D. Thomaschke: In der Gesellschaft der Gene

Titel
In der Gesellschaft der Gene. Räume und Subjekte der Humangenetik in Deutschland und Dänemark, 1950–1990


Autor(en)
Thomaschke, Dirk
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefanie Coché, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Zweifelsohne ist Humangenetik ein hoch aktuelles Thema, das in seiner gesellschaftlichen Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Humangenetische Überlegungen, Methoden und Diagnosen erweisen sich etwa in Form der Pränataldiagnostik als wegweisend sowohl für individuelle Lebensentscheidungen als auch für eine ethische und medizinisch-naturwissenschaftliche Selbstverortung nicht nur der deutschen Gesellschaft. Dirk Thomaschke widmet sich in seiner Studie, die auf seiner an der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg entstandenen Dissertation basiert, diesem Thema daher vergleichend. Das erklärte Ziel des Vergleichs zwischen Deutschland und Dänemark ist eine transnational tragfähige Modellbildung. Dementsprechend werden die Gemeinsamkeiten beider Länder herausgearbeitet.

Die Studie beginnt bewusst nach dem Zweiten Weltkrieg, da die Kontinuitäten vom „Dritten Reich“ in die frühe Bundesrepublik gut bekannt sind. Während die Geschichte der Eugenik für beide Länder seit den 1980er-Jahren erforscht wird, gilt dies für die Geschichte der Humangenetik weit weniger. Anschließen kann die Studie in diesem Feld vor allem an zwei Projekte: zum einen die wissenschaftsgeschichtlichen Forschungen zur Geschichte der Vererbungsforschung Hans-Jörg Rheinbergers und Staffan Müller-Willes1; allerdings endet der Untersuchungszeitraum hier mit den 1970er-Jahren. Zum anderen ist die sozialwissenschaftliche Pionierstudie zum „Subjekt der Humangenetik“ von Anne Waldschmidt2 zu nennen, deren Untersuchungszeitraum nahezu deckungsgleich mit Thomaschkes ist.

Darüber hinaus verortet der Autor seine Analyse in einer diskursgeschichtlichen Tradition von Foucault über Lemke zu Link. Dementsprechend ist kaum von Akteuren, sondern von Subjekten, Subjektivierungsweisen und Dispositiven die Rede. Thomaschke orientiert sich bei der Auswahl der zu untersuchenden Objekte an einer für ihn zentralen Unterscheidung zwischen Laien und Experten. Da seiner Argumentation folgend, – die leider nicht näher ausgeführt wird – die Macht immer beim Experten liege, werden ausschließlich Quellen genutzt, die die Perspektive, oder um Thomaschkes Ansatz zu folgen, die Subjektivierungsweisen der Experten spiegeln. Hierzu zieht er einen breiten Quellenkorpus heran, für die Bundesrepublik unter anderem Korrespondenzen, Nachlässe und Förderakten der DFG. Neben den Subjekten ist eine weitere zentrale Kategorie zu nennen: Räume. Diese Kategorie führt unmittelbar zum Untersuchungsgegenstand. Ziel der Monografie ist es „wirkmächtige räumliche Dispositive des humangenetischen Diskurses“ (S. 11) in Deutschland und Dänemark aufzuzeigen. Die Arbeit gliedert sich nach der Einleitung in vier Teile: einem historischen Abriss der Humangenetik von Ende des 19. Jahrhunderts bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts (S. 39–86) folgen zwei Hauptkapitel, eines zu Räumen (S. 87–182) und eines zu Subjekten (S. 183–320) der Humangenetik. Schließlich ist dem Fazit ein sehr knapp gehaltenes Kapitel vorgeschoben, das sich noch einmal explizit dem Vergleich zwischen Dänemark und Deutschland widmet (S. 327–341).

Das zweite Kapitel erläutert zunächst die Entwicklung und Durchsetzung der Vorstellung von einer „geteilten Erbmasse“ Ende des 19. Jahrhunderts. Dieses Konzept war nicht nur in der wissenschaftlichen Sphäre maßgeblich, sondern hieraus ließen sich auch politische Handlungsansprüche ableiten. Denn die „geteilte Erbmasse“ (der Genotyp) verband jedes einzelne Individuum mit einer imaginierten größeren Bevölkerungseinheit. Der Genotyp bedurfte, um den „gesunden“ Erhalt der Population zu erhalten, konstanten Schutzes oder gar stetiger Verbesserung. Geschildert werden einschneidende medizinisch-technische Neuerungen und ihre Konsequenzen. Hier sei exemplarisch die künstliche Herstellung von Insulin genannt, die zu Beginn der 1980er-Jahre zu einer „Umkehr der Untersuchungsrichtung“ (S. 72) beitrug, da die Gene nun von innen heraus erkundbar wurden. Als wohl größter konzeptioneller Umbruch ist die Idee eines „genetischen Codes“ anzusehen, um dessen Entschlüsselung seit den 1960er-Jahren ein internationaler Wettbewerb entstand. Konzise werden in diesem Kapitel auch die Etablierung zentraler Messinstrumente und Darstellungsweisen erklärt, etwa von Stammbäumen und Statistiken, und ihre Anwendungsgebiete umrissen. In Deutschland und in Dänemark entwickelte sich vor allem die Psychiatrie seit der Jahrhundertwende zu einem humangenetischen Forschungsfeld. Thomaschke betont hier besonders, dass es ein Nebeneinander von alten und neuen Methoden gegeben habe. Der Stammbaum etwa blieb bis in die 1980er-Jahre in Gebrauch.

Das erste der beiden Hauptkapitel „Räume der Humangenetik“ zeichnet eine zweifache Verschiebung von Raumdispositiven nach, zunächst von geographischen Räumen zu Versorgungsräumen (1970er-Jahre), anschließend zu Standorten. Für die 1950er- und 1960er-Jahre beschreibt der Autor ein Dispositiv „genetischer Behälterräume“. Entsprechend der etablierten Idee der „geteilten Erbmasse“ wurden meist national konstruierte Populationen als Behälter imaginiert, deren Inhalt durch objektive Experten kontrolliert und vermessen werden musste. Der Funktionsverlust der humangenetischen Behälterräume kündigte sich zunächst durch den Aufstieg laborzentrierter Methoden an. Statt der möglichst vollständigen Erfassung von Populationen, also einem quantitativen Ziel, gewann die qualitative Durchleuchtung von Einzelfällen an Gewicht. Dies bereitete dem Anspruch der 1970er-Jahre, flächendeckende Versorgungsräume zu etablieren, in beiden Ländern den Nährboden. Die wechselseitige Beeinflussung neuer Forschungsdesigns und Anwendungsmöglichkeiten wird dabei besonders herausgestrichen. Anschaulich und überzeugend führt Thomaschke lokale Tiefenbohrungen durch, um die Durchsetzung des Dispositivs der Versorgungsräume zu zeigen. So umreißt er exemplarisch die Entstehung der humangenetischen Beratungsstelle der Universität Bremen zwischen 1974 und 1979: Hier zeigen sich sowohl die Zusammenarbeit wissenschaftlicher Einrichtungen mit medizinbürokratischen Einrichtungen als auch Strategien der Konstruktion und Sichtbarmachung eines gesundheitspolitischen Mangels. Um die Region Bremen als humangenetisches Mangelgebiet zu etablieren und Handlungsbedarf zu erzeugen, wurden unterschiedliche graphische und argumentative Strategien zusammengeführt. Das Gebiet wurde auf Karten als weißer Fleck markiert und es wurden Gutachten erstellt, die dieses Defizit auf sprachlicher Ebene fassbar machten. In der Bundesrepublik war die Durchsetzung des Versorgungsraumdispositivs begleitet von der Etablierung einer „empörten Öffentlichkeit“, die einen Anspruch der „Konsumenten“ auf genetische Beratung formulierte, insbesondere hinsichtlich der Pränataldiagnostik.

In Dänemark ging der Wandel zu den Versorgungsräumen leiser vonstatten. Der Autor erklärt dies durch die Legalisierung eugenisch indizierter Schwangerschaftsabbrüche bereits in den 1930er-Jahren. Im Anspruch der „Konsumenten“ zeichnete sich bereits ein Schema ab, welches in den 1980er-Jahren maßgeblich werden sollte: das Angebot-Nachfrage-Konzept. Thomaschke zeichnet die Humangenetik dieses Jahrzehnts in beiden Ländern als von ökonomischen Leitlinien durchdrungen. Als neue zentrale Raumkategorie führt er „Standorte“ ein. An unterschiedlichen Forschungsstandorten konkurrierte man, um die Entschlüsselung des Genoms. Eng damit verbunden waren nationale Raumbezüge, die in diesem Wettbewerb von nicht zu unterschätzender Relevanz blieben. Schließlich tauchten zunehmend globale Bezüge auf; die „Dritte Welt“ wurde als humangenetisches Mangelgebiet konstruiert. Ziel der Forschungen waren industriell verwertbare Produkte, dementsprechend wurden Forschungsprogramme von großen Chemiekonzernen finanziert, in Deutschland etwa von BASF, Bayer, Hoechst, Wacker Chemie (S. 163). Auch in Dänemark sollte die Humangenetik in den 1980er-Jahren genutzt werden, um das Land als Wirtschaftsstandort attraktiver zu machen (S. 165). Zugleich begann nicht erst in den 1980er-Jahren eine Phase der Transnationalisierung: Bereits seit 1973 wurde die internationale Workshopreihe „The Human Gene Map“ veranstaltet.

Kapitel vier zu „Subjekten der Humangenetik“ ist stärker theorielastig und fällt gegenüber dem empirisch innovativen vorherigen Kapitel ab. Die Ergebnisse fallen mehrheitlich erwartungsgemäß aus, da die hier präsentierten Wandlungen stark mit denjenigen des vorherigen Kapitels korrelieren. Dass die Humangenetiker in Phase 2 „als eine Art Versorger“ (S. 190) auftraten, war nach den Ausführungen zum Wandel von Behälterräumen zu „Versorgungsräumen“ zu erwarten. Ausgesprochen interessante Ergebnisse, wie etwa, die Tatsache, dass humangenetische Beratung in den 1980er-Jahren zunehmend von Menschen in Anspruch genommen wurde, die die Experten gar nicht als Klientel ansahen, hätten gut in die Analyse der Etablierung des Angebots-Nachfrage-Prinzips und die Entstehung einer „empörten“ Öffentlichkeit, die Anspruch auf humangenetische Beratungsmöglichkeiten artikuliert, gepasst. So entstand für die Rezensentin bisweilen der Eindruck, dass die narrative Trennung von Räumen und Subjekten maßgeblich auf eine in der Einleitung kurz erwähnte, aber nicht weiter ausgeführte Grundannahme zurückzuführen ist. Thomaschke geht davon aus, dass, „Diskurse nicht allein bestimmte Gegenstandsbereiche auf exklusive Weise [verhandeln], sie bringen sie überhaupt erst hervor. Dies gilt zugleich für entsprechende Subjekte […]“ (S. 30). Dies verleitet zu einer analytischen Trennung von Gegenstandsbereichen, hier Räumen und Subjekten, führt jedoch zum einen zu Redundanzen, zum anderen erschwert es mitunter die Rekonstruktion von Verbindungen zwischen Akteuren und Diskursen und somit der eigentlichen Hervorbringung der Dispositive.

Das fünfte Kapitel stellt auf knapp 10 Seiten die Unterschiede zwischen Deutschland und Dänemark hinaus. In dieser Kürze kann es dem selbstformulierten Anspruch, nicht lediglich auf Gemeinsamkeiten zu fokussieren allerdings nur bedingt gerecht werden. Durch den Anspruch der Modellbildung bleibt der Eindruck zurück, es habe sich um eine nahezu identische Entwicklung in beiden Ländern gehandelt.

Es gelingt dem Autor durch einen kulturwissenschaftlichen-diskursanalytischen Zugriff neues Licht auf die deutsche und dänische Humangenetik der 1950er- bis 1980er-Jahre zu werfen. Resümierend lassen sich jedoch auch vier Punkte bemängeln: (1) Der Vergleich ist sehr stark durch die Modellbildung beeinflusst. Es fragt sich, inwiefern ein Modell überhaupt notwendig ist und nicht hinter einer abgewogenen Darstellung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden hätte zurücktreten können. (2) Der theoretische Überbau trägt nicht an allen Stellen zur besseren Erklärung der empirischen Ergebnisse bei. Dies gilt insbesondere für das zweite Hauptkapitel und seine mutmaßlich durch theoretische Annahmen bedingten Redundanzen zum ersten Hauptteil. (3) Gerade angesichts des Ergebnisses, dass Laien in den 1980er-Jahren als neue Expertengruppen Anerkennung fanden, fragt sich, ob die eingangs formulierte klare Trennung von Experten und Laien und die damit einhergehende Entscheidung nur die Perspektive der Experten zu untersuchen, in auf dieser Studie aufbauenden Forschungen nicht überwunden werden sollte. (4) Schließlich bleibt unthematisiert, wie in vielen Studien zurzeit nach 1945, warum der Autor sich entschlossen hat, die DDR nicht zu berücksichtigen.

Anmerkungen:
1 Siehe z.B. Hans-Jörg Rheinberger / Staffan Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt am Main 2009; Dies., Zur Genesis der Vererbung als biologisches Konzept, 1750–1900, in: Armen Avenessian / Wilfried Menninghaus / Jan Völker (Hrsg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich 2009.
2 Anne Waldschmidt, Das Subjekt der Humangenetik. Expertendiskurse zu Programmatik und Konzeption der genetischen Beratung 1945–1990, Münster 1996.

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