P. Villaume u.a. (Hrsg.): The 'Long 1970s'

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Titel
The 'Long 1970s'. Human Rights, East-West Détente and Transnational Relations


Herausgeber
Villaume, Poul; Mariager, Rasmus; Porsdam, Helle
Erschienen
Abingdon 2016: Routledge
Anzahl Seiten
XVII, 313 S.
Preis
£ 95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Rother, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Berlin

Aus den nordischen Ländern kommen seit Jahren wichtige Beiträge zur Erforschung des Kalten Krieges. Ein Projekt am Saxo Institute der Universität Kopenhagen widmete sich von 2010 bis 2013 den „langen“ 1970er-Jahren.1 Die Herausgeber des Buches verstehen diese „as a defining transition period that bridges […] the ‘old’ ideological-strategic Cold War confrontations […] and […] the new […] dynamics of the 1980s which contributed […] to the abrupt yet peaceful end of the East-West conflict“ (S. 2). In dieser Zeit habe die Hegemonie der USA in Westeuropa nachgelassen, und neue transnationale Bewegungen sowie neue Formen von Politik seien entstanden. Das Projekt untersuchte Bemühungen um Entspannung des Ost-West-Konflikts, die Ausdehnung von Menschenrechten und von „democratized contacts“ (ebd.) über die Blockgrenze hinweg. Die Artikel des Sammelbandes basieren auf Vorträgen bei der Abschlusskonferenz.

Mark Philip Bradley (University of Chicago) erkundet „The Origins of the 1970s Global Human Rights Imagination“. Seine breit angelegte Analyse verbindet die ökonomische Globalisierung und die Beschleunigung der weltweiten Kommunikation in den 1970er-Jahren mit Erkenntnissen zu politischen Einstellungsveränderungen. Besondere Bedeutung misst er der „Earthrise era“ (S. 21) zu, die mit dem Foto des blauen Planeten, aufgenommen von Apollo 17 im Dezember 1972, begonnen habe. Sie habe das Gefühl einer globalen Verantwortung erheblich verstärkt. Er übersieht dabei, dass mit „Earthrise“ ein bereits vier Jahre zuvor von Apollo 8 aus aufgenommenes Foto bezeichnet wird.2 Eine weitere Quelle für die Zunahme der „Human Rights Imagination“ sieht Bradley im Aufstieg des Konzepts „motivated truth“. Médecins sans Frontiers (MSF) und Amnesty International (AI) hätten sich von diskreten Interventionen zugunsten Verfolgter abgewendet, wie sie etwa das Rote Kreuz bis heute vorzieht und AI sie in der Anfangsphase betrieb. MSF sei Vorreiter darin gewesen, mit öffentlicher und medial verstärkter Zeugenschaft Menschenrechtsverletzungen anzuprangern. Das sei einhergegangen mit dem Aufstieg des historischen Augenzeugen bzw. Zeitzeugen. Erstmals habe dies im Eichmann-Prozess eine Rolle gespielt. Der Ankläger fragte einen Zeugen: „This you saw yourself?“, und die Antwort war: „I saw it with my own eyes.“ (zit. auf S. 23) Die Vielzahl von Quellen für den Aufstieg des Konzepts „Menschenrechte“, die Bradley benennt, machen zugleich die Stärke und die Schwäche seines Beitrages aus: Er regt an, schweift aber auch oft ab.

Steven L.B. Jensen (Danish Institute for Human Rights) weist auf die bisher weitgehend unbeachtete, aber wichtige Rolle von Jamaika, Ghana, Liberia und anderen blockfreien Staaten bei der Durchsetzung verbindlicher Menschenrechtsstandards in den Vereinten Nationen während der 1960er-Jahre hin.3 Sie seien später die Grundlage für „Korb III“ der KSZE-Vereinbarungen gewesen (Informationsfreiheit, Kultur- und Bildungsaustausch etc.). Großbritannien und die Niederlande hätten sich erst nach dem Ende ihrer Kolonialreiche, die USA erst nach der Aufhebung gesetzlicher Rassendiskriminierung einer aktiven Menschenrechtspolitik zuwenden können. Die stärksten Gegner der Bemühungen Jamaikas und der anderen Länder seien die Sowjetunion und Saudi-Arabien gewesen.

Die Verbindungen zwischen osteuropäischen Dissidenten und der westeuropäischen Linken beleuchtet Robert Brier (London School of Economics). Die Linke vertrat in dieser Frage sehr unterschiedliche Positionen. Wichtige Persönlichkeiten – Brier nennt hier neben anderen Willy Brandt – waren eher skeptisch, befürchteten gar Schaden für die Entspannung, treibe man die offene Unterstützung der Dissidenten zu weit. Sie sahen Jimmy Carters Politik kritisch. Auch die Neue Linke war gespalten. In Großbritannien, der Bundesrepublik und den nordischen Ländern habe sie vor einer Solidarisierung mit den Dissidenten zurückgeschreckt, weil sie fürchtete, deren antikommunistische Proteste würden ihre innenpolitischen Gegner stärken. Anders in Frankreich: Dort hätten der „Gulag-Schock“ und der darauf folgende Bruch der Neuen Linken mit der moskautreuen KP den Weg für die Solidarität mit den Dissidenten geebnet. Innenpolitische Entwicklungen hätten also den Unterschied ausgemacht.

Dänemark habe in der Entspannungspolitik der NATO-Staaten gegenüber dem Ostblock eine Vorreiterrolle eingenommen. So lautet die zentrale These von Poul Villaume (Universität Kopenhagen). Auf östlicher Seite habe dabei besonders Polens Außenminister Adam Rapacki eine positive Rolle gespielt. Von dänischer Seite wurde dies „bridge-building“-Politik genannt (S. 131 und öfter). Leider verweist Villaume nicht darauf, dass seit 1964 auch der US-Präsident Lyndon B. Johnson seine Entspannungsbemühungen so nannte. Es bleibt offen, ob die 1965 begonnene dänische Öffnung nach Osten sich an derjenigen der USA orientierte.

Rasmus Mariager (Universität Kopenhagen) beschäftigt sich mit der Sicherheitspolitik der nordeuropäischen Sozialdemokraten in den Jahren 1976–1983. Die Palme-Kommission und ihr Konzept der „Gemeinsamen Sicherheit“ sowie die „Skandilux“-Gruppe, in der Vertreter sozialdemokratischer Parteien aus Skandinavien, den Benelux-Ländern, der Bundesrepublik sowie zeitweise auch aus Frankreich und Großbritannien Sicherheitspolitik diskutierten, sind seine Themen. Sobald die Parteien in der Opposition gelandet waren, hätten sie sich nach links entwickelt, d.h. weg von der Linie der NATO. Entscheidend dafür seien innenpolitische Gründe gewesen. Innerparteilich habe dies zu Konflikten geführt.

Csaba Békés (Corvinus-Universität Budapest) widerspricht der Ansicht, „Korb III“ der KSZE-Vereinbarungen habe für das Ende der kommunistischen Regimes eine große Rolle gespielt. Viel wichtiger sei „Korb II“ über die wirtschaftliche Zusammenarbeit gewesen. Diese sei zum Katalysator für den ökonomischen Zusammenbruch des Kommunismus geworden. Osteuropa und die Sowjetunion seien in eine immer stärkere Abhängigkeit von westlicher Technologie und westlichen Krediten geraten. Damit müsse auch der Beitrag der Bundesrepublik zum Ende des Ostblocks höher veranschlagt werden, denn sie sei der wichtigste Wirtschaftspartner gewesen; dahinter trete die Bedeutung der US-Politik zurück. Dabei sei der Kollaps überhaupt nicht das Ziel der wirtschaftlichen Kooperation gewesen – im Gegenteil: Beabsichtigt gewesen sei die Stabilisierung der Ostblock-Ökonomien. Widerspruch wird Békés sicher mit seiner zweiten These hervorrufen, dass bis Ende 1990 der Westen zwecks Stabilisierung der Regierung Gorbatschow auf den Fortbestand des Warschauer Paktes und eine Art Finnlandisierung Osteuropas gesetzt habe.

Karl Christian Lammers (Universität Kopenhagen) widmet sich dem Image der beiden deutschen Staaten in Skandinavien nach 1969. Willy Brandts Ostpolitik habe das Ansehen der Bundesrepublik entscheidend verbessert – bei Eliten und einem breiten Publikum. Sie habe auch die Isolierung der DDR beendet. Die daraufhin einsetzenden Bemühungen der Ost-Berliner Regierung, ihr Land als Hort des Fortschritts und des Friedens zu propagieren, hätten aber nie vergessen machen können, dass die DDR eine Diktatur und somit den skandinavischen Werten fremd war.

Die Beiträge des Sammelbandes (von denen hier nicht alle erwähnt werden können) beschränken sich nicht auf die „langen“ 1970er-Jahre, was dem Werk durchaus zum Vorteil gereicht. Gewinnbringende Artikel wie diejenigen von Jensen oder Békés hätten sonst nicht Eingang in die Publikation gefunden. Einige andere Aufsätze passen nur schwer zum Rest des Buches, sind aber deshalb nicht weniger interessant. So schreiben Detlef Siegfried und Dino Knudsen (beide Universität Kopenhagen) über alternative Milieus in Europa (1966–1983) bzw. über die von David Rockefeller 1973 gegründete „Trilaterale Kommission“ (hochrangige politische Berater vor allem aus den USA, Westeuropa und Japan) und deren Tagung in Peking 1981.

Der rote Faden, der sich nicht durch sämtliche, aber durch zahlreiche Beiträge zieht, ist die These, dass die Vereinbarungen von Helsinki 1975, insbesondere „Korb III“, für sich genommen keine durchschlagende Wirkung auf die Ost-West-Beziehungen hatten. Nur im Kontext veränderter innenpolitischer Konstellationen sowie einer voranschreitenden Globalisierung von Wirtschaft und Politik, die immer weniger von Blockgrenzen gebremst wurde, avancierte „Helsinki“ zu einem Faktor des Wandels. Dies ist die Antwort, die der Sammelband auf Willy Brandts skeptischen Einwurf von 1977 gibt, die Menschenrechte könnten auch weiterhin nicht vor einem Amtsgericht in Helsinki eingeklagt werden – Robert Brier zitiert ihn (S. 73).

Anmerkungen:
1 <http://epokeskiftet.saxo.ku.dk/english/> (26.08.2016).
2 Siehe etwa <https://www.nasa.gov/multimedia/imagegallery/image_feature_1249.html> (26.08.2016).
3 Siehe jetzt auch seine Monographie: Steven L.B. Jensen, The Making of International Human Rights. The 1960s, Decolonization, and the Reconstruction of Global Values, Cambridge 2016.

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