W. Meyer: Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin

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Titel
Klatt. Hitlers jüdischer Meisteragent gegen Stalin: Überlebenskunst in Holocaust und Geheimdienstkrieg


Autor(en)
Meyer, Winfried
Erschienen
Berlin 2015: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
1287 S.
Preis
49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Bißmann, Berlin

Nicht erst die Arbeit der Historikerkommission beim Bundesnachrichtendienst sowie des Forschungsprojekts beim Bundesamt für Verfassungsschutz, deren Ergebnisse inzwischen zum Teil vorliegen, hat hierzulande die historische Relevanz nachrichtendienstlicher Institutionen ins kollektive Gedächtnis gerufen. Jüngst erschien unabhängig hiervon eine ganze Reihe geschichtswissenschaftlicher Publikationen zu dem Themenkomplex.1 Zu den gewichtigsten gehört die 1287 Seiten zählende Studie des Berliner Historikers Winfried Meyer zum V-Mann ‚Klatt’ der Abwehr, hinter dem sich der 1900 in Wien geborene Richard Kauder, Sohn eines jüdischen, 1905 jedoch zum katholischen Glauben konvertierten österreichisch-ungarischen Militärarztes verbarg. Ab Herbst 1941 hatte dieser aus Sofia – und später aus Budapest – unter anderem die sogenannten ‚Max’-Meldungen zu sowjetischen Beschlüssen und Truppenbewegungen an der Ostfront nach Wien und Berlin weiterleiten lassen, wo sie nicht wenige deutsche Militärs für „kriegswichtig“ hielten.

Mit bewundernswerter Akribie rekonstruiert Meyer Kauders wenig geradlinige Biographie, die mit dem ‚Anschluss’ Österreichs an den NS-Staat eine entscheidende Wendung nimmt. Der zuletzt als Immobilienmakler tätige Kauder sieht sich aufgrund seiner Herkunft im Juli 1938 zur Flucht nach Budapest gezwungen, wo er verschiedenen, nicht immer legalen Geschäften nachgeht. Als sich nach seiner Verhaftung und Abschiebung ins ‚Reich’ die Gelegenheit bietet, sich und seine Mutter, die nach den NS-Gesetzen trotz Konversion der Familie beide als ‚Volljuden’ gelten, vor der Verfolgung zu schützen, tritt er in die Dienste der Abwehrstelle Wien. Kauder, der darauf beim ‚Luftmeldekopf Südost’ in Sofia eingesetzt wird, wo er immer neue V-Leute rekrutiert, macht sich bald unersetzlich. Hierzu trägt die Quantität und vermeintliche Qualität seiner Meldungen sowie deren wachsender Empfängerkreis bei, zu dem unter anderem der Generalstab der Luftwaffe sowie die Schaltzentrale der Abwehr I an der Ostfront (‚Walli I’) gehört. Meyer zeigt vor allem, in welch erheblichem Maße die von Reinhard Gehlen geleitete Abteilung ‚Fremde Heere Ost’ (FHO) im Generalstab des Heeres ihre Feindlagebeurteilungen auf die ‚Max’-Meldungen stützte, deren Stellenwert mit dem kriegsbedingten Rückgang der Ergebnisse von Funk- und Luftaufklärung sogar noch weiter wuchs.

Da man auch nach dem von Hitler im Juli 1943 verhängten Verbot, Juden als V-Leute einzusetzen, nicht auf Kauders Dienste verzichten mochte, baute man ihn zur Umgehung des ‚Führerbefehls’ unter dem Decknamen ‚Karmany’ in den ungarischen Militärgeheimdienst in Budapest ein. Der Verhaftungswelle im Amt Ausland/Abwehr fielen 1944 in der Folge auch einige seiner NS-kritischen Unterstützer zum Opfer, so dass sich seine Lage weiter zuspitzte. Als seine neuen Vorgesetzten im Februar 1945 zudem erfuhren, dass Kauder seine ‚Max’-Meldungen ausschließlich von Longin Ira, einem zur ‚Weißen Bewegung’ gehörenden russischen Emigranten mit tschechischen Vorfahren, bezog, ließ man ihn als ‚überflüssig’ gewordenen Zwischenhändler unter dem Vorwand der Devisenverschiebungen verhaften. Bei Kriegsende entkam er nur knapp der Erschießung, kehrte aber bald im Auftrag des US-Nachrichtendiensts als dessen Großagent ‚Saber’ in sein altes Metier zurück. Seine mit ehemaligen Bekannten geplanten Operationen nahmen allerdings einen so desaströsen Verlauf, dass sein amerikanischer Vorgesetzter ihn für „verbrannt“ hielt und sogar seine „Liquidierung“ wünschte, schließlich aber doch Kauders Übergabe an die Briten zustimmte (S. 862). Bevor es hierzu kommen sollte, hatte dieser allerdings einen Selbstmordversuch unternommen, in dessen Folge er zunächst in das amerikanische Vernehmungslager ‚Camp King’ nach Oberursel verlegt wurde. Nach seiner Entlassung betätigte sich Kauder vor allem unternehmerisch, hatte hierbei jedoch ebenso wie bei seinem Versuch, sich bei verschiedenen Geheimdiensten wieder ins Spiel bringen, keinen Erfolg. Er verstarb schließlich hoch verschuldet, entmündigt und von schwerer Krankheit gezeichnet 1960 in Salzburg.

Auch Kauders Nachrichtenlieferanten Longin Ira, der mit dieser Tätigkeit während des Krieges nicht nur sein eigenes Auskommen, sondern auch die Organisation des exilierten russischen Bürgerkriegsgenerals Anton Turkul finanziert hatte, ließen die Amerikaner zeitweise für sich arbeiten. Wie Kauder und Turkul geriet er jedoch zunehmend ins Zentrum der Ermittlungen der englischen, amerikanischen sowie auch sowjetischen Nachrichtendienste, die das Rätsel der Herkunft der ‚Max’-Meldungen trotz intensiver Nachforschungen nicht abschließend zu klären vermochten. Meyer kommt zu dem Befund, dass die Meldungen, von denen die sowjetische Spionageabwehr nach einer Untersuchung letztlich nur ca. 8 % für zutreffend hielt, entgegen kursierender Versionen nicht von vermeintlichen oppositionellen Sowjetfunkern kamen. Ebenso wenig waren sie Bestandteil eines sowjetischen ‚Gegenspiels’. Es handelte sich schlicht um geschickte Kreationen Longin Iras, die auf Basis öffentlich zugänglicher Quellen wie z.B. Zeitungsmeldungen, persönlicher Erfahrungen und nicht zuletzt Phantasie entstanden waren (S. 985ff.).

Seine Recherchen führten Meyer in etwa 50 Archive. Während dieser Phase trugen unter anderem „günstige Bedingungen“ (S. 11) dazu bei, dass er auch Zugang zu Akten im Moskauer Zentralarchiv des russischen Inlandsgeheimdiensts FSB erhielt. Meyers Darstellungsweise besticht angesichts eines Dickichts Hunderter beteiligter Akteure und zahlreicher Handlungsstränge durch Übersicht. Die Vielzahl der gebotenen Perspektiven, die über eine militärgeschichtliche Betrachtungsweise weit hinausgehen, gehört zu den ausgesprochenen Stärken der Studie. Lebendig berichtet der Autor aus dem Milieu seines Protagonisten, zu dem unter anderem Abwehroffiziere, Diplomaten, ‚Bar-Girls’, russische Emigranten sowie vor allem auch vom NS-Regime Verfolgte und Oppositionelle gehörten, denen Kauders V-Mann-Netzwerk zeitweise Schutz vor Verfolgung bot.

Aus den zahlreichen Teilbefunden seiner insgesamt 26 Kapitel versucht der Autor schließlich ein schlüssiges Gesamtnarrativ der Ereignisse abzuleiten. Mit weiterführenden Thesen beschäftigt er sich allerdings kaum. Auch grundsätzliche Überlegungen zu Methoden sucht man vergeblich, ausführliche Einlassungen zur bisherigen Forschung findet man erst in der Schlussbetrachtung; der Leser selbst soll seine Schlüsse ziehen. Ist eine solche Verfahrensweise durchaus legitim, so birgt sie doch auch Gefahren. Gerade die in den zahlreichen ausgewerteten Nachkriegsvernehmungen enthaltenen Vermutungen, Zuschreibungen und Schutzbehauptungen erheben einen Wahrheitsanspruch, auch wenn Meyer ihnen nicht immer den Rang von Tatsachen einräumen kann. Dem an den zweifellos bemerkenswerten Ergebnissen interessierten Rezipienten wird in puncto Aufmerksamkeit und Sachkundigkeit daher einiges abverlangt.

Die Befunde der Studie zwingen unter anderem dazu, die Rolle Reinhard Gehlens und der FHO noch einmal neu zu bewerten. Denn die weitgehend vorbehaltlose Verwendung der wohl größtenteils erfundenen ‚Max’-Meldungen durch den späteren BND-Chef lässt diesen keineswegs als den geschickten Sachwalter erscheinen, als den ihn erst jüngst wieder eine Forschungsarbeit schilderte.2 Dass auch kritischere Geister unter den deutschen Militärführern die gefälschten Meldungen für bare Münze nahmen, erklärt Meyer unter anderem mit dem aus dem Zugang zum exklusiven Empfängerkreis erwachsenden Vorteilen sowie vor allem mit damit einhergehenden Karriereaussichten, die die Zweifel am Wahrheitsgehalt der Nachrichten aufgewogen hätten (S. 274f.). Es wäre lohnend gewesen, diesen Gedanken systematischer zu verfolgen, erwiesen sich die ‚Max’-Meldungen doch anscheinend als eine Art eigenständige Marke, ein symbolisches Kapital, dessen Akkumulation nicht selten den Aufstiegsaspirationen der NS-Geheimdienstelite diente. Ausführlicher setzt sich Meyer mit den Ursachen für die Fehleinschätzungen der alliierten Nachrichtendienste gegenüber der Herkunft der Meldungen auseinander, die die Leistungsfähigkeit und Professionalität ihres deutschen Pendants schlicht überschätzt hätten. Demnach hinterließ die Selbstdarstellung der deutschen Geheimdienstvertreter als integraler Teil einer professionellen „supranationalen“ Expertenelite bei westlichen Nachrichtendienstlern ihre gewünschte Wirkung (S. 998) – eine Sichtweise, die angesichts der rasanten und zuweilen äußerst unkritischen Übernahme vieler ehemaliger Abwehroffiziere und SD-Führer in die westlichen Nachrichtendienste nach 1945 durchaus überzeugt.

In den Kapiteln 25 und 26 seiner Darstellung dekonstruiert Meyer abschließend minutiös die bisherigen Narrative und Erfindungen der Historiker aus westlichen wie auch postsowjetischen Ländern bezüglich ‚Klatt’ und ‚Max’. In der deutschen Historiografie wurde die Legendenbildung unter anderem durch eine Arbeitsgemeinschaft ehemaliger Abwehrangehöriger befördert, die im Verbund mit dem BND noch vor den Memoiren Gehlens eine genehme Darstellung zur Geschichte der Abwehr vom Schriftsteller Gert Buchheit verbreiten ließ und allen Angehörigen Sprach- und Verhaltensregeln im Kontakt mit Außenstehenden auferlegte.

So gründlich Meyer der Genese bisheriger Versionen über ‚Max’ und ‚Klatt’ auch nachgeht, unterlaufen ihm mitunter Fehler. So kann der von ihm genannte russische Adelige Grigorij Nikolaevič Glebov kaum mutmaßlicher Anführer der monarchistischen Widerstandsgruppe in der Sowjetunion gewesen sein, die zum Ausgangspunkt der NKVD-Operation ‚Monastyr’ wurde, da er bereits 1930 in Berlin gestorben war (S. 585 u. 1181f.).3 Meyer kritisiert in den Schlusskapiteln mit Recht die Unzuverlässigkeit der Enthüllungsmemoiren des NKVD-Offiziers Sudoplatov, übernimmt aus diesen aber an anderer Stelle selbst Fehler (so z.B. zum Tod von Nadežda V. Plevickaja, S. 133). Zu bemängeln ist auch, dass der Autor „russisch“ und „sowjetisch“ oft analog verwendet und so z.B. das wolhynische Luc’k zur russischen Stadt erklärt (S. 66). Vsevolod N. Merkulov erscheint mehrfach als „NKVD-Chef“, war tatsächlich aber dessen Stellvertreter bzw. NKGB-Leiter (S. 543ff.). Zu den Schönheitsfehlern gehören auch die wenig konsistenten Schreibweisen vieler Orte und Namen sowie die uneinheitlichen Transliterationen aus den verschiedenen kyrillischen Alphabeten. Aber vor allem hätte die Studie durch die Formulierung weiterführender Thesen noch an Überzeugungskraft gewinnen können.

Nichtsdestotrotz lässt sich festhalten, dass allein Meyers Beitrag zur Klärung des Ursprungs und der Rezeption der ‚Max’-Meldungen, über die seit Jahrzehnten kaum mehr als Spekulationen in Publizistik, Memoiren und Forschungsliteratur zu finden waren, eine beachtliche Leistung darstellt. Sein Buch ist nicht nur hinsichtlich der damit demonstrierten empirischen Gründlichkeit über jeden Zweifel erhaben, sondern hat auch eine lange bestehende Forschungslücke auf recht eindrucksvolle Weise geschlossen.

Anmerkungen:
1 Um einige zu nennen: Helmut Müller-Enbergs / Armin Wagner (Hrsg.), Spione und Nachrichtenhändler: Geheimdienst-Karrieren in Deutschland 1939–1989, Berlin 2016; Lisa Medrow / Daniel Münzner / Robert Radu (Hrsg.), Kampf um Wissen. Spionage, Geheimhaltung und Öffentlichkeit 1870–1940, Paderborn 2015; Enrico Heitzer, Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959, Köln 2015; Erich Schmidt-Eenboom / Ulrich Stoll, Die Partisanen der NATO. Stay-Behind-Organisationen in Deutschland 1946–1991, Berlin 2015.
2 Magnus Pahl, Fremde Heere Ost. Hitlers militärische Feindaufklärung, Berlin 2012.
3 B. Ju. Ivanov / A. A. Komzolova / I. S. Rjachovskaja, Gosudarstvennaja duma Rossijskoj Imperii, Moskva 2008, S. 130f.

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