E. Grothe u.a. (Hrsg.): Liberalismus als Feindbild

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Titel
Liberalismus als Feindbild.


Herausgeber
Grothe, Ewald; Sieg, Ulrich
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
306 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Hanisch, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Das Buch enthält bis auf eine Ausnahme die Vorträge einer Tagung mit dem gleichnamigen Titel „Liberalismus als Feindbild“, welche die Theodor-Heuss-Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung 2013 veranstaltete. Aus dem Titel ist schon ersichtlich: Es reiht sich ein sowohl in die Liberalismus- als auch in die Konservativismus-Forschung und enthält 13 Aufsätze mit sehr unterschiedlichen Themen über den weiten Zeitraum von den Freiheitskriegen bis in die 1970er-Jahre. Die Aufsätze stammen allesamt von Forschern, die sich auf den Gebieten der Geschichte der politischen Bewegungen oder der politischen Ideengeschichte ausgewiesen haben. Sie sind zu einem Teil Zusammenfassungen oder Nebenprodukte auf der Basis schon bekannter Veröffentlichungen. Es finden sich aber auch originäre und manchmal auch sehr originelle forschungsbasierte Beiträge. Das liegt auch an dem anspruchsvollen Thema „Liberalismus als Feindbild“, anspruchsvoll, weil es in einem seltenen Ansatz die Geschichte gegensätzlicher parteipolitischer Richtungen zusammenbindet. Denn häufig behandeln Liberalismus-Forscher den Liberalismus, die nicht so zahlreichen Konservativismus-Forscher den Konservativismus, alle Forscher der politischen Bewegungen die Geschichte „ihrer“ politischen Bewegung, häufig mit Nähen zu der jeweiligen parteipolitischen Richtung. Das gilt auch für den einen oder anderen Autor dieses Buches.

Klaus Ries arbeitet „Antiliberales Gedankengut in den Freiheitskriegen“ heraus und stellt fest: Schon von den ersten Anfängen gibt es innerhalb der fluiden, das heißt sich erst formierenden liberalen und demokratischen Bewegung auch extrem nationalistische Strömungen, primär gegen die Franzosenherrschaft gerichtete Xenophobie und auch nicht frei von antisemitischen Tendenzen. So lauter sind die Anfänge der liberalen und nationalen Bewegung nicht. Resümierend stellt Ries mit den Worten von Friedrich Theodor Fischer fest, dass „von den zwei Prinzipien […] das der nationalen Einheit und Macht im Grunde viel stärker war, als das der Freiheit“ (S. 39).

Während Ries die später so verhängnisvoll werdenden Tendenzen innerhalb der liberalen Bewegung herausarbeitet, wendet sich Hans Christof Kraus reziprok dazu dem Thema „Liberalismusdeutung und Liberalismuskritik bei Stahl und Gerlach“ zu, beide ideologische Exponenten der Restauration und der sich ebenfalls erst formierenden politischen Bewegung des Konservativismus. Kraus ist gegen politisches Schubladendenken und stellt unerwartet fest, dass Stahl und Gerlach „sich nicht nur in antiliberaler Polemik ergangen haben, sondern bestimmte Stärken und ebenfalls wenigstens ein partielles historisches Recht des Liberalismus durchaus anerkannt und auf den Begriff gebracht haben“ (S. 72).

Auch Andreas Fahrmeier dekonstruiert in seinem Artikel „Sozialer Wandel und politische Restauration in der Ära Metternich“ einmal die gemeinhin immer noch verbreitete Annahme einer „Opposition zwischen sozialem Wandel und restaurativer Politik“ (S. 41) gleich zweimal. So durchgreifend sei der soziale Wandel in der Restaurationszeit nicht gewesen, als dass damit die Restaurationspolitik begründet werden könnte und: So rückschrittlich-reaktionär sei die Ära Metternich auch nicht gewesen. Die Habsburgermonarchie sei – man merke auf – „nicht nur erheblich ‚moderner’ und kulturell erheblich flexibler als Preußen, sondern auch nach innen erheblich stärker an den Traditionen der josephinischen Reformen orientiert als in einer Restaurationspolitik im Sinne einer Rückkehr zum Absolutismus“ (S. 47). Während die metternichsche Politik der Friedenssicherung schon seit längerem positiv gewürdigt wird, sieht Fahrmeier Österreich auch auf dem gesellschaftlichen Gebiet partiell moderner aufgestellt als selbst Preußen. Zu wünschen wäre, dass diese Kritik an dem Narrativ der Fortschrittlichkeit Preußens und umgekehrt dazu der Rückschrittlichkeit Österreichs in der Forschung und Öffentlichkeit stärker diskutiert wird.

Einer der originellsten Aufsätze ist der von Andrea Hopp „Zum Antiliberalismus adeliger Frauen: Familienalltag bei Otto von Bismarck“. Briefe und Tagebuchaufzeichnungen der Ehefrau Bismarcks, seiner beiden Töchter und seiner Schwiegertochter wurden ausgewertet, also Quellen, die von der Forschung nur wenig berücksichtigt werden. Das Ergebnis: Eine Milieuschilderung, in der Bismarck und seine Familie in nicht mehr zu überbietender Deutlichkeit sich als Reaktionäre erweisen, die persönlich jeden Umgang mit Liberalen schroff ablehnen und liberalen Ideen nur Verachtung entgegenbringen. Wenig bekannt: Mit Enterbung und Selbstmorddrohungen gar versuchte der große Kanzler seinen Sohn Herbert von Bismarck von einer Mesalliance mit einer Dame aus gemäßigt liberalem Haus abzubringen, übrigens mit Erfolg.

Ulrich Sieg widmet sich auf der Basis seiner vielfältigen Veröffentlichungen den Nähen von „Antisemitismus und Antiliberalismus im Kaiserreich“ und stellt zusammenfassend fest, dass Antisemitismus mit der Schwächung des politischen Liberalismus einherging und der Jude zum Feindbild par excellence für alle antibürgerlichen, nationalistischen und konservativen Ideologien avancierte. Die vielfältigen Nähen belegt Sieg dann vor allem mit den Schriften von Paul de Lagarde und Houston Stewart Chamberlain.

Jürgen Frölich untersucht das in vieler Hinsicht schillernde Denken Friedrich Naumanns. Der Leser gewinnt als Ertrag des Aufsatzes die Erkenntnis, wie ungemein flexibel Friedrich Naumann taktierte, insbesondere in Bezug auf mögliche politische Bündnispartner. Als die Zeiten überdauernde Konstanten schälen sich allenfalls Naumanns Gegnerschaft zum politischen Katholizismus und zum ostelbischen, agrarisch geprägten Konservativismus heraus.

„Der Krieg der Geister“ von Peter Hoeres widmet sich einmal mehr der ideologischen Kriegspropaganda des 1. Weltkrieges in Deutschland und England und arbeitet heraus – für viele wohl neu – dass die Selbsteinschätzung und die Fremdeinschätzung des jeweils anderen nicht immer den sattsam bekannten Stereotypen folgen: Hier England als der Vorkämpfer von Liberalismus und Demokratie, dort das Kaiserreich als Hort von Autokratie und Militarismus. Denn so ein Ergebnis von Hoeres: Es gibt auch antiliberale britische Ideologeme mit Anleihen aus der deutschen Geistesgeschichte.

Jens Hacke untersucht die von Selbstkritik und Selbstzweifel geprägte Krise des liberalen Denkens der Zwischenkriegszeit, in der der Liberalismus politisch zunehmend obsolet wurde. Jedoch gibt es einige wenig bekannte Vordenker der liberalen Sache, die gerade in der Krise liberales Gedankengut zukunftsweisend reformieren wollten: Abkehr vom Manchestertum und Sensibilität für die soziale Frage, Neudefinition der Rolle des Staates. Hackes sehr gegenwartsbezogenes Resümee: „Wenn turnusgemäß vom Untergang des Liberalismus, der Krise des Kapitalismus, vom vermeintlichen Zu-Tode-Siegen der liberalen Idee die Rede ist, so finden wir bereits all diese Fragen (und einige Antworten) in den Schriften der Zwischenkriegszeit.“ (S. 178f.)

Ewald Grothe thematisiert die bedenkliche Haltung eines Großteils der Historiker der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus und kommt schon für die Weimarer Republik zu dem Ergebnis, dass „Liberalismus als Feindbild [...] als Motto über einem Großteil der deutschen Geschichtsschreibung stehen“ könnte (S. 200). Für viele Historiker war Liberalismus schlechterdings ein undeutscher Fremdimport.

Reinhard Mehring untersucht mehr politologisch als historisch „Carl Schmitts Beisetzung des klassischen Liberalismus“, so der Untertitel seines Beitrags. Bemerkenswert ist eine ungewohnte Aktualisierung Carl Schmitts. Mehring sieht durchaus Parallelen zu Schmitt heute, und zwar bei der Bewältigung der EU-Krisen, weil sie zunehmend unter Umgehung von bestehenden Regeln und Gesetzen durch die Exekutive, durch die Regierungen, gelöst werden. Also Fälle von so verhängnisvollen Rechtsdurchbrechungen?

Anne C. Nagel beschäftigt sich mit dem insgesamt als tragisch zu bewertenden Historiker Wilhelm Mommsen, dem der Vorwurf gemacht wurde, sich nach 1933 als ehemals liberal eingestellter Demokrat zu sehr an das „Dritte Reich“ angepasst zu haben und der deshalb im November 1945 aus dem Dienst der Universität Marburg entlassen wurde.

„Zwischen Freiheitsrevolte und Gegenbürgerlichkeit“ siedelt Wolfgang Kraushaar die 68er-Bewegung an. Freiheitsrevolte, weil die Emanzipation des Einzelnen ein genuines Anliegen sowohl der 68er wie des Liberalismus gewesen ist. Aber gleichzeitig lehnten die 68er, wenn man das pauschal so sagen kann, den liberalen bürgerlichen Verfassungsstaat ab.

Ebenfalls ambivalent in Bezug auf ihren liberalen Gehalt ordnet Wolther von Kierseritzky die „Tendenzwende(n)“ in der faktischen Politik der 1960er- und 1970er-Jahre ein. „Zentralisierung und Etatismus auf der einen Seite, Emanzipation und größere Teilhabe“ auf der anderen Seite“ (S. 295).

Die Aufsätze behandeln allesamt Facetten zum originellen Thema „Liberalismus als Feindbild“. In der Gegnerschaft zum Liberalismus werden so Kernprobleme und Kernanliegen der liberalen Bewegung über die Zeiten auf eine andere, durchaus neue Weise deutlich. Das ist die wissenschaftliche und vielleicht auch die politische Absicht des Buches. Die Beiträge gehen ausnahmslos in die Tiefe, aber das Thema ließe noch viele andere Beiträge zu. So wäre zu wünschen, dass dieses Buch Anregung für viele weitere Untersuchungen sein möge.