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Titel
Ammianus' Julian. Narrative and Genre in the Res Gestae


Autor(en)
Ross, Alan J.
Reihe
Oxford Classical Monographs
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 253 S.
Preis
£ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Lambrecht, Institut für Geschichte, Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz

Literarische Stilisierung in der Historiographie ist auch bei der Untersuchung der Res gestae Ammians ein Forschungsgebiet, für das mittlerweile eine beträchtliche Zahl an Studien vorliegt. Dabei wird gern die Leistungskraft literaturwissenschaftlicher Theorien für die Deutung von Erzählzusammenhängen und auch für die Komposition des ganzen Werkes erprobt. Die Ergebnisse vermitteln einen frischen Blick auf teilweise Altbekanntes, für das Interpretationen präsentiert werden, die neue Aspekte in den Mittelpunkt stellen. Diese werden in einen von der historischen zur literarischen Seite verschobenen Deutungsrahmen eingebunden, so dass neues Licht auf eine Geschichtsschreibung fällt, deren Gattungsbedingungen nicht immer erschöpfend in Rechnung gestellt wurden. Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei nicht zuletzt der narratologisch orientierte Forschungsansatz, wie er von Gavin Kelly praktiziert wird.1 Kellys methodischen Grundsätzen und mit deren Hilfe gewonnenen Ergebnissen erweist sich Alan Ross in seiner Studie zum Julianbild Ammians verbunden. Er knüpft methodisch und inhaltlich eng an Kellys Forschungen an, um von dessen Resultaten zur Intertextualität bei Ammian aus speziell im Zusammenhang mit der Juliandarstellung und deren Gesamtkomposition durch den Historiographen Neuland zu betreten und so Kellys Ansätze weiterzuführen.

Mit der starken Gewichtung der literarischen Gestaltung in Ammians Res gestae durch Ross korrespondiert ein tiefes Misstrauen gegenüber der Feststellung von Fakten. Daraus folgt, dass die als hochsubjektiv erkannte und daher als unzuverlässig eingeschätzte Faktenberichterstattung durch Interpretationen zur literarischen Leistung des Autors ersetzt wird, welchen zwar nicht weniger Subjektivität innewohnt, die aber schlüssige Deutungen zur Modellierung und Präsentation der Fakten und nicht offen ausgebreiteter Ansichten erlauben, ohne dass man sich verbindlich zu deren Realitätsgehalt äußern müsste. Dieser Zugriff geht von der Schaffung eigener Wahrheiten mittels literarischer Konstruktion aus. Einen Wendepunkt im Urteil über Ammian setzt Ross daher mit Timothy Barnes2 an, der dem Geschichtsschreiber Ammian „his own […] version of reality“ (S. IX) zuschreibe. In Anlehnung an Kellys Forschungsansätze und -ergebnisse sowie in deren Fortführung behandelt Ross Ammians Julianbild unter Beachtung dreier Bereiche, die seine Einzelinterpretationen methodisch und inhaltlich eng miteinander verklammern: der Res gestae als Werk lateinischer Geschichtsschreibung, des Blickes der Generation der Augenzeugen auf die Zeit Julians mit Urteilsbildungen im Lichte unterschiedlicher Überzeugungen, ferner der Narratologie unter besonderer Berücksichtigung der Person des Erzählers und dessen Position zu den wiedergegebenen Ereignissen.

Ross’ Studie beginnt mit einem methodisch ausgerichteten Kapitel, in welchem die Untersuchungsvoraussetzungen dargelegt werden. Hierzu gehört ein Überblick über die Julian-Berichterstattung in griechischen und lateinischen Schriften paganer und christlicher Provenienz, die vor Ammians Res gestae entstanden sind. Besondere Aufmerksamkeit widmet Ross der knappen Behandlung Julians im Breviarium Eutrops, die er im Verlauf seines Buches mit der wesentlich ausführlicheren Narration Ammians vergleicht. Dieser stelle nämlich seine eigene Julianerzählung in den Kontext traditioneller lateinischer Historiographie für ein westliches Publikum. Die Informationsmöglichkeiten des Westens zu diesem Thema sind aufgrund der für die Juliandiskurse überwiegend genutzten griechischen Sprache insgesamt bescheidener als die der Bewohner der östlichen Hälfte des Römischen Reiches. Ammian allerdings kennt als miles quondam et Graecus (Amm. 31,16,9) die im Osten verbreiteten Julianbilder genau. Im gleichen Kontext erläutert Ross als Zugriffsweisen zur Interpretation der Darstellung Ammians zudem seinen narratologischen Ansatz, speziell das Verhältnis zwischen der Rolle des Erzählers und Ammian als im Geschichtswerk persönlich auftretendem ‚Mitspieler‘ sowie sein Verständnis von Intertextualität, deren Wert für die Deutung der Res gestae er über die von Kelly vorwiegend behandelten wörtlichen Anspielungen auf lateinische Literatur hinaus vor allem auf Adaptionen ganzer Kontexte bezieht.

Die vier weiteren Kapitel sind zur Deutung der Juliandarstellung Ammians ausgewählten Erzählzusammenhängen gewidmet. Hierzu gehören Ausführungen über die dem Caesar Gallus gewidmeten Kapitel und über die Silvanus-Passage, vor deren Hintergrund Ammian später den Aufstieg und Fall Julians betrachtet. Sodann behandelt Ross Julians Erhebung zum Caesar und erschließt den Zugang zu dieser Episode methodisch mit Hilfe einer deutenden Gegenüberstellung der Erzählung Ammians mit den vom Autor eingestreuten Reden des Augustus Constantius II. Es folgt die Interpretation der Schlacht bei Straßburg in der Darstellung Ammians, die nicht nur die Erhebung Julians zum Caesar rechtfertigt, sondern auch die Berufung zu Höherem, zum Augustus, verheißt. Im letzten Kapitel geht es um Julians Scheitern im Persienfeldzug und die Implikationen dieses militärischen Fehlschlags in der Wiedergabe und Auffassung Ammians. Die Teilergebnisse der einzelnen Kapitel greifen methodisch und inhaltlich ineinander und schaffen ein neues Gesamtbild sowohl von der Rolle des Erzählers bzw. Ammians in seinem Geschichtswerk als auch von dem nach bestimmten Intentionen sorgfältig lenkend, nur scheinbar neutral gestalteten Bild des Kaisers Julian und dessen Entwicklungsschritten zum Hoffnungsträger, der letztlich jäh abstürzt.

Die Leistungen des von Ross praktizierten narratologischen Zugangs zur Interpretation Ammians seien an einigen Beispielen erläutert: Indem Ammian mit der Rolle des Erzählers einerseits und seiner persönlichen Anwesenheit in bestimmten Erzählzusammenhängen andererseits spiele, sei es ihm möglich, je nach Rolle eine unterschiedliche Perspektive einzunehmen und das Urteil auf dem Weg über die Fokalisierung durch andere, auch widersprüchliche Facetten zu ergänzen oder mehr noch: zu ersetzen. So zeichne der Erzähler im Geschichtswerk Ammians zunächst ein konventionelles Bild vom durch und durch negativ erscheinenden Wirken des Gallus in Antiochia, doch ändere sich das Urteil mit dem Auftauchen des im Gefolge seines Vorgesetzten Ursicinus am Geschehen teilhabenden Ammian zum Positiven, indem der Caesar Gallus nun zum Opfer des Constantius stilisiert werde. Mit dem Auftreten des Augenzeugen und dessen Insiderwissen ist ein nachhaltig vorgebrachter Wahrheitsanspruch verbunden, so dass Ammian mit seinen Aussagen als Konkurrent zu den Feststellungen anderer Augenzeugen des von ihm beobachteten Zeitabschnitts auftritt und deren Darlegungen durch Korrekturen eingefahrener Bilder in Frage stellt. In diesen Zusammenhängen wird hier wie anderwärts von Ross die Parallelüberlieferung zum Vergleich herangezogen, vor deren Hintergrund das Profil der Darstellung Ammians an Farbe gewinnt. Beim Urteil über den angeblichen Usurpator Silvanus nimmt die Fokalisierung den umgekehrten Weg: Der Erzähler stilisiert Silvanus zum Opfer des Constantius, Ammian als Teilnehmer am Geschehen betont die negativen Seiten des Usurpators. So liefern die Res gestae in beiden Fällen keine Standarddeutung, sondern eine Interpretation, die von verschiedenen Horizonten her unterschiedliche, eigentlich einander ausschließende Deutungsgesichtspunkte nebeneinanderstellt. Die jeweils an zweiter Stelle vorgebrachten Erklärungen sind mit Bedacht an die Autorität des Augenzeugen geknüpft, weil sich ein positiveres Gallusbild widerspruchsfreier in das von Ammian intendierte Julianbild einfügt und ein negatives Urteil über Silvanus Ammians Vorgesetzten Ursicinus in dessen – wenngleich auf einen Befehl des Constantius zurückgehendem – Vorgehen gegen den Usurpator entlastet.

Auf ähnliche Weise schöpft Ross beachtliches Interpretationspotential aus der kontextbezogenen Intertextualität. So deutet er Julians Erhebung zum Caesar durch Constantius II. als „a failed adoption“ (S. 105) und vergleicht sie mit der Adoption Jugurthas durch Micipsa bei Sallust (Iug. 9–10) und der Pisos durch Galba bei Tacitus (hist. 1,12–17). Allerdings, so kann man einschränkend hinzufügen, wollte Constantius mit der Bestellung Julians zum apparitor fidus (Amm. 16,7,3; 20,8,6) keineswegs eine Nachfolgeregelung präfiguriert wissen, anders, als es bei den von Ross herangezogenen exempla aus der römischen Historiographie der Fall ist. Ross’ Vergleichsmomente liegen auf einer anderen, narratologisch relevanten Ebene, die von deutlichen Spannungen zwischen dem Erzählten und den in die Erzählzusammenhänge eingearbeiteten Reden leben. Daher verbleibe der Leser in Unsicherheit über die wirklichen Motive der Erhebung Julians zum Caesar, auch wenn diese als Ergebnis in der Narration gebilligt werde. Die von Constantius angeführten militärischen Gründe für die Ernennung Julians wollen so gar nicht zur Herausstellung der unmilitärischen Eigenschaften des Kandidaten passen. Sehr schön arbeitet Ross heraus, wie die Soldaten mit ihrer Zustimmung proleptisch das arbitrium summi numinis (Amm. 15,8,9) zum Ausdruck bringen, welches nach ersten militärischen Erfahrungen Julians in der Schlacht bei Straßburg durch die ihrem Anführer vertrauenden und in den Kampf drängenden Soldaten bestätigt werde. Das Bewusstsein für die den Soldaten schon länger geläufige, vom Götterwillen getragene Legitimität der Berufung Julians zu Höherem wachse bei diesem nach und nach mit seiner Erfahrung als Feldherr und stehe ihm schließlich am Vorabend der Ausrufung zum Augustus endgültig klar vor Augen.

Ebenso verdeutlicht Ross Julians Weg in die Niederlage und den Tod anhand des in der Kombination verschiedener Erzähltechniken aufscheinenden narrativen Geschicks Ammians; dies lasse die Distanz des Geschichtsschreibers zu der im Osten vorwiegend mittels epideiktischer Reden geführten Debatte um das Ende Julians erkennen. Beim Vergleich zwischen der Präsentation des Umgangs mit omina und mit exempla durch Ammian stellt Ross hier signifikante Unterschiede fest: Die unheilverkündenden omina scheint Julian lange Zeit gar nicht zu beachten, so dass die Dramatisierung des Geschehens von der fehlenden Orientierung des Lesers bezüglich der Reaktion Julians lebe. Demgegenüber beeinflussen bestimmte exempla römischer Persienfeldzüge der Vergangenheit Julian in seinem Vorgehen sehr wohl so positiv, dass negativ ausdeutbare Anspielungen, etwa auf eine fortuna versabilis (Amm. 23,5,19), untergehen, ohne warnende Bezüge auf negative exempla zu offenbaren.

Recht überzeugend wirken nicht nur die gebotenen Einzelinterpretationen, sondern auch deren Integration in ein Gesamtbild Julians, das Ammian entwirft, sowie in ein narratologisches Konzept, das Ross in den Res gestae verwirklicht sieht. Es ist gerade die Integration der diversen Einzelaspekte in eine Deutung des Ganzen, die aus dem Buch eine abgerundete Studie macht. Die narratologische Akzentuierung dieser Deutung lebt von der durch Ross unterstrichenen Ausrichtung Ammians auf den Westen bei guter Kenntnis der im Osten verbreiteten Diskurse über Julian. In diese Voraussetzungen integriert der Autor seine Deutung intertextueller inhaltlicher Anspielungen Ammians auf Beispiele aus der lateinischen Historiographie der weiter zurückliegenden Vergangenheit und nicht zuletzt seine Interpretationen zu Ammians Auseinandersetzung mit der in Breviarien und epideiktischer Literatur verarbeiteten Zeitgeschichte sowie ihrem auf Augenzeugenberichten beruhendem Authentizitätsanspruch. Ross argumentiert auf aktuellem Forschungsstand und bezieht ausgewählte deutschsprachige Forschungsliteratur mit ein. Das von ihm ausgeschöpfte Deutungspotential ist beachtlich, wenn man sich auf seinen letztlich relativistischen Zugriff einlässt.

Anmerkungen:
1 Vgl. neben einer Reihe von Aufsätzen vor allem Gavin Kelly, Ammianus Marcellinus. The Allusive Historian, Cambridge 2008, und die Rezension zu diesem Buch von Dariusz Brodka, in: H-Soz-u-Kult, 13.08.2008 <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-11059>.
2 Vgl. Timothy D. Barnes, Ammianus Marcellinus and the Representation of Historical Reality, Ithaca, NY 1998.

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