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Titel
Bildung für die technische Moderne. Pädagogische Technikdiskurse zwischen den 1920er und den 1950er Jahren in Deutschland


Autor(en)
Kurig, Julia
Erschienen
Anzahl Seiten
746 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Martin Viehhauser, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Tübingen

Technischer Wandel hat nicht nur Auswirkungen auf die Art, wie Gesellschaften und Sozialbeziehungen strukturiert sind, er geht auch mit Verschiebungen in der Theoriebildung einher. Julia Kurig hat in ihrer Hamburger Dissertationsschrift „Bildung für die technische Moderne“ Wandel und Kontinuitäten im pädagogischen Technikdiskurs zwischen den 1920er- und 1950er-Jahren in Deutschland in den Blick genommen. Das Titelbild, das eine futuristisch beleuchtete und im schiefen Winkel von unten fotografierte Raffinerie zeigt, suggeriert, dass Technisierung etwas Bedrohliches ist, das gebannt oder besänftigt werden muss. Auch in der Pädagogik, so legt Kurigs Analyse nahe, wird zwar der ‚Gottheit‘ Technik gehuldigt. Zugleich werden vergangene Ordnungen angerufen, um der aus den Fugen geratenen Gegenwart zu begegnen.

Dass pädagogische Theoriearbeit Ausdruck von beidem sein kann, verdeutlicht Kurigs Studie an dem sozialistischen Optimisten Paul Oestreich (1878–1959) und an Heinrich Weinstock (1889–1960), der mit seiner konservativen Haltung zwischen elitärer Instrumentalisierung von Technik und ihrer Einschätzung als Bedrohung des Menschen changierte. Kurig analysiert die wesentlichen Publikationen der beiden Autoren. Diese Tiefenbohrungen in einem breiter angelegten pädagogischen Diskursfeld kontrastiert sie mit den Positionen weiterer zeitgenössischer Autoren.

Im Rahmen einer ambitionierten konzeptuellen Anlage verfolgt Kurig eine hermeneutisch fundierte diskursanalytische Sozialforschung, die das Subjekt der Äußerung als frei und unfrei zugleich innerhalb eines diskursiven Feldes setzt (vgl. S. 62). Die umfangreichen Passagen zur entsprechenden Methode – sie umfassen circa 40 Seiten, die gesamte Einleitung fast 70 Seiten – bieten angriffslustige Auseinandersetzungen mit der von Foucault inspirierten Diskursanalyse, gegen die Kurig das eigentätige Subjekt hervorhebt. Sie nennt dies ein „zeichentheoretisch hermeneutisches und erkenntnistheoretisch realistisches Konzept“ (S. 37), das in der Lage sei, die Wirklichkeitsmacht des Subjekts darzustellen. Konkret bedeutet dies, den pädagogischen Technikdiskurs als Reaktion auf Technisierung zu rekonstruieren und Autoren als Subjekte darzustellen, die strukturelle Bedingungen aktualisieren und auch verändern.

Der Hauptteil ist in drei Kapitel untergliedert. Zuerst arbeitet Kurig pädagogische Deutungsmuster der Technisierung in den 1920er- und 1930er-Jahren heraus; sie schafft damit eine Hintergrundfolie, um die Diskurse der Nachkriegszeit, die den inhaltlichen Schwerpunkt der Studie bilden, konturiert darzustellen. Hier wird das Technikdenken der Autoren Oestreich und Weinstock, die auch biographisch eingeführt werden, erstmals skizziert. Oestreich, ein Schulreformer und Wegbereiter des Schulsystems der DDR, verband in seinem Technikdenken Kulturkritik mit gesellschaftspolitischer Zukunftsvision. Sein politisches Ziel einer Einheitsschule verfolgte er, so Kurig, unter dem Eindruck von Tönnies’ organisch gedachtem Gemeinschaftsbegriff. Pädagogik habe die Menschen dahingehend zu befähigen, Technik im Sinne einer gemeinschaftlichen Ordnung zu beherrschen. Oestreich entwickelte entsprechend ein Konzept der Arbeitsschule, das Handwerk und Selbsterhaltung in den Mittelpunkt rückte.

Weinstocks Ansichten waren demgegenüber konservativ geprägt und folgten einem humanistischen Bildungskonzept. Weinstock war zunächst bis 1939 in der Schulverwaltung sowie als Gymnasialdirektor tätig und machte nebenher über universitäre Lehrveranstaltungen eine wissenschaftliche Karriere. Mit dem Nationalsozialismus, so Kurig, sympathisierte Weinstock zwar zunächst, ging jedoch dann zunehmend auf Distanz, was ihm nach 1945 – nach einigen Anlaufschwierigkeiten – eine Professur an der Universität Frankfurt ermöglichte. Mit der elitären Bildungskonzeption ging die berufsständisch geprägte Vorstellung einer hierarchisch strukturierten und normativ gedeuteten gesellschaftlichen Ordnung einher. Technikdenken spielte hier die Rolle, die Gesellschaft als Maschine zu denken, die von der Bildungselite in Gang gehalten wird. Für Weinstock bot die Technik die Möglichkeit einer „anderen Moderne“, wie es Kurig charakterisiert, das heißt eine „konservative Revolution“ nach bildungsaristokratischer Maßgabe.

Die Zwischenkriegszeit war somit geprägt von einer gewissen Erwartung, die Technisierung lenken und entsprechend für pädagogische Zwecke instrumentalisieren zu können. Oestreich und Weinstock repräsentieren dabei nicht die akademische Pädagogik, die auf die Themenstellung der technischen Moderne zurückhaltender reagierte und stattdessen eine Ausrichtung auf geisteswissenschaftliche Positionen des 19. Jahrhunderts wie diejenige Diltheys kultivierte.

Das darauffolgende Kapitel setzt in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 ein und fokussiert den Bildungsbereich der westlichen und sowjetischen Besatzungszonen im Kontext der Entnazifizierungsbestrebungen. Kurig charakterisiert das pädagogische Technikdenken nun als einen Bewältigungsdiskurs: Technik sei das Thema, durch das politische und pädagogische Transformationen verhandelt wurden. Kurig geht zunächst auf die Sowjetische Besatzungszone bzw. DDR ein und analysiert Schriften Oestreichs, der sich in der Schulverwaltung und in politischen Initiativen engagierte. Der Pädagoge publizierte allerdings nach 1945 keine neuen Werke mehr, sondern legte ältere Schriften wie das 1930 erschienene Buch „Der Einbruch der Technik in die Pädagogik“ unter dem Titel „Die Technik als Luzifer der Pädagogik“ neu auf. Dem Titel entsprechend rückten bei Oestreich kulturkritische Perspektiven zu den gesellschaftspolitischen Zukunftsvisionen in die Technik hinzu, nachdem die zunehmende Technisierung nicht zu einer neuen Gesellschaft beigetragen hatte (vgl. S. 243ff.).

Auf Weinstock geht Kurig hier wie auch im weiteren Verlauf der Studie wesentlich umfangreicher ein. Mit seiner Anknüpfung an die Traditionen der Antike, des Christentums und der deutschen Klassik kann Weinstocks Positionierung als Ausdruck eines Krisenkults charakterisiert werden. Nach Kurigs Analysen handelt es sich hierbei um eine Konstellation, die die nationalsozialistische Vergangenheit im Modus einer Ablehnung der technisch-rationalen Moderne zu bewältigen versuchte. Es sei Weinstock dabei um eine abendländisch definierte Führungsmacht auf der Basis von Wissenschaft und ‚Geist‘ gegangen, welche den durch Technik und Naturwissenschaft eingeleiteten Verfall der Moderne ersetzen sollte. Unter diesen Vorzeichen wandelte sich also Weinstocks Technikaffinität der Zwischenkriegszeit in eine kritische Positionierung. Der Begriff Technik stand in diesem Zusammenhang nicht nur für Maschinen und andere technische Produktionsmittel, sondern neben Waffentechnologien insbesondere für eine bestimmte, rationale Form der Organisation der modernen Welt, die alle Lebensbereiche überformte.

Im letzten Schritt fokussiert Kurig die frühe Bundesrepublik und die diskursiven Umstrukturierungen in den 1950er-Jahren, die sich bei Weinstock in der Figur einer „tragischen Anthropologie“ niedergeschlagen haben. Mit circa 270 Seiten ist dieses Kapitel das umfangreichste. Die 1950er-Jahre seien geprägt gewesen von einem pragmatischen Umgang mit Technik, der mit dem sogenannten Sputnik-Schock von 1957 in eine Dynamik der Innovation umgeschlagen habe. Was die Debatten in der Philosophie und der Soziologie anbelangt, in denen nach Kurig die Technik eine besonders große Rolle spielte, zeigten sich zwei Wege. Der eine Weg führte in eine Auffassung der Technik als destruktive Macht, der etwa anhand von Heideggers Position dargestellt wird, während der andere Weg trotz gewisser Distanzierungen auch ihre konstruktiven Potentiale herausarbeitete. Karl Jaspers ist einer der Bezugspunkte, den Kurig für diesen Weg ausmacht. Es folgt eine Zuspitzung auf Auseinandersetzungen in der Pädagogik, die wiederum an Weinstock und seinem nunmehr als „realer Humanismus“ bezeichneten Konzept – ihm ging es dabei um eine Verbindung des pädagogischen Humanismus mit den gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen der 1950er-Jahre – analysiert werden. Kurig verfolgt in diesem Teil das Ziel, die allmählichen Umformungen des pädagogischen Technikdiskurses in den 1950er-Jahren herauszuarbeiten und aufzuzeigen, inwiefern sich die dominanten humanistisch konzipierten Bildungsvorstellungen auf die gewandelten gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen in der jungen Bundesrepublik einstellten. Kurig beschreibt in diesem Zusammenhang anhand der als hegemonial ausgewiesenen Positionen von Weinstock und neben ihm von Theodor Litt eine Modernisierung des Bildungsdiskurses, die sich in einer Neubewertung der kulturkritischen Argumentationsmuster niedergeschlagen habe. Dabei fungieren Weinstocks Schriften, etwa das 1954 erschienene Buch „Arbeit und Bildung“, auch in diesem Kapitel als „Brennglas“, wie Kurig schreibt (S. 376), für die Rekonstruktion des pädagogischen Technikdiskurses. Diese wird hier sehr umfangreich betrieben, sodass an unterschiedlichen Facetten von Weinstocks wissenschaftlicher Arbeit der Einsatz für eine „andere Vernunft“, wie Kurig es nennt, deutlich wird, die der Funktionalisierung des Menschen durch die Maschine eine auf Humanität basierende Alternative ermöglichen sollte.

Es gehört zu den faszinierenden Erkenntnissen, die sich nach der Lektüre von Kurigs Buch einstellen, dass unter dem Eindruck der Technisierung in der pädagogischen Theoriebildung das Subjekt zunehmend relational zur materiellen Kultur gefasst wird: Subjekt- und Subjektivierungsfragen stehen auch gegenwärtig im Fokus zahlreicher erziehungswissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Kurig erzählt die Entwicklung des pädagogischen Technikdiskurses dahingehend als eine Fortschrittsgeschichte (vgl. S. 663). Ihre Rekonstruktion ermöglicht so ein Verständnis der historischen Einbettung von bestimmten Theorieentwicklungen. Für diese Erkenntnis ist allerdings der Luxus eines zeitintensiven Konsums der Untersuchung erforderlich, die der Darstellung der diskursiven Oberfläche extensive hermeneutische Tiefenbohrungen in erster Linie der Positionen Weinstocks zur Seite stellt. Kurigs Buch ist mit annähernd 750 eng bedruckten Seiten ein schwerer Brocken. Es stellt sich die Frage, ob dieser breite Raum für das Ziel der Darstellung eines einzelnen Diskurses letztlich nicht doch zu viel des Guten ist. Freilich, diese Frage wird jede Leserin und jeder Leser für sich beantworten. Interessanter ist die Frage, welche Geschichte diese Studie der zahllosen Theoreme, Topoi und Positionierungen erzählt. Über die Formen, in denen Technik als eine Geschichte erzählt wird, die zwischen Zukunftsvisionen, Apokalypse und pragmatischem Utopieverlust changiert, kommt Kurig zum Schluss auf die Aktualität der Technisierung am Beispiel der Ökologie mit ihren destruktiven Potentialen zu sprechen und skizziert sozialethische Antworten, die der Arbeit einen normativen Dreh verleihen. Hierbei gehe es darum, so Kurig, „eine möglichst unverkürzte menschliche Vernunft zu entbinden“ (S. 670), um dem technischen Bedrohungsszenario – siehe Titelbild – die ‚Wärme‘ des Menschlichen entgegen zu stellen. Die pädagogische Kultivierung des Technikdiskurses geht also weiter, während Forschungsfragen nach der Ermöglichung des Menschen durch die Technik und ihrer diskursiven Hervorbringung weiterhin einen nicht ausgeschöpften Fundus bilden.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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