Cover
Titel
Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität


Autor(en)
Möllers, Christoph
Erschienen
Berlin 2015: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
€ 34,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Timothy Goering, History Department, Harvard University

Es gibt Fußballspiele, in denen der eigene Lieblingsverein ein so genial herausgespieltes Tor bekommt, dass man vor Bewunderung nicht umhin kann, dem Rivalen anerkennend Beifall zu bekunden. So geht es mir mit Christoph Möllers‘ Buch. Es ist ein geniales Buch, das seltene Beispiel einer Schrift, die nicht nur originell, intelligent und ideenreich, sondern auch stilistisch brillant ist. Dass Möllers‘ Darlegung mein Verständnis von Normen geschärft, aber nicht grundsätzlich geändert oder ins Wanken gebracht hat, ist kein Grund, nicht dennoch die Begeisterung für diese Schrift zum Ausdruck zu bringen.

Worum geht es genau? Kurz gefasst geht es darum, eine neue Theorie sozialer Normen zu präsentieren. Was sind Normen? Wie können und sollen sie beschrieben werden? In welchem Verhältnis stehen sie zur faktischen Wirklichkeit? Wie verselbstständigen sie sich? Dies sind Fragen, die dieses Buch umtreiben. Dabei geht es nicht um eine Theorie des Normativen schlechthin. Möllers möchte vielmehr einen Begriff sozialer Normen bestimmen, der stets Tuchfühlung zur Realität hält. Und aus diesem Leitinteresse speist sich auch die große Relevanz dieses Buchs für Historiker. Möllers‘ Überlegungen sollen die empirische Forschung normativer Praktiken von anfechtbaren theoretischen Vorannahmen befreien und gleichzeitig ein Set an sachangemessenen Begriffen und Konzeptionen liefern, die Normen – auch historisch – greifbar machen.

Auch wenn Möllers unterschiedliche Kontrahenten nennt, bleibt der wichtigste Duellant seiner Überlegungen die kantisch geprägte Praktische Philosophie, zu der unter anderem Jürgen Habermas, Rainer Forst, Axel Honneth, aber auch Robert Brandom, Thomas Scanlon, Christine Korsgaard und Derek Parfit zu rechnen sind. Die Ursünde, die diese Gruppe begehe, so Möllers, bestehe in der Reduktion von Normen auf moralische Gründe. Normen entstehen und bestehen, so die Position dieser Gruppe, weil sie implizit von Gründen gestützt werden, die in einer Rechtfertigungspraxis geltend gemacht werden könnten. Möllers wittert hier einen „Normplatonismus“ (S. 42), der die soziale Wirklichkeit normativer Praktiken nur äußerst verzerrt in Augenschein nehme und zu sehr auf Handlungen und Vernunftmoral fokussiere. Es wird nicht ausgeschlossen, dass sich manche Normen begründen oder rechtfertigen ließen, es wird dennoch geltend gemacht, dass eine Rechtfertigung sozialer Normen nicht immer erwartet werde. Es gäbe schließlich auch „moralisch indifferente Normen“ (S. 432), die eine soziale Funktion erfüllten – jenseits aller rechtfertigenden Bemühungen. Deshalb kommt Möllers zu dem etwas paradoxen Anspruch, einen „nichtnormativen Begriff von Normativität“ (S. 65) liefern zu wollen, einen Begriff also, der nicht ausschließlich auf Rechtfertigungen und moralische Gründe rekurriert.

Dass es eine unio mystica zwischen Normativität und Vernunftmoral geben soll, hält Möllers für absurd. Er begreift Normen als „Affirmation der Verwirklichung einer Möglichkeit“ (S. 171). Normen entwerfen und affirmieren Gegen-Modelle zur Wirklichkeit. Damit haben sie etwas mit ästhetischen Werken gemein, und es hilft, Möllers‘ Verständnis einer Norm mit einem Roman oder einem Bild zu vergleichen. Wie ein guter Roman1 zeigen auch Normen, „dass die Welt anders sein könnte, als sie ist, und [machen] diese Unterstellung kenntlich“ (S. 14). Normen teilen das Übersteigen des Faktischen mit Fiktionen, denn beide zeigen die Möglichkeit einer abweichenden Weltbeschaffenheit auf. Möllers nennt Normen daher „positiv markierte Möglichkeiten. […] Normen verweisen auf einen möglichen Zustand oder ein mögliches Ereignis. […] Die positive Markierung einer Möglichkeit zeigt an, dass diese sich verwirklichen soll“ (S. 14). Normen gehen daher mit sozialen Praktiken einher, in denen sich „eine Gemeinschaft von der eigenen Realität distanziert, nicht notwendig, aber unter bestimmten Umständen, um diese zu verändern“ (S. 15).

Für die Etablierung einer Norm bedarf es keiner moralischen Haltung rationaler Agenten, sondern lediglich eines kognitiven Fassungsvermögens für soziale Tatsachen. Die Geburt einer Norm, so Möllers, beginne mit der kognitiven Erfahrung der Enttäuschung. Erst durch das Nichteintreten einer Erwartung könne überhaupt die Konstruktion eines kontrafaktischen Modells entstehen. Die Erfahrung der Enttäuschung nennt er daher die „basale Form von Normativität“ (S. 406). Wenn sich dann diese Erfahrung mit einer sozialen Imagination verbindet und zur transzendenten Denkfigur werde, sei eine weitere Stufe der Normetablierung erreicht. Verselbstständigt werde eine Norm aber erst dann, wenn eine dritte Stufe erreicht werde, nämlich, wenn die Norm als „Mittel von Veränderung“ (S. 407) diene. Mit diesem Stufenmodell wird ersichtlich, dass Normen wandelbar, zukunftsorientiert und mit sogenannten „Realisierungsmarkern“ versehen sind.

Auch wenn dies alles plausibel und Möllers‘ Darlegung von einem normplatonischen Hyperrationalismus zu befreien scheint, hege ich Zweifel, ob sich Moralität tatsächlich so leicht beiseiteschieben lässt, wenn wir ein gründliches Verständnis von Normen gewinnen wollen. Viele Momente in Möllers‘ Argumentation verlören ihren eigentlichen Sinn, wenn die Fähigkeit zum vernünftigen und moralischen Urteilen ausgeklammert wird. Die Möglichkeit, durch Enttäuschung entstehende, kontrafaktische Seinszustände geistig auszusondern, diese kommunikativ mit anderen auszuhandeln und sich für sie einzusetzen, zehrt doch vom menschlichen Vermögen der praktischen Vernunft, die den Handlungsaktivitäten anhand der „Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Principien“2 eine planvolle Struktur geben kann. Wie kann hier das moralische Urteilsvermögen nicht am Werk sein? Darüber hinaus fragt man sich, woher die bindende Zugkraft von Normen sonst komme. Der Norm, Kinderschänder zu bestrafen, liegt doch erheblich mehr bindende Kraft inne als der Norm, in der Öffentlichkeit nicht zu rülpsen. Und die Unterschiede dieser beiden normativen Praktiken ohne moralische Werturteile erklären zu wollen, scheint nicht plausibel. Die handlungsbindende Kraft von moralischen Werturteilen ist für Normen – auch für Normen, die trivial erscheinen – eine wesentliche und konstituierende Eigenschaft. Wie ein Skelett für den Körper ist die moralische Urteilskraft nicht immer sichtbar, aber dennoch lebensnotwendig. Normen erheben schließlich den Anspruch, nicht nur möglich, sondern auch gerechtfertigt zu sein. Nun ist es ganz richtig, dass Normen nicht immer und zu jeder Zeit durch Gründe stimuliert und offenkundig gemacht werden. Viele Normen bestehen, ohne dass ständig über sie geredet wird. Aber auch zur Routine geronnene normative Praktiken, die nicht hartnäckige Erwägungsprozesse durchlaufen haben, sondern einfach blindlings vollzogen werden, operieren implizit mit normativem Einverständnis. Dass man für normabweichende Handlungen haftet – zum Beispiel beim verkehrswidrigen Überqueren einer Straße –, auch wenn sie unbewusst vollzogen wurden, legt diese Vermutung zumindest nahe.

Möllers wirft der Praktischen Philosophie vor, das Ganze auf einen Teilbereich (moralische Gründe) zu reduzieren. Meines Erachtens liegt hier allerdings keine Reduktion vor, sondern vielmehr eine Explizierung des Wesentlichen. Es ist dennoch ganz richtig, dass das Wesentliche nicht das Ganze ist, und somit ist Möllers‘ Buch eine wichtige und kritische Ergänzung zu den wesentlichen Kernbeständen der Normativität. Möllers liefert beispielsweise eine viel plausiblere Beschreibung alltäglicher Normen (wie Tischmanieren oder soziale Konventionen) als die Praktische Philosophie, die sich fast ausschließlich mit gravitätischen, moralischen Normen beschäftigen. Er bietet auch eine viel schärfere Bestimmung von analytischen Begriffen, die den historischen Wandel von Normen erklärbar machen, als es die Praktische Philosophie jemals getan hat. Es besteht meines Erachtens die Möglichkeit, Möllers und die Kantische Perspektive zur Versöhnung zu bringen, auch wenn man dazu mit einer eklektischen Schere das eine oder andere polemische Argument Möllers‘ entfernen müsste. Einen ökumenischen Umgang mit Möllers‘ Buch, der Möllers nicht zum Kontrahenten, sondern zum kritischen Bündnispartner der Kantischen Praktischen Philosophie macht, halte ich nicht für ausgeschlossen. Diese Strategie ist übrigens eine, die auch in der Fußballwelt nicht unbekannt ist: Spieler, die für einen Rivalen spielen und sich kurzerhand nicht besiegen lassen, versucht man schließlich auch für den eigenen Verein zu verpflichten.

Anmerkungen:
1 Walter Jens hob einmal hervor, es sei der Auftrag der Literatur, „hinter dem Wirklichen das Mögliche und hinter dem Gegeben jenes andere sichtbar zu machen“. Siehe: Walter Jens, Phantasie und gesellschaftliche Verantwortung. Zur literarischen Situation in der Bundesrepublik, in: Walter Jens (Hrsg.), Republikanische Reden, München 1976, S. 81–92, hier S. 86.
2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1. Aufl. 1781). Prolegomena. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften (= Akademie Textausgabe, Bd. 4), Berlin 1903/1911, S. 412.

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