D. Siegfried: Moderne Lüste. Ernest Borneman

Cover
Titel
Moderne Lüste. Ernest Borneman. Jazzkritiker, Filmemacher, Sexforscher


Autor(en)
Siegfried, Detlef
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
455 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Magdalena Beljan, Forschungsbereich »Geschichte der Gefühle«, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung

Detlef Siegfrieds neuestes Buch ist eine spannende und hervorragend lesbare Biografie über einen Mann, der nur wenigen ein Begriff sein wird: Ernest Borneman. Wer noch vor kurzem versuchte, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, kam schnell an die Grenzen der Recherche. Jenseits der zahlreichen von Borneman veröffentlichten Artikel und Bücher zum Jazz und zur Sexualität und seiner Arbeit beim Film und Fernsehen war nur Weniges und dazu häufig auch noch Widersprüchliches aus seinem Leben zu erfahren.

Bescheiden beschreibt Siegfried sein Buch als „biografische Skizze“ (S. 394) – eine Skizze von immerhin mehr als vierhundert Seiten. Nach einer knappen Einleitung folgt ein kürzeres, theoretisch ausgerichtetes Kapitel über den Umgang mit biografischem (Nicht-)Wissen und Selbsterzählungen, das zu den großen Stärken dieses Buches zählt. Den eigentlichen Kern der Biografie stellen jedoch die drei anschließenden Kapitel dar, die mit den drei großen Betätigungsfeldern Bornemans, Musik, Film und (Sexual-)Wissenschaft korrespondieren.

Siegfried erklärt den Aufbau damit, eine Geschichte der Sinne schreiben zu wollen. Die Strukturierung in die Kapitel Hören (Jazz), Sehen (Film) und Berühren (Sexualität) ergibt sich aber auch aus der Chronologie von Bornemans Leben und benötigt den theoretischen Überbau nicht unbedingt. Zumal eine Geschichte der Sinne eine Perspektive verspricht, die den Körper selbst zum Gegenstand der Geschichte macht, ein Versprechen das aber nur zum Teil eingelöst wird. Die eigentliche Stärke von Siegfrieds Arbeit liegt weniger in seiner angestrebten theoretischen Ausrichtung als vielmehr in den Close Readings von Bornemans Texten, aber auch in der präzisen Lektüre seiner Kritiker. Letztlich stehen die Texte und die Person Bornemans und weniger eine Körper- oder Sinnesgeschichte im Fokus.

Geboren wurde Borneman als Ernst Bornemann am 12. April 1915 in Berlin. Bis 1933 war er Schüler auf der seinerzeit bekanntesten Reformschule, der Karl-Marx-Schule in Berlin-Neukölln. Doch nur wenige Wochen vor seinem Abitur floh er nach London, nur eine neben vielen Stationen in seinem Leben, und nannte sich fortan „Ernest Borneman“. Früh begann der begeisterte Jazzhörer als Musikkritiker zu arbeiten, schrieb scheinbar ganz nebenbei einen überaus erfolgreichen Krimi und machte sich mit seiner Artikelserie „An Anthropologist Looks at Jazz“ Mitte der 1940er-Jahre in der Szene einen Namen. Dabei interessierte er sich für Jazz nicht einfach als Musikliebhaber, sondern interpretierte ihn als kulturelles und historisches Phänomen.

Mehr und mehr beschäftigte Bornemann sich mit Fernsehen und Film. Er arbeitete für das National Film Board of Canada, entwickelte ein Sendeformat, das später zum legendären „Beat Club“ werden sollte, schrieb Drehbücher für und mit Orson Welles, war in der frühen Bundesrepublik am Aufbau des (gescheiterten) Freien Fernsehens beteiligt, und schon hier trifft zu, was Siegfried am Ende des Buches formuliert: „Was für ein Leben, in der Tat. Mehr als genug für einen einzelnen Menschen, auch ohne all die zusätzlichen Erfindungen“ (S. 399). In den 1980er-Jahren dann meldete sich Borneman in der Bundesrepublik und in Österreich im Fernsehen, in Zeitschriften und eigenen Publikationen in Debatten zur Sexualität zu Wort. So gerierte er sich selbst als Experte, wurde aber auch durchaus öffentlich als solcher wahrgenommen. In der Fachwelt hingegen wurde ihm immer wieder seine Kompetenz abgesprochen.

Das dies aber nicht nur am Auftreten des „widerspenstigen Alten“ (S. 361) lag, betont Siegfried gleich zu Beginn. Dabei merkt man hier sowie über weite Teile des Buches hinweg, dass Borneman seinem Biografen alles andere als unsympathisch ist. Zuweilen gewinnt man gar den Eindruck, dass er ihm bei aller kritischen Distanz auch posthum das zusprechen möchte, woran es ihm zeitlebens zu mangeln schien: Anerkennung und Respekt. Detailliert beschreibt Siegfried nicht nur wie Borneman Kritik übte, sondern auch wie er selbst scharf angegangen wurde. Immer wieder trug diese Kritik offen antisemitische Züge.

Für die bundesrepublikanische Zeitgeschichte ist besonders die Auseinandersetzung Bornemans mit der Frauenbewegung interessant, sah sich dieser doch selbst als eisernen Verfechter des Feminismus. Sein Buch „Das Patriarchat. Ursprung und Zukunft unseres Gesellschaftssystems“ von 1975, mit dem er auch promoviert worden war, bezeichnete er nicht nur als sein Hauptwerk, sondern verglich sich auch ganz unbescheiden mit Marx. Das Buch solle „der Frauenbewegung dienen, wie Das Kapital der Arbeiterbewegung gedient hat“ (S. 284). Borneman persönlich wurde jedoch immer wieder eine „patriarchalische Haltung gegenüber der Frauenbewegung“ (S. 319) vorgeworfen. Dass dieser Vorwurf durchaus zutraf, wird in Siegfrieds Darstellung mehr als deutlich.

Die zahlreichen Auseinandersetzungen, die Borneman geführt hat und die sein Biograf nachzeichnet, zeigen ihn also als streitbaren Zeitgenossen. So war er nicht nur innerhalb der Frauenbewegung umstritten, auch sein Verhältnis zu den meisten deutschen Sexualwissenschaftlern war schwierig. Borneman kritisierte letztere, weil er sich große empirische Arbeiten im Stile der US-amerikanischen Kinsey-Studien wünschte, und bezeichnete Arbeiten wie die von Volkmar Sigusch „als Feuilleton“ (S. 350). Gleichzeitig gab es bei ihm eine „unübersehbare Sehnsucht nach Anerkennung als Wissenschaftler“ (S. 380). Dazu passt auch, dass Borneman Sigusch zunächst selbst als Gutachter seiner Promotion vorgeschlagen hatte. Sigusch jedoch hielt von dessen Arbeiten offensichtlich denkbar wenig.

Bisweilen hätte man sich gewünscht, dass Siegfried hier – ebenso wie bei Bornemans Umgang mit der Frauenbewegung – weniger abgewogen formuliert hätte. Etwa wenn er beschreibt, wie Borneman Sigusch vorwarf, er ermutige AIDS-Kranke ihre Sexualpartner anzustecken. Siegfried bemerkt hierzu relativ verhalten: „Das war eine ziemlich gewagte Interpretation dessen, was Sigusch geschrieben hatte“ (S. 355). An Stellen wie dieser hätte man sich mehr Schärfe und eine stärkere Kontextualisierung gewünscht. Denn Bornemans Vorwurf war nicht nur „gewagt“, sondern zu diesem Zeitpunkt Mitte der 1980er-Jahre, also mitten in der so genannten Aids-Krise, politisch höchst problematisch und diffamierend.

Wie schwierig die historische Einordnung von Bornemann im Einzelfall sein kann, wird auch an der Debatte über kindliche Sexualität zwischen ihm und der Juristin und Psychotherapeutin Rotraut Perner in den frühen 1990er-Jahren deutlich. Borneman hatte sich zwar immer wieder vom Missbrauch von Kindern distanziert, gleichzeitig jedoch auf den (freien) Willen des Kindes insistiert. Er ging davon aus, dass Altersgrenzen willkürlich gezogen seien und auch Jüngere Ältere begehren könnten. Perner kritisierte diese Haltung und warf ihm vor, er „gebe das wissenschaftliche Feigenblatt für pädophile Gruppen ab“ (S. 377). Tatsächlich, und das unterschätzt Siegfried eventuell, beriefen sich Pädophilengruppen und Akteure, die diesen nahe standen, auf Borneman – und das bereits in den 1970er-Jahren, also lange vor Perners Kritik. Dass dieser Vorwurf also nicht einfach von ihr lanciert war, sondern durchaus Gehalt hatte, zeigt ein tieferer Blick auf die Quellen. Zwar geht Siegfried ausführlich auf den Missbrauchsdiskurs der 1990er-Jahre ein, unterschätzt dabei aber die enge Verknüpfung zu bereits viel früher einsetzenden Pädophilie-Debatten der 1970er- und 1980er-Jahre, die auf breiter gesellschaftlicher Ebene geführt worden waren.1

Wirklich herausragend an Siegfrieds Buch ist aber vor allem eins: sein Umgang mit Bornemans „Wirklichkeitskonstruktionen“. Denn dass über ihn persönlich lange nur wenig bekannt war, liegt unter anderem auch daran, „dass Borneman seine Qualifikation je nach gegenwärtigem Bedarf zusammengestellt hat“ (S. 26). Statt nun aber diese „Wirklichkeitskonstruktionen“ als „Lügen“ oder als „Hochstapeleien“ abzutun, beschreibt Siegfried sie als „Finten“ (S. 29), als ein „Jonglieren mit autobiografischen Fakten“ (S. 33), als „Spiel mit Identitäten“ (S. 206) oder auch einfach als „biografische Selbstdarstellungen“ (S. 26) und „Autofiktionen“ (S. 26). Immer wieder kommt der Biograf im Laufe des Buches auf diesen ‚kreativen Umgang’ mit der eigenen Lebensgeschichte zurück; so etwa wenn es darum geht, ob sein Protagonist tatsächlich, wie er behauptet hatte, ein Schüler Wilhelm Reichs gewesen ist. Siegfried geht solchen Geschichten nach, hält sie im Falle Reichs dann aber doch für eher unwahrscheinlich. Und so gelingt es ihm mit Borneman gegen Borneman zu argumentieren, wenn er erklärt: „Bornemann selbst gab einen Hinweis auf den fiktiven Charakter seiner Darstellung, indem er mögliche Widersprüche zu Reich-Biografien mit Erinnerungslücken erklärte und einräumte, in einem solchen Falle „vermag ich auch nicht zu sagen, wer hier recht oder unrecht hat“.“ (S. 269) Gerade an solchen Punkten ist Siegfrieds Darstellung besonders überzeugend und so wird der Umgang mit der Biografie zum eigentlichen und ‚heimlichen’ roten Faden des Buches.

Während Borneman als komplexe und einflussreiche Persönlichkeit erscheint, bleibt seine Ehefrau Eva Borneman, geborene Geisel, äußerst blass. Sie taucht im Buch zumeist nur als „Eva“ oder als „Bornemans Freundin Eva“ (S. 145) auf. Dass Siegfried Eva Borneman zumeist nur beim Vornamen nennt, ließe sich wohlwollend als Adaption von Bornemans Sprechweise interpretieren, wenn es nicht gerade aus geschlechterhistorischer Perspektive einen unangenehmen Nachgeschmack hinterließe. Dezidiert ihr ist nur ein knapp zweiseitiges Unterkapitel (S. 21–23) gewidmet. Das ist erstaunlich, da Siegfried selbst auf die Relevanz der Beziehung der beiden, auf ihren Briefwechsel, die vielfältigen Kompetenzen und vor allem auf ihr politisches Engagement verweist. Man hätte sich gewünscht, mehr über sie zu erfahren, zumal sie – bis zu ihrem Tod 1987 – immerhin über 50 Jahre die engste Vertraute, aber auch Kritikerin Bornemans war.

Aber bei aller Kritik im Detail: es macht Spaß dem Biografen dabei zu folgen, wie er aus dem Leben dieses „Tausendsassa[s]“ (S. 258) erzählt: klug, detailliert, informiert und größtenteils sehr abgewogen, mit einer eigenen Stimme als Erzähler, die sich nicht hinter einem langweilig-wissenschaftlichen Duktus versteckt. Ein solches Buch ist selten.

Anmerkung:
1 Franz Walter/Stephan Klecha/Alexander Hensel (Hrsg.), Die Grünen und die Pädosexualität. Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015.