C. Kreutzmüller u.a. (Hrsg.): National Economies

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Titel
National Economies. Volks-Wirtschaft, Racism and Economy in Europe Between the Wars (1918–1939/45)


Herausgeber
Kreutzmüller, Christoph; Wildt, Michael; Zimmermann, Moshe
Erschienen
Anzahl Seiten
302 S.
Preis
£ 47.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Kilian, Institut für Geschichte, Universität Passau

Welche Einflüsse gingen von den politischen Strömungen im Zeitalter der Extreme auf die ökonomischen Strukturen aus? Wie wirkten in dieser Hinsicht die im Gefolge des Ersten Weltkrieges in vielen europäischen Ländern grassierenden nationalistischen Tendenzen? Lassen sich aus einer solchen Perspektive neue Erkenntnisse für die Forschung gewinnen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer internationalen Konferenz in Jerusalem 2012 an der Fachwissenschaftler aus Israel, den USA, Russland, Frankreich und Deutschland teilnahmen. Im vorliegenden Sammelband werden die Ergebnisse der Tagung in Gestalt von 16 Aufsätzen publiziert.

In seiner Einführung stellt Christoph Kreutzmüller die zentralen Fragen des Bandes vor und thematisiert dabei den inneren Widerspruch zwischen einer vermeintlich nüchternem Kalkül unterworfenen Ökonomie und dem in den Bereich des Irrationalen einzuordnenden Nationalismus. Dieser Gegensatz spiegele sich nicht zuletzt in dem Begriff „Volks-Wirtschaft“ wieder. Als entscheidend müssten dabei wiederum die Versailler Friedensschlüsse von 1919 gesehen werden, die nicht nur die Landkarte Europas nachhaltig veränderten. So entstand im Gefolge des Ersten Weltkrieges eine Reihe neuer Staaten, während andere ihr Territorium ausdehnen konnten oder Einbußen hinnehmen mussten. Die Bevölkerungen dieser „Nationalstaaten“ waren in ethnischer Hinsicht jedoch nicht immer homogen; das Vorhandensein von Minderheiten war also nichts Ungewöhnliches. Trotzdem müsse ein wesentliches Resultat dieser Staatsbildungsprozesse in einem europaweiten Anwachsen nationalistischer Strömungen gesehen werden. Auch die Ökonomien blieben davon nicht verschont. Diese wurden zunehmend „nationalisiert“, indem ethnische Minderheiten im Wirtschaftsleben systematisch benachteiligt oder gar ausgeschaltet wurden. Nationalistische und rassistische Gedanken und Praktiken seien für diese „Volks-Wirtschaften“ im Wortsinne daher geradezu konstitutiv gewesen. Die aus diesen Entwicklungen sich ergebenden Spannungsfelder stehen im Zentrum des Bandes.

Ein besonderes Augenmerk ist dabei dem Beispiel Deutschland gewidmet, namentlich in Bezug auf die Verdrängung der Juden aus allen Wirtschaftsbereichen. Dementsprechend stehen die ersten drei Aufsätze unter dem Signum „the Jew as Homo Economicus“. Dabei beleuchten sowohl Jonathan R. Zatlin als auch Moshe Zimmermann die spezifisch deutsche Perzeption ihrer jüdischen Mitbürger aus geistesgeschichtlicher Perspektive. Beide unterziehen die einschlägigen Werke deutscher Ökonomen, wie Ludolf Holst, Wilhelm Roscher oder Werner Sombart, einer umfassenden Analyse und suchen zu ergründen, wie diese Schriften das stereotype Bild vom wirtschaftlich erfolgreichen Juden befördert haben.

Dorothea Hauser vollzieht dagegen einen Perspektivenwechsel und zeichnet eine Skizze der beiden jüdischen Wirtschaftsschriftsteller Erich Abraham und Kurt Zielenziger. Beide hatten sich vor dem Hintergrund der ökonomischen Krisen der 1920er-Jahre gegen antisemitische Tendenzen in Politik und Gesellschaft gewandt.

Auch die Beiträge der zweiten Sektion beziehen sich auf den deutschsprachigen Raum. So berichtet Björn Weigel über die Rolle der Medien bei der Konstruktion von Skandalen über die angeblich „dunklen Geschäfte“ jüdischer Unternehmer. Diese Aktivitäten hätten sich letztlich sowohl gegen die jüdischen Mitbürger als auch gegen das demokratische „System“ von Weimar gerichtet. Ingo Loose präsentiert daran anschließend seine Forschungsergebnisse über das jüdische Unternehmertum in Schlesien, namentlich in Breslau. Dessen Niedergang sei bereits in der Schlussphase der Weimarer Republik eingeleitet worden, während das definitive Ende jüdischen Wirtschaftslebens mit den Maßnahmen der Nationalsozialisten besiegelt worden sei.

Der dritte Beitrag dieser Sektion stammt von Adam S. Hofri-Winogradow. Er thematisiert die Inhalte und Auswirkungen des Ha’avara-Abkommens, das zwischen 1933 und 1938 Tausenden deutscher Juden die Emigration nach Palästina ermöglichte, obwohl strenge britische Einwanderungsbestimmungen dem entgegenstanden. Benno Nietzel präsentiert dagegen profunde Erkenntnisse über den jüdischen Einzelhandel in Deutschland, der durch ein Paket ineinandergreifender Maßnahmen des NS-Staates – vor allem handelte es sich dabei um Vermögenseinziehung, Unternehmensliquidation sowie „Arisierung“ – binnen weniger Jahre gänzlich verdrängt wurde. Auf ähnlichem Gebiet forscht Stefan Hördler, der das sogenannte „Wiener Modell“ vorstellt, im Zuge dessen in den Jahren nach dem „Anschluss“ Österreichs die jüdische Bevölkerung systematisch enteignet wurde. Dabei handelte es sich aber keineswegs um einen blindwütigen Raubzug, sondern vielmehr um einen bürokratisch organisierten Vermögenstransfer, der sich durch ein hohes Maß an Pragmatismus auszeichnete.

Die dritte Sektion legt den Schwerpunkt auf die europäische Perspektive. Carolyn N. Biltoft untersucht die Rolle des Völkerbundes. Dabei interessiert sie sich vorrangig für ökonomische Konflikte zwischen nationalen Majoritäten mit den jeweiligen ethnischen Minderheiten. Trotz aller Bemühungen konnte die Staatengemeinschaft Benachteiligungen der letzteren häufig nicht verhindern. Den Blick auf das Frankreich der Zwischenkriegszeit richtet dagegen Tal Bruttmann. Er beschreibt die dortige gesellschaftliche Gleichsetzung von Armeniern und Juden, wobei als entscheidendes Kriterium das beide Gruppen betreffende Klischee des Geschäftemachers und Schwarzhändlers zur Anwendung kam. Diesen Ausführungen schließt sich der Beitrag von Marcel Boldorf an, der den „Gelben Sozialismus” in Frankreich thematisiert. Dabei handelte es sich um eine protofaschistische Bewegung, die auf einen autokratischen Staat mit einer gesteuerten und vermeintlich sozialen „neuen Wirtschaftsordnung“ abzielte. Die antisemitischen Inhalte dieser Ideologie sollten während der deutschen Okkupation die Unterstützung der antijüdischen Maßnahmen der Besatzer durch die Vichy-Regierung erheblich begünstigen. Im letzten Beitrag dieser Sektion erläutert Uwe Müller die Bedeutung von Bodenreformen bei der Ausprägung nationaler Ökonomien in Ost- und Ostmitteleuropa während der 1920er-Jahre. Auch diese lautstark propagierten Maßnahmen zielten nicht selten auf eine Verdrängung der grundbesitzenden ethnischen Minoritäten ab.

In der vierten und letzten Sektion stehen vor allem die sogenannten „Auslandsdeutschen“ im Mittelpunkt. Dabei fokussiert Elisabeth Weber den Versuch einer wirtschaftlichen Nationalisierung in Rumänien in der Zeit zwischen den Weltkriegen. Die damit einhergehenden Maßnahmen hätten die deutsche Minderheit in der Regel benachteiligt und letztlich zu einer Segregation der Gesellschaft geführt. Eine wesentliche Reaktion nicht nur der deutschen Minderheit sei eine Intensivierung der eigenen nationalistischen Tendenzen und damit der zentrifugalen Kräfte gewesen. Bernd Robionek erläutert dagegen die Motive und Absichten von wirtschaftlichen Kooperationen, initiiert von Seiten der „Auslandsdeutschen“, in Südosteuropa. Daran anschließend veranschaulicht Nathan Marcus, wie die österreichische Regierung die Interessen der deutschsprachigen Südtiroler vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise ignorierte, um sich im Gegenzug die Unterstützung Italiens bei ihren Bemühungen um eine internationale Anleihe zu sichern. Den Abschlussbeitrag liefert Jaromír Balcar, der seine Ergebnisse über den staatlicherseits geförderten Wirtschaftsnationalismus in der Tschechoslowakei vorstellt. Dabei nimmt er eine langfristige Analyse vor, indem er sowohl die Phase der „Tschechisierung“ 1918–1938 als auch die Jahre der nationalsozialistischen „Germanisierung“ 1938–1945 in seine Betrachtungen einbezieht.

In dem vorliegenden Sammelband offenbart sich der Vorteil dieses Mediums auf besondere Weise, lässt sich doch anhand der unterschiedlichen Perspektiven der einzelnen Beiträger und der dabei aufgegriffenen Fülle von Einzelbeispielen eindringlich belegen, dass Ökonomie und Nationalismus keineswegs unvereinbare Größen sind. Gerade das Zeitalter der Extreme zeigt uns das Gegenteil. Rassismus und seine Wirkungen – Ausgrenzung, Enteignung, Ermordung – schließen rationales Zweckdenken keineswegs zwangsläufig aus. Die Folgen scheinen noch weitreichender zu sein, wenn Kalkül und ideologische Motive sich zu einem unheilvollen Amalgam vermengen.

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