Titel
Global Inequality. A New Approach for the Age of Globalization


Autor(en)
Milanovic, Branko
Erschienen
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marc Buggeln, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Analyse von Ungleichheitsverhältnissen hat derzeit Konjunktur. Mit Branko Milanovic legt nun der führende Wissenschaftler im Hinblick auf globale Ungleichheitsverhältnisse sein neuestes Werk zu diesem Thema vor. Mit etwa 300 Seiten kommt es wesentlich schlanker daher als der Bestseller von Thomas Piketty.1 Ebenso wie Piketty hat Milanovic viel von dem hier Präsentierten bereits in vorherigen Büchern und Aufsätzen in Ansätzen entwickelt2, doch auch hier lohnt die Lektüre des Buches, weil darin versucht wird, eine umfassendere Synthese zu leisten. Inhaltliche Überschneidungen mit Piketty gibt es vor allem im zweiten Kapitel. Ansonsten hat das Buch aber deutlich mehr gemein mit dem Buch von François Bourguignon3, der einige Zeit zusammen mit Milanovic als Ökonom bei der Weltbank gearbeitet hat.

Für Historiker ist beachtenswert, dass diese Bücher Teil eines breiteren Trends sind, der für die Geschichtswissenschaft noch eminent bedeutsam werden dürfte. In den letzten Jahren hat sich eine Vielzahl von Ökonomen und Wirtschaftshistorikern damit beschäftigt, große Datenmengen aus der ferneren Vergangenheit zu sammeln. Während die meisten ökonomischen und insbesondere ökonometrischen Arbeiten bisher frühestens in den 1960er-Jahren ausführlich wurden, weil erst von da an vergleichbare Länderdaten vorlagen, beginnt sich dies deutlich zu ändern. Erste Ergebnisse, die die enorm ausgeweitete Datenbasis nutzen, liegen nun vor4 und deuten bereits an, dass dadurch einige umfassende Neu- oder Reinterpretationen der Geschichte an Gewicht gewinnen könnten. Aus meiner Sicht wäre es äußerst lohnend für Sozial-, Kultur- und Alltagshistoriker, sich bald in diese Debatten einzubringen; zum einen um die neuen Ergebnisse für eigene Arbeiten fruchtbar zu machen, zum anderen aber auch, um eventuelle quantitative Verengungen des Geschichtsbildes kritisch zu diskutieren. Die Studie von Milanovic ist hierfür ein geeignetes Objekt, weil sie exemplarisch die Stärken und Schwächen eines vorwiegend quantitativen Zugangs zeigt.

Im ersten Kapitel geht Milanovic vor allem auf die Entwicklung der globalen Ungleichheit von 1988 bis 2008 ein. Für diese Zeit liegen die umfassendsten Datensätze vor und die Ungleichheit wurde nicht mehr nur nach dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf berechnet, sondern einbezogen wurde, was man im jeweiligen Land dafür kaufen kann (purchasing power parity). Hinzu kommt, dass die Berechnungen bei internationalen Vergleichen nach Bevölkerungsstärke gewichtet sind, weswegen die Entwicklungen in Indien, China und den USA von besonderer Bedeutung sind. Die Gewinner der Entwicklung der untersuchten zwanzig Jahre sind vor allem diejenigen, die im Bereich von 40–70 Prozent der globalen Einkommensverteilung eingereiht sind, und das reichste eine Prozent der Weltbevölkerung. Bei der ersten Gruppe handelt es sich vor allem um die Mittel- und Oberschicht der asiatischen Wachstumsökonomien und insbesondere Chinas. Das reichste eine Prozent wird dagegen nach wie vor von Nordamerikanern und Westeuropäern dominiert. Relative Verlierer waren die ärmsten 10 Prozent der Weltbevölkerung sowie die nordamerikanischen und europäischen Unter- und Mittelschichten. Global nahm ab Mitte der 1980er-Jahre die Ungleichheit seit mehr als 150 Jahren wieder ab. Dies ist vor allem dem Aufstieg Chinas und hier der städtischen Entwicklung zu verdanken. Rechnete man China heraus, wäre nach Milanovic die globale Ungleichheit bis heute weiter angestiegen.

Im zweiten und umfassendsten Kapitel widmet sich Milanovic dann vor allem der Frage, warum die Ungleichheit in den führenden OECD-Nationen seit den 1980er-Jahren wieder zugenommen hat. Hierbei setzt er sich insbesondere mit Simon Kuznets und Thomas Piketty auseinander, denen er große Verdienste zugesteht, deren Erklärungen der Ungleichheit in den letzten zweihundert Jahren aber seiner Meinung nach noch Schwächen haben. Milanovic betont, dass man nicht von einer langfristigen „Kuznets-Kurve“ der Einkommensverteilung, sondern von Kuznets-Wellen oder -Zyklen sprechen sollte, konstruiert aber recht lange „Wellen“. Mit der Ersten Industriellen Revolution steigt die Ungleichheit in den führenden Nationen an, ab Beginn des 20. Jahrhunderts kehrt sich der Trend um. In diesen Nationen kommt es dann mit den von Milanovic als Zweite Industrielle Revolution bezeichneten mikroelektronischen Innovationen ab 1980 zur neuerlichen Einkommensspreizung. Bisher gibt es also nur eine einzige Welle, die weit über 100 Jahre umfasst, und es ist völlig unklar, ob diese Welle eine Systematik hat und in ähnlicher Form wiederkehren wird.

Frappierend ist, dass Milanovic für seine Schlussfolgerungen historische Forschungsergebnisse abseits von quantitativ arbeitenden Wirtschaftshistorikern ignoriert. Beispielhaft hierfür ist seine Interpretation der Gründe für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Demnach hätten Hobson, Lenin und Luxemburg recht gehabt und der Krieg sei ein Ergebnis der Zunahme sozialer Spannungen in Europa durch die zunehmende Ungleichheit in den Gesellschaften gewesen. Die gesamte neuere historische Forschung wird dabei, mit Ausnahme eines Buches von Niall Ferguson, nicht zur Kenntnis genommen. Hier entwickelt Milanovic eine besonders beachtenswerte Interpretationsleistung, denn Ferguson spricht sich mehrfach gegen die These von der Zunahme der Ungleichheit als zentralem Kriegsgrund aus. Milanovic meint dann aber im Schlusskapitel von Ferguson doch einen zustimmenden Satz gefunden zu haben und meint, damit seine Interpretation final belegt zu haben.

Deutlich diskutabler erscheint demgegenüber die Interpretation der Veränderungen durch die Zweite Industrielle Revolution um 1980. Nach Milanovic wird in dieser ebenso wie in der ersten Industrialisierung Arbeit verstärkt durch Kapital substituiert. Dies schwächt die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer in den reichen OECD-Nationen, die durch die Abnahme der Gewerkschaftszugehörigkeit ohnehin bereits im Sinkflug war. Dadurch kann das Kapital die Gewinne zunehmend für sich behalten, was die gesellschaftliche Ungleichheit vergrößert. Der Autor fragt nun, was eine neuerliche Umkehr bewirken könnte. Eine Möglichkeit wäre eine höhere Besteuerung des Kapitals, doch scheint für Milanovic hier der Trend vorerst in die Gegenrichtung zu gehen. Auch eine Verbesserung der Ausbildung scheint ihm wenig erfolgversprechend. Eine weitere Möglichkeit wäre die Entwicklung von Techniken, welche die Produktivität gering qualifizierter Arbeiter erhöht, doch auch hier scheint ihm der Trend in die entgegengesetzte Richtung zu deuten. Hoffnung gibt ihm zum einen, dass auch die Marktführer zu Beginn der ersten Industriellen Revolution Extraprofite erringen konnten, die dann aber durch die Zunahme der Konkurrenz schwanden. Zum anderen setzt er auf den Sozialstaat.

Im dritten Kapitel wird die Ungleichheit zwischen Nationen erforscht. Die weltweite Ungleichheit ist dabei von 1820 bis 1980 durchgängig angestiegen. 1820 war das BIP pro Kopf in den USA viermal höher als in China, 1950 war es bereits zwanzigmal so groß. Während um 1820 so etwa 80 Prozent der Ungleichheit durch die Klassenzugehörigkeit innerhalb eines Landes erklärt werden konnten und nur 20 Prozent durch die nationale Zugehörigkeit bei der Geburt, hatte sich dieses Verhältnis 1950 umgekehrt. Der durchschnittliche US-Bürger hat heute gegenüber einem Kongolesen durch die nationale Zugehörigkeit bei der Geburt einen Einkommensvorteil von 9.200 Prozent. Dadurch wird Migration äußerst attraktiv. Milanovic hält diese für einen wichtigen Mechanismus, um globale Ungleichheiten zu verringern. Er schlägt deshalb vor, dass die westlichen Staaten Migration stärker zulassen, aber den Migranten nur geringe Löhne zahlen sollten. Die vielfältigen möglichen Einwände gegen diesen Vorschlag erörtert er nicht.

Im vierten Kapitel geht es um die Prognose zukünftiger globaler Ungleichheitsverhältnisse. Milanovic stellt zwar einleitend fest, dass fast alle Zukunftsprognosen von 1960 bis 1990 in ihren zentralen Aussagen fehlerhaft oder gar falsch waren und sich die Hauptgründe dafür auch heute kaum beheben lassen, nichtsdestoweniger wagt er selbst eine Vorhersage. Für China rechnet er damit, dass die bis 2002 angestiegene und seitdem weitgehend stabil gebliebene interne Ungleichheit in der näheren Zukunft abnehmen könnte. Für die USA, aber auch Westeuropa rechnet er vorerst mit einem weiteren Anstieg der internen Ungleichheit, aber mit unterschiedlichen politischen Auswirkungen: Während für die USA von einer weiteren Verfestigung plutokratischer Tendenzen auszugehen sei, hält er in Westeuropa aufgrund zunehmender Migration und einer partiellen Erosion des Sozialstaates eine Hinwendung zum rechten Populismus für eine größere Gefahr.

Im abschließenden Kapitel betont Milanovic, dass er vorerst wenig Hoffnung hat, dass die Unter- und Mittelschichten in den reichen OECD-Ländern ihre Position in absehbarer Zeit verbessern können. Möglich wäre dies nur, wenn die Verlierer der Entwicklung sich wieder stärker organisieren würden. Als wichtigste Forderungen für die Verbesserung ihrer Situation betrachtet er die Anhebung der Erbschaftssteuer, die Aktienvergabe an Arbeiter und mehr Gleichheit in der Bildung. Überdies stellt Milanovic jedoch Möglichkeiten einer globalen Vermögensumverteilung vor und fordert mehr Möglichkeiten zur Arbeitsmigration.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Buch seine Stärken dort hat, wo Milanovic sich am besten auskennt: in der globalen Ungleichheit. Dementsprechend sind die Kapitel 1 und 3 die am besten belegten und überzeugendsten. Bezüglich der Ungleichheit innerhalb von Nationen wird zwar der Anspruch erhoben, über Piketty hinauszugehen, doch außer der empirisch noch recht unbestimmten Konstruktion einer Kuznets-Welle bietet das Buch hier wenig. Dies mag auch daran liegen, dass der Autor es innerhalb von sechs Wochen geschrieben hat. Gerade in der historischen Literaturkenntnis und Argumentation hat das Buch einige Schwächen. Die in den Kapiteln 4 und 5 skizzierten Zukunftsausblicke sind zwar durchaus diskussionswürdig, aber über eventuelle Vor- und Nachteile seiner Vorschläge informiert Milanovic nicht. Doch bleibt festzuhalten, dass kaum ein Buch die Zusammenhänge von globaler Ungleichheit und Migration so eindeutig herausgearbeitet hat wie dieses. Trotz der benannten Schwächen stellt es einen Meilenstein der Erforschung globaler Ungleichheit dar. Es bleibt zu hoffen, dass der Autor sich bald mehr Zeit dafür nimmt, seine Vorschläge im Detail auszuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014. Siehe dazu auch das Review-Symposium auf H-Soz-Kult: <http://www.hsozkult.de/searching/id/texte-2642?title=redaktionsnotiz-review-symposium-zu-thomas-piketty-das-kapital-im-21-jahrhundert&q=piketty&sort=&fq=&total=34&recno=20&subType=fd;recno=20&subType=fd> (07.09.2016).
2 Siehe u.a.: Branko Milanovic, Global Income Inequality in Numbers: in History and Now, in: Global policy matters 4 (2013), S. 198–208; ders., Global Inequality of opportunity: How much of our income is determined by where we live?, in: The Review of Economics and Statistics 97 (2015), S. 452–460; ders., Global inequality recalculated and updated, in: Journal of Economic Inequality 10 (2012), S. 1–18.
3 François Bourguignon, Die Globalisierung der Ungleichheit, Hamburg 2013.
4 Zwei herausragende Beispiele hierfür sind: Peter H. Lindert / Jeffrey G. Williamson, Unequal Gains. American Growth and Inequality since 1700, Princeton 2016; Stephen Broadberry u.a. (Hrsg.), British Economic Growth 1270–1870, Cambridge 2015. Siehe zu letzterem die Rezension von Chantal Camenisch in: H-Soz-Kult, 25.02.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-25413> (07.08.2016).

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