M. Graf: Gender-Differenzen in Texten von Auschwitz-Überlebenden

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Titel
Erinnerung erschreiben. Gender-Differenz in Texten von Auschwitz-Überlebenden


Autor(en)
Graf, Margret
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: Campus Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dennis Bock, Institut für Germanistik, Universität Hamburg

Fast 20 Jahre ist es her, dass Dalia Ofer und Lenore J. Weitzman in der Einleitung ihres 1998 erschienenen und wegbereitenden Aufsatzbandes „Women in the Holocaust“ postulierten: „questions about gender lead us to a richer and more finely nuanced understanding of the Holocaust.“1 Gleichwohl sich die These im überwiegenden Teil der Beiträge auf vielfältige Weise bestätigte und in weiteren Projekten produktiv niederschlug, blieb gender als Analysekategorie nicht unproblematisiert – weder in dem von Ofer und Weitzman vorgelegten Sammelband, noch in den Diskussionen der folgenden Jahre. Lawrence Langer beanstandete beispielsweise das Herausstellen genderspezifischer Überlebensstrategien, verbinde die Überlebenden doch gerade ein „ultimate sense of loss [...] beyond gender.“2 Verfolgt man den Diskurs bis in die Gegenwart, der sich insbesondere im Streit essentialistisch geprägter Positionen einerseits sowie kultur- und sozialhistorischer Ansätze andererseits konturierte, wird schnell deutlich, dass sich die Vielzahl der Forschungsbeiträge unter dem Schlagwort ‚gender‘ fast ausschließlich mit den Erlebnissen und Situationen von Frauen befasst. Diese Tendenz dürfte einer in den 1980er-Jahren entstandenen Gegenbewegung entspringen, die der Marginalisierung von Frauen und ihren Zeugnissen sowie dem mithin männlich geprägten master narrative, explizit entgegenarbeitet. Die in Rede stehende, 2015 von Margret Graf vorgelegte Dissertationsschrift stellt gleichermaßen „literarische Zeugnisse von überlebenden Frauen und Männern einander gegenüber[] und vergleich[t] das darin wirksame doing gender sowohl als Weg der Erinnerung an das Erlebte als auch als Modus der Selbstvergewisserung der Schreibenden“ (S. 20) im Prozess der Textentstehung.

Beeinflusst durch die poststrukturalistische Theorie Judith Butlers untersucht Graf am Beispiel der Kategorien Körper, Sexualität und Identität, auf welche Weise unter anderem die Erfahrungen von „Deportation, Selektion, Kahlrasur, Eintätowierung der KZ-Nummer usw. textlich jeweils realisiert sind“ (S. 22). Ausgangspunkt der Studie ist der Versuch, „den Eindruck der seriellen Gleichförmigkeit der Dokumente zu durchbrechen und die geschlechtlichen, aber auch die individuellen Unterschiede in der Darstellung der [...] Topoi herauszuarbeiten“ (S. 17). Dieser Ansatz ist gewiss nicht neu, bietet aufgrund der systematischen Betrachtung der Texte bei Graf jedoch zahlreiche Möglichkeiten, sich weiterführend mit dem Gegenstand zu beschäftigen. Grafs Analysekategorien bilden zugleich die drei zentralen Kapitel der Studie, die von einem einleitenden Abschnitt zur „Geschlechterdifferenz in den Erinnerungen an Auschwitz“ (S. 11–24) und einem abschließenden Kapitel über das Nichterinnern von Sex-Zwangsarbeit im System der NS-Zwangslager eingeklammert werden (S. 251–264).

Am Beispiel der Texte von Primo Levi und Rena Kornreich vergleicht Graf im Abschnitt „Verkörperte Erinnerungen“ (Kapitel 1) in drei Unterkapiteln zunächst einige der für die Shoah-Literatur wiederholt herausgestellten sogenannten Topoi (Einweisungszeremonie, Selektion, Kahlrasur), gefolgt von einem Kapitel über die in den Texten rekonstruierten Gender-Inszenierungen von Levi und Kornreich sowie einem Abschnitt über Hunger. In dem sich anschließenden Unterkapitel „Körper ohne Gewicht“ (1.3) widmet sich Graf schließlich den Erinnerungen an sogenannte Muselmänner. Ihrer Fragestellung entsprechend problematisiert sie zunächst den sprachlichen Ausdruck ‚Muselmänner‘, der aufgrund des Morphems ‚männer‘ „irrigerweise nur auf das männliche Geschlecht schließen“ lässt, obwohl das Wort „Muselmann von den Überlebenden sowohl für Männer als auch für Frauen verwendet“ wurde (S. 99f.). Muselmänner, beobachtet Graf, werden in den Texten der Überlebenden als gleichsam geschlechtslose Masse, als „Bilder schadhafter Männlichkeit“ (S. 112) und „totales Gegenbild von Männlichkeit skizziert“ (S. 109). Die Beschreibungen, folgert die Autorin, werden daher vielfach als Kontrastfolie zur Inszenierung des eigenen genders, zur Vergewisserung der eigenen Intelligibilität funktionalisiert. Insgesamt wäre ein kritischerer Umgang mit dem Forschungsstand, insbesondere den Ergebnissen von Wolfgang Sofsky und Giorgio Agamben 3 sowie darüber hinaus die Berücksichtigung von Texten ehemaliger Muselmänner wünschenswert gewesen. Denn wie vielfach in der Forschung wird zwar über Muselmänner gesprochen, doch werden deren eigene Erfahrungen nicht einbezogen. 4 Eine diesbezüglich gender-differenzierte Analyse der Zeugnisse wäre ein großer Gewinn für das Forschungsfeld gewesen. Dennoch darf diese Kritik nicht darüber hinwegtäuschen, dass Graf in diesem Kapitel wichtige Anregungen für zukünftige Forschung gegeben hat.

Kapitel 2 untersucht unter dem Titel „(Zwangshetero)Sexualität“ in insgesamt vier Abschnitten Frau- bzw. Mann-Sein im KZ und die jeweils damit in Zusammenhang stehende gefährdete Weiblichkeit bzw. Männlichkeit. Graf geht von einer „doppelten Gefährdung der geschlechtlichen Identität der Gefangenen als Frauen und Männern“ (S. 119) durch die Lagergefangenschaft aus. Einerseits seien sie durch die „Tilgung signifikanter ‚Wahr-Zeichen‘“ (ebd.) ihrer Körper in ihrem gender bedroht, andererseits sei durch die geschlechtliche Separierung der Häftlinge „das Objekt des (heterosexuellen) Begehrens nicht mehr erreichbar“ (ebd.) gewesen. Dementsprechend fragt Graf danach, „welche Möglichkeiten die Überlebeden auf Textebene genutzt haben, um ihre (heterosexuelle) Orientierung sicherzustellen“ (S. 120). Olga Lengyel und Ruth Elias gelänge dies beispielsweise deshalb, weil sie zwar von Gefährdungen berichteten (unter anderem von sexuellem Tauschhandel und Vergewaltigungen), ihnen aber wiederholt entkommen seien, sie mithin im Prozess der literarischen Erinnerung die „tapfere Verteidigung ihrer Tugendhaftigkeit und damit ihrer eigenen Weiblichkeit“ sicherstellten (S. 146). Im Vergleich der Texte von Männern und Frauen beobachtet Graf ferner einen offeneren Umgang mit Zärtlichkeit und Nähe unter Frauen, während das Zusammenleben von Männern ihre Heterosexualität offenbar ‚gefährdete‘, weshalb sie sie auf der Textebene anhand „identitätssichernde[r] Distanzzonen“ zu stabilisieren suchten (S. 178).

Kapitel 3 („Identität – (De)Subjektivierung“) rückt die literarische Repräsentation der KZ-Nummer in den Fokus. In Anlehnung an Althusser und Butler nutzt Graf die Begriffe ‚Interpellation‘, ‚Anrufung‘ und ‚Umwendung‘, um unter anderem den Prozess des Tätowierens als ‚Anrufung‘ und De-Subjektivierungserfahrung zu beschreiben. Graf vergleicht zunächst die Erinnerungen an das Tätowieren von Frauen und Männern, um im zweiten der insgesamt drei Unterkapitel „Textuelle (Gegen)Reaktionen der Überlebenden“ (3.2) herauszuarbeiten. Einerseits gehe aus den Texten die Erfahrung einer „(Zwangs-)Umwendung“ hervor, „deren Nichtperformanz unmittelbar Gewalt zur Folge hatte“ (S. 225), anderseits rekonstruiert Graf Formen der „Subjektverteidigung“ (vgl. 229ff.), die sie insbesondere in den Texten von Primo Levi, Wiesław Kielar, Rena Kornreich und Cordelia Edvardson findet. Die literarische Gegenstrategie sei in der expliziten Nennung des eigenen Namens sowie jener von Mithäftlingen zu suchen, was einen Versuch der Re-Individualisierung und -Subjektivierung darstelle. Insgesamt sei mit den autobiografischen Texten daher eine „fragile[] Bewegung um das Motiv der Umwendung und deren Verweigerung dokumentiert“ (S. 249).

In Kapitel 4 entwickelt Graf schließlich eine Reihe interessanter Thesen. Ausgehend davon, „dass gender (Geschlechtsidentität) unabdingbar für die Formierung von Erinnerung auf der Textebene“ (S. 256) sei, weil dort die zerstörte Femininität und Maskulinität reformuliert werden könne, bringt Graf ihre Ergebnisse beispielsweise in Zusammenhang mit dem Schicksal der Sex-Zwangsarbeiterinnen. Der andernorts in ihrer Studie herausgestellte Versuch der Überlebenden, ihre geschlechtliche Identität auch gegen den Prozess der Entindividualisierung aufrecht zu erhalten, sei im Kontext der Sex-Zwangsarbeiterinnen suspendiert: Hier „stand alleine die Sexualität, um nicht zu sagen die ‚Über-Genitalisierung‘ im Sinne eines auf die Anatomie des Zwangsgeschlechtsverkehrs reduzierten Körpers im Zentrum“ (S. 258). Die Möglichkeit, „ihre gender-Performanz gegen das System zu richten“ (S. 262), wurde diesen Frauen genommen, weil „die gender-Performanz dort nicht aufgehoben, sondern dem KZ-System selbst nutzbar gemacht wurde“ (S. 263), schlussfolgert Graf. Das re-subjektivierende Erschreiben des genders sei damit nahezu unmöglich.

Margret Graf hat insgesamt eine materialreiche Studie vorgelegt, die zahlreiche Aspekte des Lageralltags darstellt und sie anhand der zugrunde gelegten literarischen Zeugnisse auf ihre gender-differenzierte Wahrnehmung und Erinnerung befragt. Es bedarf einer aufmerksamen Lektüre, um den Beobachtungen der Autorin folgen zu können, die sich mitunter in sehr detaillierten Analysen verlieren. Eine differenziertere Gliederung, die auf den jeweiligen Ausgangspunkt zurückführt, hätte der Studie hier gutgetan. Grafs Argumentationen sind weitgehend plausibel. Allerdings orientiert sich die Auslegung der Texte bisweilen zu eng an ihren Thesen, was eine materialkritische und offene Interpretation mitunter verhindert. Ein mutigeres Herausstreichen von Widersprüchen hätte die Ausführungen beleben können. Sobald sich Graf jedoch von ihrem Material löst, gewinnt ihre Studie an produktiven und weiterführenden Denkanstößen. Wünschenswert wäre schließlich eine sozialhistorische Kontextualisierung der „heteronormative[n] Denksystem[e]“ (vgl. unter anderem S. 124) und der „klassischen Geschlechterbilder“ gewesen, die Graf zufolge in den Texten aktualisiert werden. Die Frage, inwieweit die Ansätze Judith Butlers hier einen Mehrwert darstellen, ist nicht vollständig beantwortet worden.

Nichtsdestoweniger ist der systematische Vergleich der literarischen Zeugnisse von Frauen und Männern – insbesondere einer ganzen Reihe in dieser Form bislang nicht besprochener kanonischer Texte – gelungen und bietet zahlreiche Möglichkeiten für eine weiterführende Diskussion.

Anmerkungen:
1 Dalia Ofer / Leonore J. Weitzman (Hrsg.), Women in the Holocaust, New Haven 1998, S. 1.
2 Lawrence L. Langer, Gendered Suffering? Women in Holocaust Testimonies, in: Ofer / Weitzman (Hrsg.), Women in the Holocaust, S. 351–363, hier S. 362. Vgl. hier auch Joan Ringelheims Kritik an Langers Position: The Split Between Gender and the Holocaust, in: Ofer / Weitzman (Hrsg.), Women in the Holocaust, S. 340–350, hier S. 346.
3 Wolfgang Sofsky, Die Ordnung des Terrors, Frankfurt am Main 1993, S. 229–336; Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt am Main 2003, S. 36–75.
4 Angeboten hätte sich in diesem Zusammenhang das Zeugnis von Adolf Gawalewicz, das Graf jedoch ausschließlich in einem anderen Kontext verwendet, sowie die zahlreichen bei Ryn / Kłodzinski versammelten Berichte ehemaliger Muselmänner. Vgl. Adolf Gawalewicz, Überlegungen im Warteraum zum Gas. Aus den Erinnerungen eines Muselmanns, Gütersloh 1998; Stanisław Kłodzinski / Zdzisław Ryn, An der Grenze zwischen Leben und Tod. Eine Studie über die Erscheinung des ‚Muselmanns‘ im Konzentrationslager, in: Die Auschwitz-Hefte. Texte der polnischen Zeitschrift ‚Przegla̜d Lekarski‘ über historische, psychische und medizinische Aspekte des Lebens und Sterbens in Auschwitz 1 (1987), S. 89–154, hier S. 121–124.

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