G. Kühling: Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen in Berlin

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Titel
Erinnerung an nationalsozialistische Verbrechen in Berlin. Verfolgte des Dritten Reiches und geschichtspolitisches Engagement im Kalten Krieg 1945–1979


Autor(en)
Kühling, Gerd
Erschienen
Berlin 2016: Metropol Verlag
Anzahl Seiten
581 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Enrico Heitzer, Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten, Oranienburg

Vielleicht, so überlegte Norbert Frei vor gut zehn Jahren, werde man in der europäischen Nachkriegsgeschichte des Völkermordes an den Juden einmal „eine der wenigen dünnen Verbindungslinien erkennen, die dem Kontinent im Zeichen seiner politischen Teilung während des Kalten Krieges geblieben“ seien – „Reste einer gemeinsamen Erfahrung und Erinnerung, die in den nach 1945 überall entstehenden Opferverbänden bewahrt“ wurden. „Einstweilen“ wüssten wir noch zu wenig über diese „Erinnerungsnetze“, die Überlebendengruppen spannten – „soweit und solange es ging, auch über den Eisernen Vorhang hinweg“.1 Gerd Kühling untersucht in seiner 2013 in Jena angenommenen, von Norbert Frei betreuten Dissertation mit dem Berlin der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte einen besonderen Ort der NS-Erinnerung. Er adressiert anhand dieses Fallbeispiels das angeführte Desiderat, auch wenn er sich keineswegs auf die Nachgeschichte des Holocaust beschränkt.

Der Autor untersucht das Feld der Erinnerungspolitik in einem einzigartigen Verflechtungsraum, wo sich der Ost-West-Konflikt einerseits mit besonderer Schärfe entwickelte, aber andererseits auch schneller als anderswo ein System von Interaktionen zur sukzessiven Überwindung des Kalten Krieges entstand. Kühling analysiert die Erinnerung an die NS-Verbrechen aus der Perspektive einer „integrierten Nachkriegsgeschichte“ (Christoph Kleßmann). Er zeigt nicht nur die Unterschiede zwischen den Verfolgtenverbänden sowie in der Erinnerungs- und Memorialkultur, sondern fragt auch nach strukturellen Gemeinsamkeiten in Ost- und West-Berlin. Dazu wählt er einen organisationsgeschichtlichen und einen biographischen Zugang, deren Kombination trotz einiger Redundanzen gut funktioniert.

Das Hauptaugenmerk liegt auf den nichtstaatlichen Erinnerungsinitiativen, die bis in die 1970er-Jahre hinein die wichtigsten Akteure dieses Feldes waren – in Ost und West gleichermaßen. Kühling betont, dass der frühe und hochumstrittene Formierungsprozess einer heute als selbstverständlich angesehenen Berliner Gedenk- und Erinnerungslandschaft in den Hintergrund getreten sei. Gerade Einzelpersonen aus dem Kreis der aktiven Überlebenden wie Adolf Burg, Heinz Galinski oder Hans Freund würden inzwischen kaum noch erwähnt, und es seien teilweise gar biographische Falschinformationen im Umlauf (S. 13).

Kühlings Arbeit gliedert sich in vier Hauptteile. Der erste Teil beginnt mit der Befreiung vom Nationalsozialismus und endet bei der doppelten Staatsgründung 1949. In diesem Zeitraum wurden die ideellen und organisatorischen Fundamente für die Folgejahrzehnte gelegt. Unter den Vorzeichen des aufziehenden Kalten Krieges entstanden einige Opferorganisationen und Erinnerungskollektive, in denen frühzeitig Streit herrschte – der nicht immer entlang parteipolitischer Trennlinien verlief, aber sich nach und nach immer stärker daran ausrichtete. Neben der Erinnerung an den NS-Terror ging es auch um tagespolitische Fragen, „Lehren aus der Geschichte“, aber ebenso um Angelegenheiten der sozialen Fürsorge.

Die Spaltung des Gedenkens vertiefte sich 1948, wie Kühling konstatiert: Wenige Tage nach der Blockade-Rede Ernst Reuters an die „Völker der Welt“, neben dem der SPD-Landesvorsitzende Franz Neumann von den „Opfer[n] totalitärer Mächte“ der Jahre „1933 bis 1948“ sprach und die sowjetischen Speziallager mit den NS-Konzentrationslagern gleichsetzte (S. 119f.), wurde der Tag der „Opfer des Faschismus“ (OdF) am 12. September 1948 in Ost- und West-Berlin getrennt begangen. Selbst Holocaust-Überlebende setzten unter dem Rubrum des Totalitarismus teilweise das SBZ-Regime mit der NS-Herrschaft gleich. Der aufgeheizte Kontext begünstigte es, dass die Anliegen der NS-Verfolgten aus dem Blick geraten konnten: Kühling weist nicht nur auf die östliche Instrumentalisierung und politische Gängelung dieser Personengruppe hin, sondern gleichzeitig auf eine Berichterstattung in West-Berlin, die das „Tor zum Generalverdacht, nach dem alle NS-Verfolgten Werkzeuge eines roten Totalitarismus waren […], noch weiter aufgestoßen“ habe. Es kam zu Angriffen auf OdF-Dienststellen, Gedenktafeln wurden mit Hakenkreuzen beschmiert, Personen mit Abzeichen der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) attackiert (S. 120f.).

Der zweite Part widmet sich der Hochphase des Kalten Krieges von 1950 bis 1953. Während 1949/50 die Gedenkanlage im Treptower Park, der Thälmann-Platz an der Sektorengrenze (auf dem ein Denkmal errichtet werden sollte) und ein Mahnmal zu Ehren der jüdischen NS-Opfer auf dem Friedhof in Weißensee eingeweiht wurden, entstanden in Westteil zunächst vor allem Monumente, die nichts mit der Zeit bis 1945, dafür aber umso mehr mit einem antikommunistischen Zeitgeist zu tun hatten – etwa 1951 das Luftbrückendenkmal vor dem Flughafen Tempelhof oder am Steinplatz in Charlottenburg der erste deutsche Gedenkstein für die Stalinismus-Opfer. Erst 1953 erhielten die NS-Opfer in direkter Nachbarschaft ebenfalls ein Denkmal (S. 184). Kurz davor hatte die VVN am S-Bahnhof Grunewald, formal DDR-Hoheitsgebiet, eine Gedenktafel angebracht. Weil sie an die „Zehntausenden jüdischen Bürger Berlins“ erinnerte, die deportiert worden waren, war dies die konkreteste Holocaust-Anklage, die zeitgenössisch in Gesamtberlin zu finden war (S. 286ff.).

Während einer spätstalinistisch-antijüdischen Kampagne verließen 1952/53 Hunderte Juden die DDR. Der Kalte Krieg berührte auch ihr Leben unmittelbar. So agierte die antikommunistische Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit, über deren Vorsitzenden Ernst Tillich bei Kühling neue Details zu finden sind, mit antisemitischem Unterton gegen den „Bolschewisten“ Julius Meyer2, während einige Medien bereits von umfassenden „Rassenverfolgungen“ im Osten sprachen (S. 228f.). Meyer, bis Anfang 1953 der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Ost-Berlins, wie Tillich KZ-Überlebender, wanderte später nach Brasilien aus, weil ihm in West-Berlin die Anerkennung als politischer Flüchtling verweigert wurde.

In einem dritten Schritt betrachtet der Autor die Zeit vom 17. Juni 1953 bis zum Mauerbau 1961. Zentral ist die Darstellung des Aufstandsversuches, bei der Kühling – wie generell in seiner Studie – die Sicht von NS-Überlebenden besonders akzentuiert. Er deutet den 17. Juni aus dieser Warte auch als nationalistisch unterlegte Aufwallung, welche die zuvor verstärkte nationale SED-Propaganda aufgriff, die zudem „mit den Kampagnen nach dem Slánský-Prozess [Ende 1952 in Prag] geradezu“ spekuliert habe, „Bevölkerungsteilen entgegenzukommen, in denen ein latenter Antisemitismus“ vorhanden war (S. 227). Etliche NS-Überlebende, besonders Angehörige des Komitees der Antifaschistischen Widerstandskämpfer, seien von der offiziellen Interpretation durchaus überzeugt gewesen, dass ein „faschistischer Putsch“ gescheitert sei. Sie hätten vor allem die Aufstandsursachen anders beurteilt. Am 17. Juni schien ihnen deutlich geworden zu sein, dass die Reaktivierung des Antisemitismus „nicht ohne Wirkung geblieben war“ (S. 249). Wie im Herbst 1948 seien wieder „Kameraden, die das VVN-Zeichen trugen, tätlich angegriffen“ worden. „Nicht wenige ostdeutsche Juden“ habe der Aufstand „an die Ereignisse des Jahres 1933 oder die Pogrome vom 9. November 1938“ erinnert (S. 253ff.).

Entscheidend wurde das Jahr 1953 auch in anderer Hinsicht: Neben den Fluchten von Juden erfolgte die Teilung ihrer Gemeinde und die Auflösung der VVN. Die memorialpolitische Formierungsphase war abgeschlossen. In Ost-Berlin wurde primär der kommunistische Widerstand in Erinnerung gehalten, während der Fokus in West-Berlin auf dem Umsturzversuch des 20. Juli 1944 lag – eine für Jahrzehnte konstitutive Konstellation. Kühling erläutert zudem die DDR-Einwirkungsversuche in West-Berlin. Propagandabroschüren waren dort leichter zu erhalten als in der Bundesrepublik, was mit dazu geführt habe, dass der Senat stärker auf die östliche Geschichtspolitik zu reagieren hatte. Innensenator Joachim Lipschitz (SPD), so eine These, habe mit seiner Initiative zur Ehrung „unbesungener Helden“ unter anderem versucht, der DDR-Propaganda etwas entgegenzustellen (S. 339ff.).

Der letzte Hauptteil widmet sich dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in den 1960er- und 1970er-Jahren. Dabei schildert Kühling ausführlich das Projekt eines Internationalen Dokumentationszentrums zur Erforschung des Nationalsozialismus und seiner Folgeerscheinungen, das der Holocaust-Überlebende und Historiker Joseph Wulf (1912–1974) als sein eigentliches Lebenswerk bezeichnete (S. 366). Eingehend analysiert Kühling das Scheitern des Versuches, am Ort der Wannsee-Konferenz von 1942 etwa Kopien der verstreuten und teilweise schwer zugänglichen Dokumente zur NS-Zeit sowie zu Prozessen zusammenzutragen. Das Ende der Arbeit bildet ein knapper Ausblick.

Das gut lesbare und gründlich recherchierte Buch zeichnet sich durch einen aufgeklärten Blick auf den Systemkonflikt aus. Zu kritisieren ist eine fehlende Berücksichtigung alliierter Quellen – die Rolle der Besatzungsmächte bleibt unterbelichtet. So fehlt es der Darstellung einer „diplomatischen“ Rolle, aber auch möglicher geheimdienstlicher Instrumentalisierungen von NS-Opfern und ihren Verbindungen über die Demarkationslinien des Kalten Krieges hinweg etwas an Tiefenschärfe. Abgesehen von zweifellos vorhandenen Kontakten zum Ministerium für Staatssicherheit ist beispielhaft ein Beschluss des US-Nachrichtendienstes CIA von 1952 zu nennen, innerhalb des antitotalitären Opferverbandes „Bund Freiheit und Recht“ eine Gruppe in der DDR aufzubauen, die sich „mit Sabotage und anderen paramilitärischen Aktivitäten“ beschäftigen sollte.3

Gerd Kühlings Arbeit belegt einmal mehr, wie ertragreich die wissenschaftliche Beschäftigung mit NS-Opfern als Akteuren von Erinnerungspolitik und -kultur sein kann. Seine Ausführungen machen deutlich, dass (wie Norbert Frei im zitierten Aufsatz schreibt) diese „transnationalen Gedächtnisse in den europäischen Nachkriegsgesellschaften zu einer Art Katalysatoren der kollektiven Erinnerung“ werden konnten – und dass es das Verdienst der Überlebenden war, die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in Gang zu setzen und zu halten.

Anmerkungen:
1 Norbert Frei, Auschwitz und die Deutschen. Geschichte, Geheimnis, Gedächtnis, in: ders., Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2005, S. 156–183, hier S. 177f.
2 Vgl. Keith R. Allen, Befragung – Überprüfung – Kontrolle. Die Aufnahme von DDR-Flüchtlingen in West-Berlin bis 1961, Berlin 2013, S. 79–86.
3 Vgl. Enrico Heitzer, Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit (KgU). Widerstand und Spionage im Kalten Krieg 1948–1959, Köln 2015, S. 393.