G. Hübinger: Europäische Wissenschaftskulturen

Cover
Titel
Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890-1970).


Herausgeber
Hübinger, Gangolf
Reihe
Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 87
Erschienen
München 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
316 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Gerhards, Institut für Geschichtswissenschaften II, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Die moderne Wissenschaftsgeschichtsschreibung hat einen merklichen Aufschwung innerhalb der Geschichtswissenschaften in Deutschland erfahren. Längst wird sie nicht mehr als simplifizierende Fortschrittsgeschichte oder als Selbstreflexion einzelner Fachdisziplinen verstanden, die sich über die historische Entwicklung der sie leitenden Ideen, ihrer großen Forscher/innen oder ihrer Paradigmenwechsel vergewissert. Mittlerweile ist sie zu einer institutionalisierten Teildisziplin geworden, was nicht zuletzt auch den Debatten über die „Wissensgesellschaft“ zu verdanken sein mag. Während Wissenschaftsgeschichte in klassischer Ausrichtung meist an den Naturwissenschaften interessiert war1, richtet sich das Interesse längst auch verstärkt auf die Entwicklung der Sozialwissenschaften in der Moderne. Besonders anregend wirkte hier Lutz Raphaels Programm zur Erforschung der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“.2 Die gesellschaftliche Produktion von Wissen und seine internationalen Transfer- und Zirkulationsprozesse rückten damit auch in das Blickfeld der historischen Kulturwissenschaften, die in einer „neuen Wissenschaftsgeschichte“ gelegentlich gar einen Königsweg zur adäquaten Erschließung der europäischen Geschichte erblicken.3

Gangolf Hübinger hat sich in den letzten Jahren produktiv an diesen Forschungen und Debatten beteiligt, vor allem mit eigenen Studien zur Intellektuellen- und Gelehrtengeschichte4, aber auch innerhalb von ihm initiierter Forschungsprojekte zur Verflechtung europäischer Wissenschaftskulturen im 19. und 20. Jahrhundert.5 In diesem Zusammenhang entstand auch der vorliegende Band, der die Beiträge eines Kolloquiums des Historischen Kollegs in München aus dem Mai 2011 präsentiert.6 In seiner ausführlichen Einleitung erläutert Hübinger die erkenntnisleitenden Interessen der Tagung und der Beiträge: „Gegenstand sind die wechselseitigen Abhängigkeiten und Beeinflussungen von wissenschaftlicher Selbstbeobachtung und politischem Ordnungsdenken in der Moderne.“ (S. 8) Zwei Fragestellungen stehen im Vordergrund: Einerseits wird im Anschluss an Reinhart Koselleck nach dem Zusammenhang von „Erfahrungswandel und Methodenwechsel“ gefragt, also nach dem wechselseitigen „Begründungsverhältnis der sozialen Erfahrung von Wirklichkeit und der wissenschaftlichen Beschreibung“ (S. 10) dieser Wirklichkeit. Als zweite Leitlinie dient die Frage nach den Eigenarten nationaler Wissenschaftskulturen einerseits, ihren vielfältigen internationalen Verflechtungen andererseits, sowie schließlich nach der Rivalität der in den Wissenschaftskulturen präsenten politischen Ordnungskonzepte und Zivilisationsmodelle. Wie von Hübinger dargelegt, erscheint es mehr als sinnvoll, gewissermaßen zum „Einstieg“ in diese Fragestellungen einen akteurszentrierten Ansatz zu wählen.

Mit dem Fokus auf „drei Phasen der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung moderner Gesellschaften“ (S. 20) nähern sich die Beiträge an ausgewählten Beispielen den Fragestellungen an.7 Die „Kulturschwelle um 1900“ wird exemplarisch beim Entstehen der Massenwissenschaften in Frankreich und Deutschland (Stefanie Middendorf) beobachtet. Der Gegensatz von „Masse“ und „Elite“ gehört bekanntlich zu den zentralen Kategorien nicht nur der wissenschaftlichen Selbstbeobachtung Europas seit 1900. Der hier gewählte deutsch-französische Vergleich zeigt gravierende nationale Unterschiede in der Verwendung der Begriffe, und damit eben auch, dass sich die Verwissenschaftlichung des Sozialen als gemeineuropäischer Basisprozess zumindest hier nur unter Berücksichtigung der spezifisch nationalhistorischen Konstellationen begreifen lässt. Weniger die nationalen Unterschiede, als die vielberufenen wissenschaftlichen Transferprozesse geraten in der Analyse von Durkheims umfänglicher Rezensionstätigkeit in den Blick (Wolf Feuerhahn), der den französischen Lesern (und sich selbst) vor allem deutschsprachige Sozialwissenschaftler wie Albert Schäffle nahebrachte.

Der „Zeitdiagnostik zwischen den Weltkriegen“ als zweiter Phase sind die meisten Beiträge gewidmet, ein klarer Schwerpunkt wird dabei auf die Entwicklung im wiedererstandenen Polen gelegt. Zunächst widmet sich Karol Sauerland den philosophischen Debatten und ihrem politischen Hintergrund in den 1920/30er-Jahren. Die folgenden Studien zu Georg Simmels schwieriger Rezeption in Polen (Monika Tokarzewska) und die Rolle des Germanisten Zygmunt Łempicki für den polnisch-deutschen Kulturaustausch (Maria Gierlak) sind hingegen wieder stärker auf einzelne Akteure konzentriert, ebenso wie die knappe Miszelle über die Soziologisierung der Wissenschaften bei Ludwik Fleck (Bożena Chołuj). Katrin Steffens Beitrag über zwei bedeutende polnische Naturwissenschaftler, die in Deutschland akademisch sozialisiert wurden, vermag besonders intensiv darzulegen, „wie Wissen im Prozess von Migration und Transfer angeeignet oder auch abgewehrt wurde.“ (S. 186) Eine aufschlussreiche Untersuchung ist abschließend noch dem linksliberalen Akademikermilieu der Weimarer Republik gewidmet (Austin Harrington), das in seiner mittlerweile recht schal gewordenen Etikettierung als „Vernunftrepublikaner“ bei weitem nicht ausreichend genug erfasst wird, wenn es bei der Verteidigung kosmopolitischer Werte gegen einen zunehmend aggressiven Nationalismus beobachtet wird.

Die letzte Abteilung widmet sich den „Zivilisationsdeutungen unter den Vorzeichen des Kalten Krieges“ und wird mit einer Analyse des Zusammenspiels von Liberalismus und Russlandbild bei Isaiah Berlin eröffnet (Benedikt Stuchtey). Von Franz Neumann ausgehend widmet sich anschließend Tim B. Müller der sozialwissenschaftlichen Gegnerforschung in den USA und zeigt auf, wie kritische Intellektuelle (etwa der Frankfurter Schule) einerseits vom Staat in den Dienst genommen wurden, ohne dabei jedoch die eigenen Standards wissenschaftlichen Arbeitens zu verletzen. Das häufig zitierte dichotomische Deutungsmuster von staatlich praktiziertem Antikommunismus versus akademischer Freiheit erweist sich als weitgehend falsch bei Betrachtung einer wissenschaftsbasierten Feindaufklärung, die die Sowjetunion als moderne und entwicklungsfähige Gesellschaft beschrieb und daher mit dem Begriff „totalitär“ eben nicht zu erfassen versuchte. Barbara Picht richtet einen vergleichenden Blick auf drei Gelehrten-Intellektuelle in Ost- und Westdeutschland sowie Polen, die über die Literaturwissenschaft die Zeitläufte kritisch reflektierten und sich somit als „engagierte Beobachter“8 des Jahrhunderts präsentierten. Beschlossen wird der Band mit einem Aufsatz von Edith Hanke über die materielle Verbreitung der Werke Max Webers in der Welt.9 Dieser zentrale Klassiker aller Sozial- und Kulturwissenschaften wird hier als „Krisenlektüre“ vorgestellt, der seine Popularität außerhalb der bekannten Rezeptionsregionen wie den USA und Japan oft erst im Zuge teils dramatischer gesellschaftlicher Transformationsprozesse gewinnt.

Abschließend sei noch auf zwei weitere Aufsätze hingewiesen, die sich dem Periodisierungsschema und dem akteurszentrierten Zuschnitt weitgehend entziehen und eher längere Trends verfolgen. In einer Art zweiter Einleitung widmet sich Lutz Raphael der Verwissenschaftlichung des Sozialen im Europa der ideologischen Extreme und entwirft epochale Unterscheidungskriterien dieses Prozesses, die im Übrigen in Europa und den USA unterschiedliches Gewicht besitzen. Uwe Puschner gibt als einer der besten Kenner völkischen Denkens einen instruktiven Überblick über das Eindringen des (Sozial-)Darwinismus in politische Konzepte und politische Programme von links bis rechts seit den 1880er-Jahren und zeigt dabei nicht zuletzt die Internationalität dieser Theorien, deren wichtigste Vordenker sich vor allem in den USA und im nicht-deutschsprachigen Europa fanden.

Es gehört zu den Vorzügen des Bandes, einerseits die weitgehende Beschränkung auf die Akteursebene durchzuhalten, um damit auch nicht nur von Ferne der Versuchung zu erliegen, eine Art Gesamtschau der „europäischen“ Wissenschaftskulturen in toto bieten zu wollen. Der exemplarische Charakter der Beiträge bietet dadurch zahlreiche Anregungen zu weiteren Fragen und Forschungen, die hoffentlich nicht nur von den hier repräsentierten Autor/innen zu erwarten sind.

Anmerkungen:
1 So wie heute noch das 1994 gegründete MPI für Wissenschaftsgeschichte: <https://www.mpiwg-berlin.mpg.de/de/> (22.08.2016).
2 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193.
3 Beispielhaft: Philipp Sarasin, Was ist Wissensgeschichte?, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011), S. 159–172.
4 Gangolf Hübinger, Engagierte Beobachter der Moderne. Von Max Weber bis Ralf Dahrendorf, Göttingen 2016; ders., Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte, Göttingen 2006.
5 Vgl. dazu den Abschlussbericht des polnisch-deutschen Wissenschaftsprojektes in Frankfurt an der Oder unter der Leitung von Gangolf Hübinger: <https://www.forschung.europa-uni.de/files/projektdaten/Bericht_Europaeische_Wissenschaftskulturen.pdf> (22.08.2016).
6 Vgl. den Tagungsbericht von Edith Plöthner und Max Spohn, Tagungsbericht: Europäische Wissenschaftskulturen und politische Ordnungen in der Moderne (1890–1970), 19.05.2011 – 21.05.2011 München, in: H-Soz-Kult, 10.08.2011, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-3768> (05.09.2016).
7 Das Buch selbst ist, anders als die zugrunde liegende Tagung mit ihren Sektionen, nicht in einzelne Abschnitte unterteilt, was um der Klarheit des Aufbaus willen durchaus zu bedauern ist.
8 Dazu Hübinger, Engagierte Beobachter, S. 7–20.
9 Eine erweiterte und bebilderte Fassung in: Edith Hanke, Max Weber in Zeiten des Umbruchs. Zur Aktualität und weltweiten Rezeption eines Klassikers, in: Max Weber Stiftung (Hrsg.), Max Weber in der Welt. Rezeption und Wirkung. Bearbeitet von Michael Kaiser und Harald Rosenbach, Tübingen 2014, S. 1–21.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch