R. Millington: State, Society, Memories of the Uprising of 17 June 1953

Titel
State, Society and Memories of the Uprising of 17 June 1953 in the GDR.


Autor(en)
Millington, Richard
Erschienen
Basingstoke 2014: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
IX, 204 S.
Preis
€ 85,59
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Rüdiger Bergien, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Der „17. Juni“ war das Trauma der Mächtigen in der DDR. Nicht zuletzt die bekannte, von Erich Mielke im September 1989 gestellte Frage, ob „morgen der 17. Juni ausbricht?“1, illustriert, wie stark die Wirklichkeitsdeutungen der Machtelite bis zuletzt durch den Volksaufstand geprägt war. Weniger eindeutig erscheint nach wie vor, welche Rolle der „17. Juni“ eigentlich für „das Volk“ selbst spielte. Wie weitgehend fand die offiziöse Deutung als „faschistischer Putschversuch“ zumindest teilweise Akzeptanz? Spielte der „17. Juni“ im kollektiven Gedächtnis der ostdeutschen Gesellschaft auch nach zwei oder gar drei Jahrzehnten noch eine Rolle? Und welche Bedeutung hatte der gescheiterte Aufstand für die Aktivisten und Demonstranten des Herbsts 1989?

Die Studie Richard Millingtons verspricht, auf 200 Seiten Antworten zu geben. Als seinen Forschungsgegenstand bezeichnet der Autor die „nature of memories of the uprising“ in der DDR-Gesellschaft (S. 6). Die Breite dieses Gegenstands macht Millington handhabbar, indem er sich räumlich auf die Stadt Magdeburg beschränkt. Das ist plausibel, zumal es sich bei Magdeburg um eine der Hochburgen des Juni-Aufstands handelte, steht jedoch in einem Kontrast zu dem mehr versprechenden Titel der Studie. Deren empirische Grundlage bilden in erster Linie Interviews, die der Autor mit 39 Personen geführt hat. Bei diesen handelte es sich zur Hälfte um Zeitzeugen des Juni-Aufstands in Magdeburg, zur anderen Hälfte um Personen, die erst 1953 und später geboren worden waren. In seinen insgesamt acht Kapiteln widmet sich Millington einleitend der Ereignisgeschichte des „17. Juni“ in Magdeburg. In den Kapiteln 2 („Day X: Fascists, Spies and Thugs“) und 3 („Tales of That Day“) zeichnet der Autor nach, wie der Volksaufstand im Rahmen des Offizialdiskurses der SED-Diktatur dargestellt wurde. Millington widerspricht hier der von Zeitzeugen häufig geäußerten Erinnerung, der „17. Juni“ sei bis 1989 in der DDR ein Tabu-Thema gewesen, das die Partei totgeschwiegen habe und dessen bloße Erwähnung zu Schwierigkeiten führen konnte (S. 74). Gerade an den ersten Jahrestagen widmete sich die Parteipresse ausführlich dem gescheiterten Aufstand; zudem listet Millington nicht weniger als 17 in der DDR erschienene Romane mit teils erheblicher Auflagenhöhe auf, die den Aufstand thematisierten (S. 185f.). Auch im Schulunterricht wurde das Thema durchaus behandelt (S. 38f.).

Eine gewisse Wirkung spricht Millington dem SED-Offizialdiskurs insofern zu, als auch Interviewpartner, die dem System distanziert gegenüberstehen, noch heute auf bestimmte Deutungsmuster zurückgreifen. So erwähnt ein Zeitzeuge die „RIAS-Hetze“, die in Magdeburg für Unruhe gesorgt habe – tatsächlich konnte der RIAS in Magdeburg gar nicht empfangen werden. Für bedeutender und wirkungsvoller hält Millington dagegen die westdeutsche Berichterstattung in Hörfunk und Fernsehen, auf die die Mehrzahl der DDR-Bürger Zugriff gehabt hätten.

Dieses westdeutsche „external collective memory“, wie Millington es nennt, demzufolge der 17. Juni ein gescheiterter, demokratisch inspirierter Volksaufstand war, hatte aus seiner Sicht eine Schlüsselbedeutung für die kollektive Erinnerung in der DDR. 37 von 38 von Millingtons Interviewpartnern gaben an, dass ihnen die westdeutsche Berichterstattung bekannt gewesen sei. Zwar gaben die Augenzeugen des Aufstands an, die westdeutsche Perspektive überwiegend mit Skepsis aufgenommen zu haben: Die teilweise stark vereinfachende westliche Deutung des „17. Juni“ stand in einem Kontrast zu ihren persönlichen, oftmals komplexeren Erfahrungen. Die 1953 und später Geborenen waren hingegen gegenüber der westlichen Berichterstattung weniger misstrauisch. Viele betrachteten diese als die einzige Möglichkeit, überhaupt Details über den Aufstand zu erfahren (S. 96). Damit sorgten, und diesen Befund betont Millington stark, die Westmedien dafür, dass der Aufstand im Bewusstsein der DDR-Bürger präsent blieb (ebd.).

In seinem 5. Kapitel gelangt Millington zu dem Kern seiner Fragestellung: Wie wurde der Volksaufstand konkret in der DDR-Gesellschaft erinnert (Kapitel 5.1) bzw. diskutiert (Kapitel 5.2)? Die Antworten der Zeitzeugen sind hier vielschichtig und gestatten keine linearen Schlussfolgerungen. Generell hing die Art und Weise, wie der „17. Juni“ erinnert wurde, stark davon ab, welche Erfahrungen die Zeitzeugen vor dem Aufstand mit dem Regime und dessen Politik gesammelt hatten. Systemloyale Bürger, so der nicht unbedingt überraschende Befund des Autors, akzeptierten die offizielle Lesart der Parteiführung, Kritiker der neuen Ordnung nicht (S. 106). Immerhin kann Millington zeigen, dass Augenzeugen in der Regel nicht viel über ihre persönlichen Erfahrungen sprachen und wenn dann allenfalls im engeren Familien- und Freundeskreis. Seit den ausgehenden 1960er-Jahren verblasste das Ereignis in der kollektiven Erinnerung der DDR-Bürger insgesamt, auch wenn eine Zeitzeugin erklärt, dass dieses Datum zumindest bis in die 1960er-Jahre in ihrem Betrieb immer wieder Diskussionen ausgelöst habe.

Als Problem erweist sich zunehmend, dass der Autor nur geringen Aufwand darauf verwendet, die Aussagen seiner Interviewpartner zu hinterfragen oder ihren Charakter als „adressatenbezogene Konstruktionen“ zumindest exemplarisch zu reflektieren.2 Zwar sind die von Millington wiedergegebenen Interviewauszüge aussagekräftig und lesen sich zuweilen spannend. Das betrifft etwa die Erinnerung Jakob Balzerts, dass seine „durch und durch rote“ Lehrerin, konfrontiert mit Gerüchten über den Sturz der SED-Führung, das Klassenzimmer verlassen hätte und ohne Parteiabzeichen wiedergekommen sei (S. 101). Doch geht der Autor nicht weiter auf die Frage ein, wie verlässlich diese Erinnerung des damals 12-jährigen Balzerts fast 25 Jahre nach dem Ende der DDR sein kann. Erst in seinem Resümee geht Millington auf die Frage ein, ob und inwiefern sich durch Interviews überhaupt Aussagen über die Vergangenheit gewinnen lassen (S. 175–182). Seine Überlegungen sind hier durchaus auf dem Stand der Oral-History-Forschung. Sie ersetzen jedoch angesichts der zentralen Rolle, die die Interviews für seine Arbeit spielen, nicht die kritische und zuweilen dekonstruktivistische Behandlung von Interviewaussagen im Rahmen seiner eigentlichen Analyse.

In seinem 6. und 7. Kapitel geht der Autor schließlich auf die Frage ein, ob und inwiefern der „17. Juni“ eine aktivierbare Referenz für Personen darstellte, die das System ablehnten oder sich sogar aktiv widersetzten. Zweigeteilt und durchaus aufschlussreich ist Millingtons Urteil in Bezug auf den Herbst 1989: Zwölf von 20 Interviewpartnern, die den „17. Juni“ als Zeitzeugen erlebt hatten, gaben an, dass sie die Demonstrationen im Herbst 1989 vor dem Hintergrund des „ersten Volksaufstands“ wahrgenommen hätten (S. 154). Die im Jahre 1953 erfahrene Gewalt hätte ihre Bereitschaft, zu demonstrieren, durchaus gemindert. Anders die Interviewten, die nach 1953 geboren worden waren: Hier erklärten nur vier von 18 Interviewpartnern, dass die Erinnerung an den „17. Juni“ für sie eine Rolle gespielt bzw. sie von einer Teilnahme an den Demonstrationen abgehalten hätte (S. 161). Für die große Mehrzahl aber spielte die Erinnerung an den Volksaufstand keine Rolle. Die SED, so Millingtons Fazit, war mit ihrer Politik, die Erinnerung an den Aufstand zu tilgen, so erfolgreich, dass auch die im Juni 1953 verübte repressive Gewalt bei der Generation der um die 40-Jährigen kaum mehr präsent gewesen sei. Sie ließen sich daher von dieser, anders als es das Regime intendiert haben mochte, von einem erneuten Anlauf zu dessen Sturz nicht abschrecken.

Dieses Fazit Millingtons liest sich zwar „rund“. Es widerspricht jedoch seinem eigenen zentralen Befund, dass die Westmedien die Erinnerung an den „17. Juni“ in der DDR-Gesellschaft wachgehalten hätten. Schwerer wiegt indes, dass sich der überwiegende Teil seiner Befunde auf die Aussagen eines überschaubaren Samples von Interviewpartnern stützt, das nach Kriterien ausgewählt wurde, die für den Leser bzw. die Leserin nicht transparent sind und über deren soziales und biographisches Profil man gerne mehr oder besser: überhaupt etwas erfahren hätte. Millingtons Arbeit eröffnet aufschlussreiche Perspektiven auf die Erinnerungen seiner Magdeburger Gesprächspartner. Inwiefern sich von diesen ausgehend verallgemeinerbare Schlüsse auf die Bedeutung des „17. Juni“ für die DDR-Gesellschaft ziehen lassen, bleibt einstweilen offen.

Anmerkungen:
1 Armin Mitter / Stefan Wolle (Hrsg.), Ich liebe Euch doch alle. Befehle und Lageberichte des MfS, Januar – November 1989, Berlin 1990, S. 128–131.
2 Der Begriff nach Harald Welzer, Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung, in: Bios 13 (2000), Nr. 1, S. 51–63, hier S. 60.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/