Cover
Titel
Kampf um Wissen. Spionage, Geheimhaltung und Öffentlichkeit 1870–1940


Herausgeber
Medrow, Lisa; Münzner, Daniel; Radu, Robert
Erschienen
Paderborn 2015: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
243 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Friedrich Kießling, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt

Wie lässt sich eine moderne Geschichte der Geheimdienste schreiben, die mehr ist als ein – zumindest in Deutschland zudem recht seltenes – Untergenre klassischer Politik- oder Militärgeschichte? Mit dieser Frage beschäftigt sich der Sammelband „Kampf um Wissen“, der auf eine Rostocker Tagung zum gleichnamigen Thema aus dem November 2013 zurückgeht. Eine mögliche Antwort gibt mit Robert Radu einer der Herausgeber in der Einleitung. Die Geschichte von Spionage und Geheimdiensten müsse, so sein für den Band programmatisches Plädoyer, aus dem Kontext von Ereignis-, Militär- und Technikgeschichte herausgelöst werden und sich den allgemeinen neueren Trends der Geschichtswissenschaft annähern. Für Radu bedeutet dies eine Geheimdienstgeschichte, die etwa die „praxeologischen Bedingungen“ von Geheimwissen ebenso untersucht wie „die Verfahren und historischen Kontexte“, die bei der „Aushandlung und Wahrung von staatlichen bzw. militärischen Geheimnissen“ wirksam werden (S. 10).

In nuce plädiert Radu damit für eine kulturhistorische Perspektive auf Geheimdienstgeschichte, die vor allem das „Wie“ ihres Gegenstands in den Blick nimmt sowie nach Deutungen und den historisch wandelbaren Konstruktionen von vor allem staatlich verstandenen Geheimwissen fragt. Die Beiträge des Bandes, so Radu, spürten den „historischen Bedingungen geheimdienstlicher Praxis, den kulturellen Mustern und Repräsentationen, gesellschaftlichen Normen und individuellen Wahrnehmungsweisen nach, die die Beschaffung und Bewahrung geheimen Wissens im Akt der Spionage und Spionageabwehr einerseits sowie dessen Durchsetzung und Enthüllung im Akt der Geheimhaltung bzw. dessen Veröffentlichung andererseits strukturieren“ (S. 11). Da Geheimdienste unter den Bedingungen der Moderne aber zweifellos besondere Strukturen ausbildeten, werden inhaltlich vor allem drei spezifische Aspekte einer solchen Geheimdienstgeschichte ausgemacht: Die spezifischen Formen und Verfahren der Wissensproduktion in Zeiten von Professionalisierung und Bürokratisierung, das besondere Verhältnis von Öffentlichkeit und Geheimnis in einem Zeitalter, das zunehmend Transparenz und öffentliche Aufklärung auf seine Fahnen geschrieben hatte, und schließlich die spezielle Beziehung, die der moderne Nationalstaat zum „Staatsgeheimnis“ als Bedingung nationaler Sicherheit unterhielt.

Nicht alle Beiträge, dies muss ehrlicherweise angemerkt werden, erfüllen diesen hohen Anspruch einer erneuerten Geheimdienstgeschichte der Moderne. Auch haben nicht alle Aufsätze zentral mit Spionage und Geheimdiensten zu tun; manche beschäftigen sich eher mit Journalismus und dessen Umgang mit brisanten Informationen. Das liegt aber offenbar, wie der Leser nach und nach feststellt, an einem sehr weiten Ansatz der Herausgeber, bei dem z.B. jeglicher Aspekt des Spannungsfeldes zwischen öffentlich und geheim in den Blick geraten kann. Doch trotz dieser manchmal im Fortgang des Bandes etwas vage anmutenden Konzeption: Interessant sind die einzelnen Beiträge allemal. So können Jürgen W. Schmidt und Salvador Oberhaus im Anschluss an einen Überblicksartikel von Wolfgang Krieger zur Geheimdienstgeschichte seit dem Altertum anhand der verdeckten Informationsbeschaffung deutscher Diplomaten in China bzw. der (ziemlich dünnen) Wissensgrundlage des sogenannten deutschen „Heiligen Krieges“ im Nahen und Mittleren Osten gut zeigen, wie prekär die Wissensgrundlage deutscher Weltpolitik vor und im Ersten Weltkrieg war und zu welchen verdeckten Mitteln man deshalb regelmäßig griff. Dass in einer solchen imperialen Praxis nicht nur die Grenzen zwischen Diplomatie und Spionage, sondern auch diejenige zwischen Wissenschaft und geheimdienstlichen Aktivitäten verwischen konnte, zeigt der Beitrag von Lisa Anna Medrow über den niederländischen Orientalisten Christiaan Snouck Hurgronje. Hurgonje war dabei nicht der einzige europäische Forscher-Spion, der zu Mitteln wie der Konversion griff, um die heiligen Stätten der muslimischen Welt besuchen zu können und so für den Westen geheimes Wissen zu produzieren.

Um das Spannungsfeld von Presse und Geheimhaltung kreisen die Beiträge von Norman Domeier und Claire-Amandine Soulié. Genauso wie im Einzelfall die Grenzen zwischen Wissenschaft und Spionage verwischen konnten, mochte dies auch im Feld des Journalismus vorkommen. Sowohl im Falle der Kriegsberichterstattung während des Burenkriegs, die Soulié untersucht, als auch der Auslandskorrespondenten im Dritten Reich, denen sich Domeier zuwendet, war das Verhältnis zwischen Presse und Geheimhaltung allerdings kompliziert. Journalisten waren natürlich auf der Suche nach der großen Geschichte, die Geheimes enthüllte. Auf der anderen Seite waren sie aber ebenso bereit, Kompromisse mit der Staatsmacht einzugehen, um ihre Arbeitsgrundlage zu erhalten. Im Ergebnis erscheint manches als Arrangement zwischen staatlichem Geheimhaltungsinteresse und partieller oder fakultativer Enthüllung, von dem idealerweise beide Seiten profitierten. Staat wie Presse, so kann man resümieren, lebten ganz gut an und mit der Grenze von Geheimhaltung und Enthüllung.

Der Geschichte von Spionage und Geheimdiensten in militärischen Kontexten widmen sich die Beiträge von Florian Altenhöner und Frank Jacob. Altenhöner beschäftigt sich vor allem mit der institutionellen Geschichte dessen, was dann im Kontext von Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg unter der „Abwehr“ bekannt wurde. Weit davon entfernt, dies zu einem Hauptkapitel Weimarer Politik zu stilisieren, plädiert er dennoch dafür, die militärischen Geheimdienste der ersten deutschen Republik nicht zu unterschätzen. Die Frage der Grenzen der Wirksamkeit von entsprechenden Aktivitäten wirft Frank Jacob am Beispiel der japanischen Geheimgesellschaften in der Meiji-Zeit auf. Punktuell durchaus einflussreich, brauchten sie insgesamt doch einen größeren gesellschaftlich-politischen Resonanzraum, um tatsächlich erfolgreich wirken zu können. Geheime Aktivitäten allein genügten nicht, um die japanische (Militär-)Politik in die gewünschten Bahnen zu lenken.

All diese Beiträge liefern interessante Einblicke und Detailinformationen in meist wenig bekannte Kapitel von Geheimdiensten bzw. Geheimniswahrung und Enthüllung in der Moderne. Auch konzeptionell anregend sind darüber hinaus zwei weitere Aufsätze. So gelingt es Daniel Münzner überzeugend, die Debatte über Verrat und Landesverrat als einen Grunddiskurs der Weimarer Republik zu bestimmen, bei dem mit über Inklusion und Exklusion in der „Nation“ entschieden wurde. Frederik Müllers’ Studie über deutsche Spionageromane der Zwischenkriegszeit zeigt Umrisse einer „intelligence culture“, in der Deutschland überwiegend als Opfer von Spionage erschien und eigene Spionagetätigkeit vor allem im militärischen Kontext als legitim galt.

Fasst man die Eindrücke der Lektüre zusammen, so macht der Band an einigen Stellen durchaus deutlich, in welche methodische Richtung sich Geheimdienstgeschichte weiterentwickeln kann. Viele andere Kapitel sind demgegenüber vor allem wegen ihrer inhaltlichen Informationen interessant. In einem Forschungsgebiet, das in der deutschen Geschichtsschreibung immer noch recht wenig beachtet wird, sollte man dies nicht geringschätzen.