Ch. Peck u.a. (Hrsg.): Kriminalliteratur und Wissensgeschichte

Cover
Titel
Kriminalliteratur und Wissensgeschichte. Genres – Medien – Techniken


Herausgeber
Peck, Clemens; Sedlmeier, Florian
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
€ 32,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Veronika Thanner, Institut für deutsche Literatur, Philosophische Fakultät II, Humboldt-Universität zu Berlin

Aus verschiedenen Perspektiven ist bereits auf eine signifikante Nähe zwischen Kriminalliteratur und epistemologischen Fragestellungen beziehungsweise Gegenständen verwiesen worden: sei es zum Aufkommen des „Indizienparadigmas“ (Carlo Ginzburg1), der Psychoanalyse (Jacques Lacan2), der Historiographie (Achim Saupe3) oder der Soziologie (Luc Boltanski4). Eine systematisch angelegte Positionsbestimmung von Kriminalliteratur, die einen epistemologischen Ansatz mit Fragen nach der gattungsspezifischen literarischen Form verbindet, nimmt sich nun der von Clemens Peck und Florian Sedlmeier herausgegebene Band „Kriminalliteratur und Wissensgeschichte. Genres – Medien – Techniken“ vor. Die Herausgeber stellen dem Band die Hypothese einer grundsätzlichen Verknüpfung von detektivischer Analysepraktik und literarischer Vorstellungskraft voran. Die Rekonstruktion einer Wechselwirkung von Gattungs- und Wissensgeschichte der Kriminalliteratur entlang der Koordinaten „Genre, Wissen und Gesellschaft“ (S. 8), das zentrale Anliegen des Bandes, knüpft an diese Annahme an. In der Zusammenführung von Wissens- und Erzählordnungen will der Band damit zugleich erzählerische Funktionsweisen, politische Imaginationen und epistemisch-mediale Möglichkeiten der Kriminalliteratur ausloten. Dabei wird eine doppelte Fragestellung zum Ausgangspunkt genommen, die zum einen auf die Ausbildung kriminalliterarischer Genres zielt, zum anderen auf die Formation kriminalistischer, juristischer und biologischer Diskurse und Praktiken sowie deren Inszenierungsweisen in der Literatur. Der Band schließt damit theoretisch und methodisch zum einen an wissenspoetologische Ansätze5, zum anderen an aktuelle Fragen zum poetologischen Zusammenspiel von Gattung und Wissen an.6

Die engere Auswahl der für die Untersuchung relevanten epistemischen Wissensobjekte bestimmen die Herausgeber mit Blick auf die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierende Kriminologie als Kreuzungspunkt juristischer, medizinischer, soziologischer, psychologischer und anthropologischer Wissensordnungen. Solche als Konglomerate des Wissens über Devianz und Verbrechertypologie verstandene Diskurse werden in den verschiedenen Beiträgen nach ihrer medialen Bedingtheit befragt und mit den Publikationskontexten der Kriminalliteratur in Kontext gesetzt.

Bemerkenswert ist der diachrone Anspruch des Bandes, der sich auch in seiner Gliederung widerspiegelt: So werden zum Beispiel moderne Verfahren der Forensik wie die DNA-Analyse als funktionale Wiedergänger erkennungsdienstlicher Maßnahmen der frühen Kriminalistik verstanden. Der erste Teil des Bandes widmet sich Genres und Wissensordnungen im Zeitraum zwischen 1848 und 1914, im zweiten Teil stehen hingegen literarische Texte des 20. Jahrhunderts bis hin zur Gegenwart im Fokus. Ein besonderes Interesse formulieren die Herausgeber an den Verschiebungen und Brüchen der gattungs- und wissensgeschichtlichen Konfigurationen. Die Frage nach spezifischen epistemischen Wissensobjekten der Kriminologie fungiert dabei als Ausgangsbasis, um den Blick für die Ausdifferenzierung, Etablierung und Verlagerung von kriminalliterarischen Genres zu schärfen. Die Untersuchungsbeispiele der insgesamt zehn Beiträge, von denen im Folgenden aus Platzgründen sechs beispielhaft näher betrachtet werden, stammen aus der europäischen und nordamerikanischen Literatur.

Julia Menzels Beitrag zu den Kriminalerzählungen Joducus Temmes, die Mitte des 19. Jahrhunderts in der Familienzeitschrift „Die Gartenlaube“ erschienen, eröffnet das erste Kapitel des Bandes. Dem programmatischen Anspruch der „Gartenlaube“ auf Wissensvermittlung einerseits, auf Unterhaltung andererseits entsprechend, identifiziert die Autorin eine narrative „Evidenz des Anschauens“ (S. 34), die die Leserin aktiv einbezieht, als zentrale Bedingung für Temmes Schreiben. Dabei zeigt die Verfasserin überzeugend die konstitutive Rolle auf, die das Medium des Familienblattes, verstanden als Konvolut unterschiedlicher Themen und Formate, für die dort erschienenen Kriminalerzählungen einnimmt. Textnah kann die Autorin nachvollziehbar machen, wie durch die Herstellung text- und genreübergreifender Bezüge, durch „Hybridisierung von Literatur“ (S. 47) sowie durch die (populär-)wissenschaftliche Kontextualisierung der Erzählungen innerhalb des Mediums „Gartenlaube“ Strategien der Wissensproduktion Anwendung finden und „Wahrheitsfindung zur Entdeckungsreise durch das gesamte Blatt“ wird (S. 50).

Mit der Differenz der Wissensordnungen der Kriminalanthropologie und der erkennungsdienstlichen Praxis um 1900, exemplifiziert anhand der Beispiele Polizeifotografie und Daktyloskopie (Fingerabdruckverfahren), beschäftigt sich der Beitrag von Daniel Messner. Im Falle der Polizeifotografie verortet Messner den Hauptunterschied zwischen sicherheitsbehördlicher und wissenschaftlicher Wissensordnung bei der Interpretation des Materials: Während die Kriminalanthropologie primär auf die Identifizierung ‚typischer Verbrecher’ zielte, sei es das Hauptanliegen der Polizeibehörden gewesen, körperliche Merkmale verurteilter Verbrecher in Registraturen so zu speichern, dass das kriminelle Individuum jederzeit eindeutig auffindbar werde; dies habe die Ausbildung einer eigenen erkennungsdienstlichen Wissenskultur befördert. Bemerkenswert ist an Messners Befund, dass sich die meisten realen erkennungsdienstlichen Praktiken, die ja primär aus Abstraktion und ‚Verformelung’ biometrischer Daten bestanden, für die zeitgenössische popkulturelle und literarische Verhandlung als unattraktiv erwiesen hätten, da sie für Laien weder nachvollziehbar noch ,spektakulär’ genug gewesen seien. Dagegen konnte sich, vermittelt durch die Populärkultur, ein fiktionalisierter Diskurs der Daktyloskopie als Symbol für Täteridentifizierung und kriminologischer Faktizität etablieren, der jedoch keine Entsprechung in der realen Polizeipraktik hatte. Der Fingerabdruck eignete sich zum einen für die visuelle Inszenierung und war auch für den Laien verständlich, zum anderen ließ sich in der literarischen Darstellung ganz einfach das komplexe Prozedere der Abstrahierung und Registrierung ausblenden, die im realen Polizeialltag die Handhabung der Daktyloskopie prägten. Eine genauere Ausführung, welche Rolle in diesem Prozess der selektiven Übersetzung von Expertendiskursen literarischer und journalistischer Vermittlung zukommt, wäre hier indes aufschlussreich gewesen.

Der Beitrag von Florian Sedlmeier, der sich mit der Daktyloskopie als moderner Identifizierungstechnik beschäftigt, schließt insofern gut an die Thematik des vorausgehenden Beitrags an, da hier in stärkerem Maße poetologische Fragen berücksichtigt werden. Anhand von Twains historischem Kriminalroman „Pudd’nhead Wilson“ zeigt der Autor die poetologischen und wissensgeschichtlichen Spannungen literarischer und kriminalistischer Operationen bei der Konstruktion von Ähnlichkeit und „eindeutiger Identifikation“ (S. 102) auf. Gattungsgeschichtliche Implikationen erkennt Sedlmeier dabei etwa in der Aneignung von populären Textgattungen durch die nordamerikanischen Autoren von Kriminalerzählungen, bei Twain wiederum flankiert durch Distinktionsnarrative. Hierdurch kontrastiert Twain einerseits Hochkultur und Detektivliteratur, andererseits wird damit ein Spiel mit literarischen Ähnlichkeiten in Gang gesetzt. Anhand der Darstellung der Technik der Daktyloskopie zeichnet Sedlmeier dann sehr überzeugend die strukturelle Grundspannung von „Pudd’nhead Wilson“ nach, die sich um die Logik eindeutiger Identifikation und Klassifikation von Individuen einerseits, der Destabilisierung von Erzähl-, Wissens-, und Identitätsordnungen andererseits entfaltet.

Sonja Osterwalders Beitrag zum prekären Status des Indizienparadigmas in den Romanen Chandlers und Hammetts eröffnet Teil zwei des Bandes, der sich für wissens- und gattungsgeschichtliche Verschiebungen vom 19. zum 20. Jahrhundert interessiert. Dass in den US-amerikanischen ‚hard-boiled’-Romanen die Kontraste zwischen Gut und Böse, Verbrecher, Oberschicht und Detektiv geschliffen werden, die einst für das Genre konstitutiv waren, beeinflusst aus Sicht der Autorin auch das Moment der Aufklärung: Die „Lesbarkeit der Welt“ (S. 167) stößt hier an ihre Grenzen.

An die hier aufscheinende Frage zweifelhafter kriminalistischer Wissensordnungen schließen zwei weitere Artikel des zweiten Teils an: Der Beitrag von Caspar Battegay widmet sich der Frage, wie die kriminalliterarisch konstitutiven Diskurse der Medizin und Kriminalistik in Dürrenmatts Kriminalroman „Der Verdacht“ vom Ereignis der Shoa affiziert werden. Sein Interesse gilt dabei unter anderem der Erörterung des epistemologischen Status des Verdachts als juristisch ambivalente, unsichere Wissensform unter der prekären Voraussetzung der deutschen Nachkriegsordnung, die durch das funktionale und institutionelle Weiterbestehen von NS-Strukturen „ausgehöhlt“ (S. 175) ist.

Das Verhältnis des Geständnisses in seiner doppelten juristisch-kriminalistisch und literarischen Funktion und der wirkungsästhetischen Bedeutung der Geschworenenrolle untersucht Dustin Breitenwischer anhand von Nabokovs Roman „Lolita“. Der Autor legt hier zum einen überzeugend dar, wie das Geständnis als Dokument systematisch den Status des Erzählten unterläuft (S. 208). Zum anderen zeichnet er einleuchtend Nabokovs Erzählstrategien nach, durch die der Leser gleichsam in den Stand des Geschworenen versetzt wird.

Dem vorliegenden Sammelband kommt das Verdienst zu, ein sehr breites Spektrum von kriminalliterarischen Textsorten in die Analyse einzubeziehen und für eine wissenshistorische wie auch literaturwissenschaftliche Fragestellung zu öffnen. Auch wenn die einzelnen Beiträge als durchweg lesenswerte Fallbeispiele und Close Readings gut funktionieren, kommen indes die übergeordneten systematischen Fragen nach dem Genre und dem Status von Wissen in der Literatur insgesamt etwas zu kurz, so dass der Band in der Zusammenschau leicht disparat wirkt. Obwohl nicht immer die Zusammenführung von Fragen nach der ästhetischen Form und nach „epistemisch-medialen Möglichkeitsbedingungen“ (S. 15) konsequent durchgehalten wird, erschließt der Sammelband ein sehr ergiebiges literarisches Feld für weiterführende wissenspoetologische und wissenshistorische Fragestellungen.

Anmerkungen:
1 Carlo Ginzburg, Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, in: Ders., Spurensicherung. Über verborgenen Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 61–96.
2 Jacques Lacan, Seminar on „The Purloined Letter“, in: Yale French Studies 48 (1971), S. 39–72.
3 Achim Saupe, Der Historiker als Detektiv – Der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009.
4 Luc Boltanski, Rätsel und Komplotte – Kriminalliteratur, Paranoia, moderne Gesellschaft, Frankfurt am Main 2013.
5 Joseph Vogl, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Poetologien des Wissens um 1800, München 1999, S. 7–16.
6 Michael Gamper / Michael Bies (Hrsg.), Gattungswissen. Wissenspoetologie und literarische Form, Göttingen 2013; Werner Michler, Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext, 1750–1950, Göttingen 2015.