H. Böning: Julius Moses. Volksarzt und Prophet des Schreckens

Titel
Volksarzt und Prophet des Schreckens. Julius Moses.. Ein jüdisches Leben in Deutschland


Autor(en)
Böning, Holger
Reihe
Presse und Geschichte – Neue Beiträge 100
Erschienen
Bremen 2015: Edition Lumière
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 29,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Susanne Wein, Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Magdeburg

Mit der Biografie des Bremer Professors für Neue Deutsche Literatur und Pressehistorikers Holger Böning zum ehemaligen Reichstagsabgeordneten Julius Moses liegt ein besonderes Buch vor: Es fußt auf den von Moses nach 1933 geordneten und kommentierten Erinnerungen, die vom nichtjüdischen Teil seiner Familie über die Zeit des Nationalsozialismus gerettet wurden (S. 315). Julius Moses wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort bald darauf im Alter von 74 Jahren. Es ist also die Biografie eines in der Shoah Ermordeten, der durch die Quellen umfangreich selbst zu Wort kommen kann.

„Ein jüdisches Leben in Deutschland“ heißt es im Untertitel lapidar. Dabei ist Moses‘ vielfältiges Leben als Arzt, als Publizist, als Mitglied des Reichstags und sein Wirken als Kämpfer gegen Antisemitismus, als Zionist und Mentor einer „jüdischen Renaissance“ sowie als Sozialist und Sozialpolitiker außerordentlich bemerkenswert. Nachdem bislang nur der Briefwechsel von Moses, hauptsächlich mit seinem Sohn Erwin in Tel Aviv1, publiziert und Teilaspekte von Moses Lebens behandelt worden sind2 – oft gingen die Veröffentlichungen auf Moses‘ Sohn Kurt Nemitz zurück –, hat Böning nun die lange fällige Biografie verfasst. Sie sollte zu Nemitz‘ 90. Geburtstag erscheinen, den dieser leider nicht mehr erlebte.

Böning ergänzt fehlende Aussagen bei Moses wie zum Beispiel über eine ostjüdische Sozialisation des 1868 in der Gegend um Posen Geborenen (S. 13, 17–34), oder über das Medizinstudium in Greifswald in einer überwiegend judenfeindlichen Studentenschaft (S. 37–44) mit vergleichbarer Erinnerungsliteratur und anderen Quellen.

Am schwierigsten war die Aufgabe des Biografen sicher für die Zeit nach 1933, die ein Drittel des Buches ausmacht. Hier finden sich erschütternde Zeugnisse über die erzwungene räumliche Trennung von der Lebensgefährtin und dem gemeinsamen Sohn, der als „Halbjude“ unbedingt geschützt werden musste und seinen Vater nur noch als „Onkel Julius“ bezeichnen durfte (S. 315). Es gibt im Nachlass Zeitungsausschnitte über die immer perfideren Verordnungen gegen die verbliebenen Juden und verklausulierte Äußerungen im Briefwechsel, die das tägliche Leiden sehr plastisch werden lassen. Ein Beispiel dafür ist die für einen starken Raucher schwierige Entbehrung von genießbaren Zigarren.

Julius Moses engagierte sich ab 1895 nach seiner Approbation als Arzt, der Heirat und dem Umzug nach Berlin politisch, zunächst im Rahmen der Freisinnigen Volkspartei. Er setzte sich immer für die Aufklärung gegen Judenfeindschaft ein und war bereits kurz nach der Gründung Mitglied im Centralverein deutscher Staatsbürger Jüdischen Glaubens (CV). Um 1900 begann die „Jüdische Epoche“ von Moses, wie er sie selbst später bezeichnete. Diese Dekade hat Moses‘ Reflexionen über seine Identität nach 1933 offensichtlich stark beeinflusst, was von Böning aber kaum analysiert wird.

1902 gründete Moses die Wochenzeitung „General-Anzeiger für die gesamten Interessen des Judentums“ (GA), und einen Verlag, in dem kurzzeitig das von Theodor Herzl angeregte illustrierte Witzblatt „Schlemiel“ erschien. Außerdem gab er deutsch-jüdische Anthologien, Novellen- und Romansammlungen sowie einen jüdischen Almanach heraus. Julius Moses war durch seine Publikationen eine wichtige Figur in der neuen selbstbewusst-jüdischen und pro-zionistischen Generation. Befreundet war Moses beispielweise mit Sammy Gronemann und Ephraim Moses Lilien. Der Pressehistoriker Böning hebt zurecht den weitgehend unerforschten Quellenwert des GA hervor.3 Neben Berichten wurde in der Zeitung wurde über Pogrome in Osteuropa und Russland sowie den zunehmenden Antisemitismus in Deutschland und den Zionismus, dem Moses mehr als aufgeschlossen gegenüberstand, diskutiert (vgl. S. 71–77, 84–96, 255f.). Dies brachte eine Entfremdung vom assimilierten Judentum des CV mit sich. Großes Aufsehen erregte auch Moses‘ Umfrage zur „Lösung der Judenfrage“, die er 1907 als Buch veröffentlichte.4

Um 1910 schloss sich Moses der Sozialdemokratie an; seine langsame Hinwendung zur Arbeiterpartei zeichnet Böning mit GA-Artikeln nach. In der SPD wollte der „Volksarzt“ für seine Klientel konkrete Besserungen erwirken, sie nicht bloß auf die Zukunft verweisen (S. 142). Moses hatte früher schon die Haltung der Partei zum Antisemitismus verfolgt und die gedruckte Rede August Bebels auf dem Kölner Parteitag von 1893 mit Markierungen und Kommentaren versehen (S. 57f., 359). Wie bei anderen Genossinnen und Genossen jüdischer Herkunft, die jedoch meist jünger waren als Moses, werden das Gleichheitsversprechen und die offizielle Zurückweisung von Antisemitismus eine Motivation für das Engagement in der Partei gewesen sein.

Während des Krieges entwickelte sich Moses zum Kriegsgegner und gründete wie Anna Nemitz, die Mutter seiner neuen Lebensgefährtin Elfriede Nemitz, die USPD mit. Fast durchweg war Moses von 1920 bis 1932 für die Sozialdemokraten Reichstagsabgeordneter sowie im Parteivorstand (S. 173). Sein Hauptaugenmerk lag hier auf Reformen in der Gesundheitspflege sowie auf Verbesserungen der Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Proletariat.

Julius Moses Auftreten gegen Antisemitismus, der ihn häufig selbst traf, war durchweg Teil seiner politischen Tätigkeit. Republik- und Judenfeindschaft sah er Hand in Hand gehen. Nach dem Mord an Außenminister Rathenau war es Moses, der am 6. Juli 1922 im Reichstag die Rede hielt, die den Zusammenhang am deutlichsten kennzeichnete.5 Das antisemitische Programm und Gesetzesentwürfe der Deutschvölkischen und Nationalsozialisten registrierte Moses aufmerksam. 1932 veröffentlichte er im „Vorwärts“ die Artikel: „Der Kampf gegen das ‚Dritte Reich‘ – ein Kampf für die Volksgesundheit“ und „Die Hetze gegen die jüdischen Ärzte“. Darin zeigte er die völlige Entrechtung jüdischer Staatsbürger in einem NS-Staat auf und wurde damit zum „Prophet des Schreckens“ (S. 212).

Insofern machte sich Moses keine Illusionen als die NSDAP an die Macht gewählt wurde, und dennoch betrieb er keine Pläne zur Flucht. Sein einziger Trost war, den Sohn Erwin mit Familie seit Sommer 1933 in Erez Israel zu wissen. Sein anderer Sohn, Rudi, konnte sich mit Familie im Oktober 1938 über Shanghai nach Manila retten. Dagegen fielen seine Tochter und die Mutter dieser Kinder der Shoah zum Opfer.

Holger Böning hat die Biografie in 17 Kapiteln lesenswert zusammengestellt. Der schön gestaltete Band wird durch einen 35-seitigen Bildanhang mit Bild- und Textzeugnissen aus dem Nachlass und ein Personenregister abgerundet. Ein kleiner Makel in der Aufmachung sind fehlende Unterkapitel, die das Buch stringenter gegliedert hätten. An manchen Stellen wünscht man sich mehr Verweise auf den Forschungsstand und zur Sekundärliteratur.6

Abgesehen von diesen Kritikpunkten, ist die Lektüre höchst spannend. Sie bietet, am besten in Kombination mit dem Band von Fricke (vgl. Anm. 1), einen erhellenden Einblick in die Selbstverortung eines deutsch-jüdischen Sozialdemokraten, der exemplarisch für eine ganze Reihe von in der Weimarer Zeit politisch Aktiven steht. Sie setzten all ihre Hoffnungen und Bemühungen in die erste deutsche Republik und ihre Lebenswege wurden durch die Barbarei des Nationalsozialismus abrupt verändert und zumeist total zerstört.

Anmerkungen
1 Dieter Fricke, Jüdisches Leben in Berlin und Tel Aviv 1933 bis 1939. Der Briefwechsel des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Dr. Julius Moses, Hamburg 1997.
2 Erst 1985 erschien die erste Buchveröffentlichung über Moses: Daniel S. Nadav, Julius Moses (1868–1942) und die Politik der Sozialhygiene in Deutschland, Gerlingen 1985; des weiteren Aufsätze und Teilkapitel: Artikel von Kurt Nemitz – zwischen 1983 und 2000 publiziert – wurden wieder abgedruckt in Kurt Nemitz, Die Schatten der Vergangenheit, Oldenburg 2000; Kurt Nemitz, Von ‚Heißspornen‘ und ‚Brauseköpfen‘: Julius Moses, der ‚Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums‘ (1902–1910) und der Schlemiel (1903–1906), in: Michael Nagel (Hrsg.), Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung, Hildesheim 2002, S. 233–252; Michael Schneider (Hrsg.), Julius Moses. Schrittmacher der sozialdemokratischen Gesundheitspolitik in der Weimarer Republik (Begleitheft zu einer Ausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung), Bonn 2006; Susanne Wein, Fünf Abgeordnete, 2.4. Julius Moses, in: dies. (Hrsg.), Antisemitismus im Reichstag. Judenfeindliche Sprache in Politik und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2014, S. 343–355.
3: Der GA wurde vom Leo Baeck Institute vollständig digitalisiert und frei zugänglich gemacht unter: https://archive.org/details/generalanzeigerf01unse (16.09.2016), vgl. auch Böning, Julius Moses, S. 70f.
4 Wieder aufgelegt von Astrid Blome / Holger Böning u.a. (Hrsg.): Die Lösung der Judenfrage. Eine Rundfrage von Julius Moses im Jahre 1907, Bremen 2010.
5 Wein, Antisemitismus im Reichstag, S. 345f.; Böning, Julius Moses, S. 203f.
6 Wie z.B. beim mittlerweile gut erforschten Fall der Ritualmordlegende von Konitz (1900) und dem daraus folgenden sog. Ritualmordprozess, mit der sich Moses und die gesamte jüdische Publizistik viel beschäftigte (S. 79f.).