A. Schwell u.a. (Hrsg.): New Ethnographies of Football in Europe

Cover
Titel
New Ethnographies of Football in Europe. People, Passions, Politics


Herausgeber
Schwell, Alexandra; Buchowski, Michał; Kowalska, Małgorzata; Szogs, Nina
Reihe
Football Research in an Enlarged Europe
Erschienen
Anzahl Seiten
XXIX, 241 S.
Preis
$ 109.00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Julia Haß, Lateinamerika-Institut, Freie Universität Berlin

Trotz erster wichtiger Arbeiten in den 1980er- und 1990er-Jahren etablierte sich Fußball als kulturanthropologischer Untersuchungsgegenstand in vielen nationalen Forschungskontexten erst in den 2000er-Jahren. Im europäischen Raum bildeten Fankulturen, nationale und soziale Identitäten im Fußball und Hooliganismus lange Zeit thematische Schwerpunkte. Die Autor/innen des Sammelbandes „New Ethnographies of Football in Europe. People, Passions, Politics“ betrachten die Auswirkungen von Fußball auf das Alltagsleben sowie auf Identitätsdynamiken einzelner Akteursgruppen in Europa.

Nach zwei Vorworten, von Geoff Pearson sowie der Herausgeber der Publikationsreihe Football Research in an Enlarged Europe Albrecht Sonntag und David Ranc, einer Einleitung der Herausgeber/innen des Sammelbandes und einem ersten Teil zur Bedeutung des Fußballs im Leben des britischen Sozialanthropologen Max Gluckman von Robert Gordon und Marizanne Grundlingh, folgen die vier Hauptteile, deren Beiträge nachfolgend kurz skizziert werden:

Zu Beginn des zweiten Teils (The Political Field, II), der Fußball als politischen Raum betrachtet, richten Ivan Ðorđević und Bojan Žikić ihren Blick auf ein Fußballspiel im Jahr 2013, das vom serbisch-kroatischen Krieg belastet ist. Der anschließende Aufsatz von Andrew Hodges und Paul Stubbs untersucht politisch geprägte Fan-Initiativen in Zagreb, die gegen neoliberale Prozesse im Fußball Widerstand ausüben. Hani Zubida zeigt, dass sich innerhalb des israelischen Fußballs die polarisierenden politischen, sozialen und ethnisch-religiösen Identitätsdiskurse der israelischen Gesellschaft manifestieren.

Im anschließenden Teil (Agency, III), der sich mit unterschiedlichen Formen von agency im Fußball befasst, diskutiert Małgorzata Z. Kowalska das Engagement und die Einflussnahme politischer und wirtschaftlicher Akteure im Kontext der Männer-EM 2012 in Polen. Stefan Heissenberger untersucht die Organisation europäischer Amateurfußball-Turniere durch homosexuelle Amateurfußballspieler. Und Daniel Regev und Tamar Rapoport erläutern die Integrationsstrategien weiblicher Fußballfans in männlich dominierten Fanräumen in Israel.

Im vierten Teil (Embodiment, IV), der stärker aus medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven geschrieben und Verkörperungen im Fußball gewidmet ist, analysiert Stine Liv Johansen die Bedeutung physischer und medialer Spiel- und Fußballpraktiken für die Identitätsprozesse dänischer Kinder. Viola Hofmann beschreibt den Wandel der kulturellen Bedeutungen des Fußballtrikots: von einer „einfachen“ Textilie in ein identitätsstiftendes und ein Lifestyle-Objekt.

Im letzten Teil (Mobility and Transnationalism, V), untersucht Nina Szogs die Rolle von Fanzugehörigkeiten für die Identitätsprozesse von in Österreich lebenden türkischen Migrant/innen. John McManaus analysiert die Konstruktion transnationaler Fangemeinschaften im Zeitalter mobilitätsfördernder Abkommen wie Schengen, Facebook und „Billigfliegern“. Eine Zusammenfassung der Herausgeber/innen und abschließende Worte des Sportjournalisten und Autors Simon Kuper bilden den Abschluss des Sammelbandes.

Die Publikation stellt die enge Verflechtung von Fußball mit politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Themen dar. Eine Stärke vieler Beiträge bilden die ethnographischen Beschreibungen und Herangehensweisen, wie zunächst anhand des Textes von Ðorđević und Žikić veranschaulicht wird.

Das Spiel zwischen Dinamo Zagreb und Red Star Belgrade am 13. Mai 1990 wird noch heute in der serbischen und der kroatischen Gesellschaft mit dem Ausbruch des Kriegs in Jugoslawien in Verbindung gebracht. Ðorđević und Žikić untersuchen die mit Spannung aufgeladene Beziehung zwischen beiden Ländern anhand des WM-Qualifikationsspiels zwischen der serbischen und der kroatischen Nationalmannschaft im März 2013 in Zagreb. Die Autoren erläutern, wie die Presse im Kontext des Spiels auf nationalistische Metaphern zurückgreift und Spannungen schürt, doch auch ein Teil der Zeitungen bemüht ist, ein normalisierendes Bild von den politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern zu schaffen.

Seine Überzeugungskraft erhält der Text durch die lebhaften ethnographischen Beschreibungen vor und während des Spiels sowie durch die persönlichen Reflexionen der Forscher. Mit Hassgesängen und nationalistischen Bannern inszenieren die Fans im Stadion die serbisch-kroatische Rivalität. Dennoch wird sich nicht physischer Gewalt bedient. Die Forscher befinden sich in diesem Kontext aufgrund ihrer eigenen kulturellen Herkunft in einer unbequemen Position. Die Reflexionen ihrer Emotionen und Erlebnisse ermöglichen jedoch einen wichtigen anthropologischen Erkenntnisgewinn, der durch distanzierte Beobachter/innen nicht in dieser Weise möglich wäre.

Eine weitere Stärke vieler Beiträge des Sammelbandes ist der Blick auf im Fußballraum marginalisierte und in Publikationen bisher unsichtbar gebliebene Akteur/innen. Heissenbergers Beitrag, der „the last taboo in sport: gay football players“ (S. 120) und europäische Turniere für offen schwule Amateurteams untersucht, steht exemplarisch dafür.

Der Autor erläutert zunächst den Tabu-Charakter von Homosexualität im mainstream-Amateurfußball und seine Beobachtungen bei einem schwulen Amateurfußballteam. Durch die Schilderung eines einzelnen Turniers (in Prag) veranschaulicht der Autor dem/der Leser/in anschließend den regulären Verlauf der Turniere und das Besondere des Prager Wettkampfs. Charakteristische Eigenschaften von Amateurfußball – dort auftretende Emotionen wie Anspannung, Euphorie oder Wut –, implizite Regeln wie „you may celebrate, but you should be able to run and fight as usual on match day“ (S. 127) und Gegensätze – es geht um nichts und doch bedeutet es für die Teilnehmenden „alles“ – werden lebendig und in sehr treffender Weise wiedergegeben. Das durch persönliche Spiel- und Forschungserfahrungen aufgebaute Insiderwissen des Autors wird hier sichtbar.

In seinem analytischen Teil bezieht sich der Autor auf Victor Turners Ritualtheorie. Das Turnier bildet einen Ausnahmezustand vom alltäglichen Leben der Akteure und stellt gleichzeitig einen sicheren Raum für diese dar. Anders als im (oftmals homophoben) mainstream-Amateurfußball darf hier offen geflirtet werden und sind physische Kontaktaufnahmen legitim. Mit jedem Turnier, in einer anderen europäischen Stadt, wird diese Fußballgemeinschaft erneuert und aktualisiert.

Der Autor weist auf die Möglichkeit interner Machtstrukturen und Exklusionspraktiken hin, führt diese jedoch aus Platzgründen nicht aus. Beim Leser/der Leserin bleiben dennoch Fragen bezüglich der Exklusivität der Mitgliedschaft dieses Fußballraums. Werden Spieler spezifischer sozialer Statusgruppen, kultureller Hintergründe und bestimmter sexueller Identitäten ausgeschlossen?

Hervorzuheben in diesem Sammelband ist außerdem ein grenzüberschreitender europäischer Fokus, der einige der Aufsätze auszeichnet. Dies wird anhand des Aufsatzes von McManus zur Beşikaş-Fangemeinschaft in Europa kurz dargestellt:

McManus beschreibt ein europäisches Szenario, in dem viele Menschen aufgrund von Migrationen nicht an dem Ort leben, aus dem „ihr“ Fußballclub stammt, in dem die Fanzugehörigkeit allerdings weiterhin eine zentrale Form der Identitätsstiftung darstellt. Seine Akteur/innen, Fußballfans einer jungen Generation und mit türkischen Wurzeln, haben einen Alltag der durch die Nutzung digitaler Technologien und sozialer Medien sowie europäischer Mobilität geprägt ist. Mit „Billigfliegern“ reisen sie zu Spielen ihres Clubs Beşikaş in ganz Europa. Die permanente Nutzung von TV-Live-Übertragungen, Smartphones und Kommunikationsprogrammen wie Facebook zeichnet ihre Fan-Praktiken aus.

Der Autor ermöglicht dem/der Leser/in, eine Vorstellung zeitgenössischer Fan-Praktiken und -Identitäten zu gewinnen: ein Fan-Sein, das die Anwesenheit im Stadion nicht unbedingt fordert und das – im Kontext sozialer Medien und neuer digitaler Technologien – eine zunehmende Bedeutung weltweit spielt. Eine kurze Reflexion über die Existenz von Fans, die aufgrund sozioökonomischer Barrieren oder aufgrund ihres Alters nicht mit den neuen Medien vertraut und von neuen Fan-Praktiken ausgeschlossen sind, würde den Text vervollständigen.

In Hinblick auf den gesamten Sammelband kann festgehalten werden, dass die aktive Fußballausübung trotz ihrer zentralen Bedeutung als Alltagspraxis in vielen Kontexten Europas leider nur in wenigen Beiträgen behandelt wird. In einigen Aufsätzen hätte die ethnographische Beschreibung zudem noch eine stärkere Bedeutung besitzen können. In der Gliederung wären treffendere Kapitelüberschriften vorteilhaft gewesen.

Insgesamt handelt es sich jedoch um einen sehr gelungenen kulturanthropologischen Sammelband, der eine Vielfalt an Fußballszenarien präsentiert, die Verflechtungen der Sportart mit politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Themen verdeutlicht und ihren Einfluss auf die Alltagsrealität von Gruppen und Personen darstellt. Äußerst positiv fallen der Fokus auf bisher unerforschte Untersuchungsfelder und Personengruppen, die ethnographische Ausrichtung und die innovativen theoretischen Ansätze vieler Beiträge auf. Weitere Sport- und Gesellschaftsstudien dieser Art sind nur wünschenswert.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/