L. v. Ranke: Gesamtausgabe des Briefwechsels. Band 1: 1810–1825

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Titel
Gesamtausgabe des Briefwechsels von Leopold von Ranke. Band 1: 1810–1825


Autor(en)
von Ranke, Leopold
Herausgeber
Grypa, Dietmar
Erschienen
Anzahl Seiten
L, 892 S.
Preis
€ 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominik Juhnke, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

„Denn der alte Erste Band erwies sich als mangelhaft“, gesteht Gerrit Walther, Wuppertaler Geschichtsprofessor und seit 2012 Präsident der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, im Vorwort zum neuen Ersten Band der „Gesamtausgabe des Briefwechsels von Leopold Ranke“ (S. VII) ein. Diese Transparenz, unmissverständlich gleich den allerersten Absatz besiegelnd, steht dem revidierten Auftaktband in zweierlei Hinsicht gut zu Gesicht: Zum einen war es die Historische Kommission in München selbst, die 2007 die fehlerbehaftete Zusammenstellung herausgegeben hatte; zum anderen geht es bei Leopold Ranke (1795–1886) eben nicht nur um den Nestor der deutschen Geschichtswissenschaft und Apologet der historisch-kritischen Methode, sondern obendrein um den Gründervater ebenjener Historischen Kommission. Nach über einem Jahrhundert abgebrochener und gescheiterter Bearbeitungen sowie teilweise von Ranke selbst eingeleiteter, zerstückelter Einzelveröffentlichungen war mit der Ausgabe von 2007 auch der vorerst letzte Versuch einer historisch-kritischen Gesamtedition der Korrespondenz des Historikers missglückt. Das damalige Gutachten von Günther Johannes Henz, dem wohl profiliertesten zeitgenössischen Ranke-Experten, hatte die „geradezu bakterielle Zersetzung mit Textabweichungen“ publik gemacht; die eigens einberufene Prüfkommission wies in ihrem Bericht daraufhin mehrere Tausend Mängel und Versäumnisse nach. Der Band wurde zurückgezogen; vor allem die WELT berichtete prominent über „eines der größten Desaster der deutschen Editionswissenschaft.“1

Knapp zehn Jahre später, in Rankes 130. Todesjahr, legt die Historische Kommission jetzt also einen neuen Versuch auf, das Erbe ihres Gründers gemäß seiner wissenschaftlichen Grundsätze aufzuarbeiten, zu kommentieren, zu veröffentlichen und zugleich die verlorene Ehre der deutschen Editionswissenschaft sowie den Ruf der eigenen Institution wiederherzustellen. Die Gesamtausgabe der Briefe Rankes soll das Vorzeigeprojekt von Walther werden, der bereits vor seiner Berufung ins Präsidentenamt als Abteilungsleiter für die Neuedition verantwortlich zeichnete. Etwas vollmundig verspricht er sodann auch die „tadellos authentische Wiedergabe der Ranke’schen Brieftexte“ (S. VII), was angesichts der Vorgeschichte sowie der Überlieferungslage wiederum wenig reflektiert wirkt: Weder konnte Dietmar Grypa, federführender Bearbeiter, auf den „authentischen“ Briefnachlass Rankes zurückgreifen, da dieser im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, sondern musste sich stattdessen größtenteils auf Abschriften früherer Editoren, Typoskripte oder sogar Kopien dritter Hand verlassen. Noch stand dem Würzburger Historiker für die „Wiedergabe“ überhaupt die gesamte Korrespondenz von und an Ranke zur Verfügung – von den 390 bekannten Schriftstücken aus dem Zeitraum zwischen 1810 und 1825 konnte das Editionsteam weniger als drei Viertel ermitteln (278 Briefe), die übrigen 112 Briefe gelten als verloren. Wie zuvor alle Versuche, Rankes Korrespondenz vollständig zu fassen, bleibt auch die neueste Ausgabe, obschon die bislang umfangreichste, doch eine lückenhafte Rekonstruktion.

Zugutehalten kann man, dass Grypa selbst diese Hindernisse offenlegt. Sein einleitender Editionsbericht bietet sowohl eine anschauliche und ausführliche Darstellung der handwerklich-methodischen Vorgehensweise als auch eine gelungene Zusammenfassung der Ziele und Erkenntnisse des ersten Bandes. Besonders prägnant gelingt es dem Historiker, die schwierige Überlieferungssituation mit Rankes Bedürfnis zur Selbsthistorisierung zu erklären. Die Rückforderungen von Briefen ebenso wie die Lücken im Schriftwechsel seien Zeugnis dafür, wie selektiv Ranke vorgegangen sei, „unter Umständen Briefe bewußt vernichtet hat“, um seine Wahrnehmung in der Öffentlichkeit und in der Nachwelt zu kontrollieren (S. XVII). Durch Kommentare und Anmerkungen diejenigen „Zusammenhänge sichtbar zu machen“, die Ranke verschwiegen habe, solle dabei helfen, so Grypa, „die Selbststilisierung Rankes aufzubrechen“ (S. XVIII). Zudem liefert der Herausgeber im Abschnitt „Quellenkritik“ wertvolle Anhaltspunkte, unter welchen Bedingungen die Briefe entstanden sind und welche Informationen der Leser zwischen den Zeilen zu finden vermag. In einer Zeit, in der „staatliche Überwachungsmaßnahmen das öffentliche wie das private Leben prägten“ (S. XXXII), seien bestimmte Formulierungen nur erklärbar, wenn man die permanente Sorge von Absender und Empfänger vor unerwünschten Mitlesern, vor Zensur und Repressalien bis hin zu Berufsverbot oder Gefängnisstrafen berücksichtige. Für das Leseverständnis sei es daher unerlässlich, Warnungen, Auslassungen oder Andeutungen in den Kontext eines allgegenwärtigen Überwachungsstaates einzuordnen. So lässt sich beispielsweise der Brief Rankes an Professor Thiersch in München vom April 1822 (S. 279–281), in dem er seine Versetzung nach Bayern auslotet, ganz neu lesen, wenn man versteht, dass die Hälfte eigentlich für die Zensoren diesseits und jenseits der Grenze geschrieben ist.

Ein weiterer wichtiger Aspekt, auf den gerade der Briefwechsel aus der Schul- und Universitätszeit sein Schlaglicht wirft, ist Rankes in diesen Jahren entstehendes Netzwerk von Gleichgesinnten, Förderern und Mentoren. Die Sammlung dokumentiert, dass die persönlichen Beziehungen und Freundschaften, die der junge Gelehrte zu seinen Lehrern und Weggefährten in Pforta und Leipzig knüpft, bereits die Weichen zu seinem Aufstieg als Geschichtsprofessor in Berlin stellen. In der „Societas Graeca“ etwa, in die Ranke von seinem Stubengenossen Carl Schneider eingeführt wird, trifft er auf seinen Doktorvater Gottfried Hermann und lernt Ernst Friedrich Poppo kennen, den späteren Schuldirektor, der Ranke 1818 zu sich ans Frankfurter Gymnasium vermittelt; in der ebenfalls in Leipzig beheimateten „Societas Philologica“ ist nicht nur sein ehemaliger Schulleiter aus Pforta, Karl David Ilgen, Alumni, sondern auch Ministerialrat Johannes Schulze, der seit 1824 Rankes Berufung nach Berlin vorantreibt. „An den meisten zentralen Wegmarken von Rankes Leben“, fasst Grypa zusammen, spielten „Mitglieder der ‚Societas Graeca‘ eine entscheidende Rolle.“ (S. XXVIII). Auch dass Ranke durch seine Bekanntschaft zu Gefolgsleuten Friedrich Ludwig Jahns vermutlich enger und persönlicher in Kontakt zum Turnvater und dessen national-patriotischer Bewegung stand als bislang angenommen, ist eines der Erkenntnisse, die sich aus der erstmals abgedruckten, frühesten Korrespondenz ergeben (S. XXVII).

Vorbehaltlich einer vergleichenden Detailprüfung durch berufenere Experten als den Rezensenten, zeichnet den 2016er-Auftaktband der Gesamtausgabe des Briefwechsels von Leopold Ranke eine gewissenhafte Transkription sowie sorgfältige Recherche von Namen, Orten und Daten aus – die Versäumnisse des fehlerbehafteten Versuchs von 2007 wollte man sich nicht erneut vorwerfen lassen. Es sind Kleinigkeiten, die diese neue Gründlichkeit veranschaulichen: So heißt es beispielsweise im alten, zurückgezogenen Band schwammig, der Adressat eines Abschiedsbriefes Rankes aus der Internatszeit sei „vielleicht mit Max Schmidt“, einem Freund von Rankes Bruder, identisch; für den neuen Band hingegen wurde penibel nachgeforscht: Sechs Mitschüler Rankes hörten laut Stammbuch auf den Namen Schmidt, nur einer verließ die Landesschule Pforta im fraglichen Zeitraum, sein Vorname: Friedrich, später ein Kommilitone Rankes in Leipzig. Die Stärken des Bandes liegen zugleich aber in der gebündelten Zusammenstellung der karrierefördernden Kreise des Schülers, Studenten und jungen Doktors. Aus vielen unterschiedlichen Fäden zusammengesetzt, seiner loyalen Familie, seinen ihm gewogenen Lehrern, seinen Freunden aus den Leipziger Studiengesellschaften und seinen Gönnern in diversen Freimaurer-Logen, entsteht der Eindruck eines dicht gewobenen Beziehungsnetzes, das Ranke mit wohlformulierten Anschreiben und höflichen Treueschwüren pflegte, erweiterte und das er, so deutet Grypa bereits mit Blick auf seinen weiteren Aufstieg an, „für seine Zwecke zu nutzen“ wusste (S. XXXII). Um Rankes Karriere in seiner Korrespondenz in den folgenden Jahren mit gleicher Qualität weiterzuverfolgen, liegt allerdings noch viel Arbeit vor dem Editionsteam. Erst das vollständig in einer Reihe herausgegebene Briefwerk Rankes, flankiert von der Aufarbeitung des Nachlasses in der Staatsbibliothek, wird das Œuvre des Berliner Historikers angemessen würdigen. Man darf gespannt sein, welches neue (oder neu interpretierbare) Material die Folgebände dabei zu Tage fördern, das den Wandel des intellektuellen Netzwerks um Ranke sichtbar macht und damit den Grundstein zukünftiger Biografien legt.

Anmerkung:
1 Berthold Seewald, Wieder einmal am Ranke-Nachlass gescheitert, in: Die Welt, 01.07.2011.

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