 2008.