Cover
Titel
Ein Klang – zwei Welten. Blues im geteilten Deutschland, 1945 bis 1990


Autor(en)
Rauhut, Michael
Reihe
Studien zur Popularmusik
Anzahl Seiten
366 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Leonard Schmieding, German Historical Institute, Washington, DC

Mit seiner Studie über den Blues im geteilten Deutschland behandelt der Musikwissenschaftler Michael Rauhut erstmals die Ausprägung einer afroamerikanischen Musikform in beiden deutschen Staaten als Verflechtungsgeschichte. Damit folgt er nicht zuletzt den Aufrufen Frank Böschs1 und – als Replik darauf – Dorothee Wierlings2, transnational angelegte Themenkomplexe wie Musik, Jugendkultur und Konsum in ihren asymmetrischen Verflechtungen zwischen Bundesrepublik und DDR zu untersuchen. Darüber hinaus löst er die Geschichte des Blues aus derjenigen des Jazz heraus, bezieht Musiker, Produzenten und Publikum als Akteure in seine Betrachtungen mit ein und bleibt dabei stets jenseits des Mainstream, jenseits von „Staatspolitik und Großwirtschaft“ (S. 11). Blues firmiert bei Rauhut als Kultur, deren Protagonisten sich immer wieder herausgefordert fühlten, ihre Ursprünglichkeit gegen den wie auch immer gearteten Ausverkauf zu verteidigen.

Das Ziel der Analyse ist es, „die spezifischen Bedeutungszusammenhänge [zu untersuchen], die sich um den Blues in Ost und West rankten“ (S. 10). Hierbei konzentriert sich der Autor auf die Nischen, Freiräume und Biotope. Anhand der sich dort formierenden Netzwerke und Diskurse geht er der Frage nach, wie „verschiedenartige Bluesmilieus und -communities als Akt der Identitätsfindung“ (S. 12) funktionierten. Was die Quellenbasis dieser Studie anbetrifft, so sei hervorgehoben, dass Rauhut das Ungleichgewicht zwischen der Überlieferung im Osten, die sich hauptsächlich aus Beständen in Staatsarchiven, der BStU und der SAPMO zusammensetzt3, und derjenigen im Westen, wo eine solche Dokumentation staatlicher Politik in Bezug auf Blues aus naheliegenden Gründen fehlt, vor allem durch den Zugriff auf bisher unberücksichtigte Bestände des Internationalen Archivs für Jazz und Populäre Musik der Lippmann+Rau-Stiftung Eisenach4 ausgleichen konnte. Leider verhindert die allzu knappe Zitierweise, dass man auf den ersten Blick erkennen kann, um was für einen Bestand es sich handelt.

Rauhut präsentiert dieses Material in vier chronologischen Fallstudien, denen er ein thematisches Kapitel voranstellt, in dem er untersucht, „Woher wir wissen, was der Blues ist“ (S. 19–37). Hier diskutiert er, zum Teil auch unter Hinzuziehung theoretischer Konzepte wie Authentizität, die für ihn im Blues als Spiegelung eigener Erfahrungen der Musiker performativ geschaffen wird, wie sich der Blues-Diskurs in den Vereinigten Staaten formierte und mit welchen Veränderungen er nach Deutschland wanderte. Hier wird deutlich, dass es vor allem Nicht-Afroamerikaner waren, die das Bild des Blues in Deutschland prägten – angefangen von den US-Amerikanern John und Alan Lomax über den britischen Forscher Paul Oliver bis hin zum westdeutschen, ebenfalls ethnographisch arbeitenden Karl Gert zur Heide. Zwar erwähnt Rauhut, dass die Kritik der Black-Power-Bewegung an einer weißen Aneignung des Blues zumindest in linksradikalen Kreisen rezipiert wurde (und ansonsten weitestgehend verhallte). Angeboten hätte es sich aber, auch einen Blick auf den Blues-Diskurs afroamerikanischer Intellektueller wie James Baldwin, Houston Baker oder Toni Morrison zu werfen und ihre Rezeption in deutschen Blues-Zirkeln in die Analyse einzubeziehen.

Im Kapitel „Early in the Morning: Aufbruch“ (S. 39–97) arbeitet Rauhut heraus, wie sich der Blues in den Hot Clubs der 1950er-Jahre entwickelte und dort dank seiner engen Verbindung zum Jazz nicht nur wachsen konnte, sondern auch einige Protagonisten hervorbrachte, die für die Geschichte des Blues in Deutschland entscheidend wurden. Zu den prägenden Figuren im Netzwerk der Hot Clubs, die sich ungeachtet des Kalten Kriegs intensiv austauschten, gehörte Günter Boas, der nach 1945 in Frankfurter GI-Klubs als Pianist tätig war, dort transatlantische Freundschaften knüpfte und anschließend als Organisator von Konzerten und AFN-Radiomoderator hervortrat. Mit seiner Sendung „Blues for Monday“ erreichte er auch ein Publikum in der DDR (die er immer wieder besuchte). Auf diese Weise wirkte Boas als Multiplikator des Blues von Amerika bis nach Ostdeutschland, wo der Blues, begriffen als Teil des Jazz, zunehmend Akzeptanz fand. Durch den Jazz nahm auch Horst Lippmann Einfluss auf den Blues in der Bundesrepublik, zunächst als Musiker und Organisator im Hot Club Frankfurt, dann im Rundfunk mit seinen Sendungen, in denen er den Blues in den Vordergrund stellte. Für Rauhut ist die Rolle des Rundfunks deshalb so wichtig, weil es bis in die frühen 1960er-Jahre nur wenige Live-Konzerte gab.

Mit dem American Folk Blues Festival, das im Zentrum des Kapitels „Get off My Cloud: Emanzipation“ steht (S. 99–160), löste sich der Blues vom Jazz und erhielt Einzug in die Konzerthallen Deutschlands. Hierzu verbündete sich Horst Lippmann mit Fritz Rau und produzierte zwei Auflagen von Konzerttourneen (1962–1972 und 1980–1985), mit denen sie afroamerikanische Musiker sowohl in die Bundesrepublik als auch in die DDR holten, wo diese Musiker offiziell als Garanten für Ursprünglichkeit galten, parallel zu der vom westdeutschen „Jazzpapst“ Joachim-Ernst Behrendt verbreiteten Ansicht. Am Festival und der damit stattfindenden Kommerzialisierung von Authentizität liest Rauhut ab, wie sich das mediale Bild des Blues an die Popkultur annäherte, zu deren integralem Bestandteil sich der Blues schließlich wandelte. Zugleich strahlte das Festival ins übrige Europa aus und setzte durch die transatlantischen Begegnungen, die es ermöglichte, besonders in England musikalische Entwicklungen in Bewegung. So erhielten berühmte Bands wie die Rolling Stones, die Animals und die Yardbirds ihren entscheidenden Schub.

Im Westen expandierte der Blues – den Puristen zuwider – in den Pop und in Jugendkulturen, im Osten in die offizielle Kultur der DDR, wie Rauhut in „Standing at the Crossroads: Expansion“ (S. 161–226) deutlich macht. Die SED-Führung hofierte Künstler wie Harry Belafonte, Paul Robeson und Etta Cameron als Stimmen des „anderen Amerika“, flankiert von publizistischen Interpretationen, Schallplattenveröffentlichungen und zahlreichen Gastspielen afroamerikanischer Künstler Mitte der 1970er-Jahre. Für einheimische Blues-Fans verkehrte sich die kapitalismuskritische Propaganda ins Gegenteil, sie interpretierten den Blues „als direkte Antwort auf die gesellschaftlichen Konflikte der DDR“ (S. 194). Anhand der Biographie Stefan Diestelmanns veranschaulicht Rauhut die „Schizophrenie des Apparats“ (S. 203), der den Bluesmusiker gleichzeitig feierte und verunglimpfte, bis dieser 1984 die DDR verließ. Bis dahin hatte Diestelmann trotz seiner zunächst englischsprachigen Texte und expliziten Kritik am SED-Regime eine triumphale Karriere hingelegt. Während Diestelmann seine deutschsprachigen Texte zum Verhängnis wurden, weil sie auf Konfrontationskurs mit dem sozialistischen System gingen, so hatten es westdeutsche Blueser schwer, weil sie in den Augen der Plattenfirmen und der Konsumenten als nicht authentisch genug galten.

Um die nicht enden wollende Debatte über Authentizität geht es auch im letzten Kapitel „I'm Drifting and Drifting: Alltag“ (S. 228–299), das sein Augenmerk sowohl auf den Diskurs des westdeutschen Blues Forum und des German Blues Circle als auch auf die Blues-Fans der DDR richtet. Rauhut macht einerseits deutlich, wie sehr sich die Szenen auseinanderentwickelten, wertete doch der German Blues Circle den „Blues der Weißen“ als „ein großes Geschäft“ ab und akzeptierte allein afroamerikanischen Blues mit seiner „Mitteilung menschlicher Erlebnisse und Erfahrungen“ (S. 262), ohne zu erkennen, dass es sich beim Blues in der DDR genau darum handelte. Den bundesdeutschen Bluesern fehlte der Spürsinn, um den DDR-Blues in seinem sozialen und politischen Kontext als authentisch zu empfinden. Andererseits zeigt Rauhut, wie sich Blueser in der DDR zu mitunter politischen Gemeinschaften zusammenschlossen, in denen sie von jeglicher kapitalistischer Verwertungslogik unberührt blieben, dafür aber umso mehr in das Visier der Staatssicherheit gelangten. Aufschlussreich wäre es mit Blick auf das Auseinanderdriften gewesen, Überlegungen dazu anzustellen, welche Rolle der Blues und seine Ausprägungen in Ost und West im Prozess der kulturellen und gesellschaftlichen Wiedervereinigung spielten – oder immer noch spielen.

Rauhut geht mit sehr viel Liebe zum Detail vor, was einerseits den positiven Effekt hat, dass sich der Rezensent von den faszinierenden Stories oft mitten ins Geschehen versetzt fühlte. Andererseits fehlt den Ausführungen dadurch häufig der analytische Zugriff, und so bleibt bei den meisten Erzählungen offen, welchen Beitrag sie zur eigentlichen Analyse leisten. Insbesondere ein sich durch das Buch ziehender Themenkomplex drängt sich für eine konsequentere Behandlung geradezu auf, werden doch gerade hier Parallelen zwischen den beiden deutschen Staaten erkennbar: die Frage nach der Hautfarbe und der damit verbundenen künstlerischen Authentizität der Bluesmusiker in der Wahrnehmung der Produzenten wie auch der Konsumenten. Der Tatsache, dass es sich bei den Produzenten zum größten Teil um weiße, relativ wohlsituierte Mittelständler handelte, die darüber befanden, wer authentischen Blues spielte und wer diesen unter welchen Umständen zu hören bekommen sollte, hätte man mehr Reflexion und analytische Entfaltung gewünscht.

Trotz dieser fehlenden Theoretisierung seiner Schilderungen kommt Michael Rauhut das Verdienst zu, eine umfassende und tiefgehende Darstellung der Geschichte des Blues in beiden deutschen Staaten verfasst zu haben. Niemand, der sich ernsthaft mit weitergehenden Fragen zur afroamerikanischen Musik in Deutschland – und auch in Europa – beschäftigt, wird an dem Buch vorbeikommen; allein schon wegen seiner Materialfülle. In diesem Sinne ist dem Band eine große Leserschaft zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Frank Bösch, Geteilte Geschichte. Plädoyer für eine deutsch-deutsche Perspektive auf die jüngere Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 98–114, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2015/id=5187 (22.11.2016).
2 Dorothee Wierling, Über Asymmetrien. Ein Kommentar zu Frank Bösch, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 115–123, http://www.zeithistorische-forschungen.de/1-2015/id=5189 (22.11.2016).
3 BStU = Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik; SAPMO = Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv.
4http://www.lr-musikarchiv.de (22.11.2016).