D. Ziegler u.a. (Hrsg.): Vertrauensbildung als Auftrag

Cover
Titel
Vertrauensbildung als Auftrag. Von der Deutsch-Amerikanischen Treuhand-Gesellschaft zur KPMG AG


Herausgeber
Ziegler, Dieter; Lesczenski, Jörg; Bähr, Johannes
Erschienen
München 2015: Piper Verlag
Anzahl Seiten
309 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robert Bernsee, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Vertrauen ist eine elementare Ressource in hochgradig arbeitsteiligen Marktgesellschaften. In westlichen Ökonomien produzieren es heute unter anderem Personen, die in Wirtschaftsprüfungen tätig sind. Sie bewerten Betriebe, prüfen Bilanzen und sorgen damit bei Investoren oder Kapitaleignern für verlässliche Entscheidungsgrundlagen. Diese Funktionsbeschreibung klingt nüchtern und verdeckt, dass Wirtschaftsprüfer mit ihrer Tätigkeit auch makroökonomische Prozesse beeinflussen können – oder, präziser formuliert, ihnen dieser Einfluss zugeschrieben wird. Dieser Umstand ist nicht zuletzt durch die jüngste Weltwirtschaftskrise sichtbar geworden, die sich bekanntermaßen 2007 an der Abwertung spezieller Wertpapiere entzündete. Ins Fadenkreuz der Kritiker gelangten die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, darunter insbesondere die sogenannten Big Four, die ihrer Sorgfaltspflicht bei der Bewertung von Vermögen und Risiken nicht nachgekommen seien.1 Ob diese Kritik zutreffend ist oder nicht, steht hier nicht auf dem Prüfstand; sie zeugt von der hohen Bedeutung, die Wirtschaftsprüfern für heutige Ökonomien beigemessen wird.

Angesichts dieses gegenwärtigen Stellenwerts ist es erstaunlich, dass die Wirtschaftsprüfung und ihre Akteure bislang kaum Gegenstand wirtschafts- oder unternehmenshistorischer Forschung waren.2 In dem hier zu besprechenden Sammelband geht es um eine der großen vier Wirtschaftsprüfungsgesellschaften, nämlich die KPMG AG sowie ihre deutschen Vorgängerorganisationen, insbesondere die Deutsche Treuhandgesellschaft (DTG). Im Zentrum des Bandes stehen Märkte von Treuhand- und Prüfungsgesellschaften, deren Geschäftsstrategien und Organisation sowie die Funktion von Wirtschaftsprüfern in der longue durée von 1890 bis heute. Nebst Einleitung enthält das Buch sechs quellengesättigte und -nahe Beiträge, die chronologisch angeordnet sind. Die Einzelbeiträge folgen keiner einheitlichen Methodik, sondern setzen jeweils eigene Schwerpunkte in Darstellung und Kontextualisierung.

Andreas Fahrmeir und Jörg Lesczenski beschäftigen sich mit der frühen Geschichte der DTG vom Kaiserreich bis zum Ende der Weimarer Republik. Sie verdeutlichen, dass die DTG (und ihre Vorgängerin) insbesondere das nordamerikanische Wertpapiergeschäft der Deutschen Bank bestritt, die sie zum Zweck der Risikominimierung gegründet hatte. Dieses Geschäftsfeld ließ bei der DTG Kompetenzen in der Unternehmens- und Vermögensbewertung entstehen und machte sie damit attraktiv für den Markt für Bilanzprüfungen, der in Deutschland zu expandieren begann. Er gewann vor allem in der Weimarer Republik an Bedeutung. Die Autoren beschreiben zudem, wie sich der Beruf des Wirtschaftsprüfers zunehmend professionalisierte und wie sich der Markt für Bilanzprüfungen in Deutschland ausgestaltete.

Johannes Bähr untersucht, wie Wirtschaftsprüfungsunternehmen während des Nationalsozialismus agierten. Er beschreibt, wie sich der Berufsverband im Zuge der „Gleichschaltung“ an nationalsozialistische Organisationen anschloss, berichtet über personelle Konsequenzen innerhalb der Unternehmen und schildert die Geschäftsentwicklung. Dabei zeigt er, dass die DTG geringfügig an den inländischen „Arisierungen“ beteiligt war, dafür umso stärker in den besetzten Gebieten, zumal in Polen und über ein verbundenes Unternehmen in den Niederlanden. Die Treuverkehr, eine weitere Vorgängerin der KPMG, engagierte sich besonders exzessiv in den „Arisierungen“ in Frankreich.

Dieter Ziegler beschreibt die Entwicklung der DTG nach 1945. Die Herausforderung bestand vor allem darin, die eigene Marktposition im In- und Ausland aufzubauen. Dem Auslandsengagement schenkt der Autor große Aufmerksamkeit und zeigt, dass es der DTG nach ersten gescheiterten Versuchen in den späten 1970er-Jahren gelang, mit der KMG eine tragfähige internationale Kooperation aufzubauen. Diese expandierte nicht nur rasch, sondern bildete auch den Nukleus für eine Fusion, die in den 1980er-Jahren erfolgen sollte. Aufschlussreich sind zudem Zieglers Ausführungen zur Eigentümertransformation: Analog zur anglo-amerikanischen Tradition etablierte sich die Auffassung, dass lediglich Wirtschaftsprüfer Teilhaber von derartigen Gesellschaften sein sollten, und nicht Banken oder andere Aktiengesellschaften. Die Transformation gestaltete sich langwierig und war bei der DTG erst in den 1980er-Jahren abgeschlossen, obwohl die Deutsche Bank bereits 1966 als Aktionärin ausschied.

Franziskus von Boeselager widmet sich sodann dem „Mega-Merger“ zwischen Peat Marwick und KMG/DTG von 1986 bis 1994. Einigungsschwierigkeiten, so von Boeselager, gab es vor allem bei den Themen Rechtsform und Vergütungssystem. Bezüglich beider Themen unterschied sich das britische Unternehmen erheblich vom deutschen, übrigens auch hinsichtlich des Geschäftsfeldes Mergers and Acquisitions, das bei deutschen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften keine Rolle spielte und Konfliktpotential mit Mandanten in sich trug.

Marcus Böick beschäftigt sich damit, wie die KPMG/DTG-Führung die Wende wahrnahm und welche Aktivitäten sie 1990 entfaltete. Er unterscheidet drei Phasen des Wendejahres: Zunächst herrschte Euphorie in der Unternehmensführung, die große Geschäftspotentiale in Ostdeutschland witterte und sich um Mandate sowie Personal bemühte. Dann erfolgten ein rascher Aufbau eigener Strukturen und eine enge Zusammenarbeit mit der Treuhandanstalt. Als sich schließlich Probleme beim Umbau der ostdeutschen Volkswirtschaft abzuzeichnen begannen, setzte Ernüchterung ein. Fortan sollte man sich bei der Auftragsannahme zurückhalten, nicht zuletzt deshalb, weil man Reputationsverluste infolge fehlerhafter Prüfungen befürchtete.

Abschließend fassen Jörg Lesczenski und Andrea H. Schneider die Ergebnisse in großen Linien zusammen und gehen auf die jüngste Entwicklung der Branche ein. Sie nennen die wichtigsten Motoren der historischen Unternehmens- sowie Branchenentwicklung und verdeutlichen, dass die Branche seit den 1990er-Jahren noch an Wachstumsdynamik gewonnen hat. Beide beschreiben schließlich die großen Bilanzskandale der frühen 2000er-Jahre und den daraus entstehenden Druck auf die Unternehmen, die Corporate Governance neu auszugestalten.

Leserin und Leser des Buches erhalten also umfangreiche Informationen darüber, wie sich Geschäftspolitik, Führungswechsel sowie Organisationstrukturen der DTG und anderer Vorgängerorganisationen ausgestalteten beziehungsweise veränderten. Sie erfahren vergleichsweise wenig über die konkrete Unternehmenskultur, das heißt interne Praktiken, Normen und Werte. Nichtsdestoweniger erlaubt der Band Einblicke in die Branchenentwicklung in Deutschland und punktuell auch in den USA oder im Vereinigten Königreich. Besonders interessant ist dabei die (anfangs) symbiotische Beziehung zwischen Banken und Wirtschaftsprüfungsgesellschaften: Erstere lieferten Mandanten, nämlich die eigenen Kunden, letztere verringerten Kreditrisiken der Banken durch Bilanzprüfungen. Inwieweit die Wirtschaftsprüfungen dadurch die hohe Bedeutung kreditbasierter Außenfinanzierung in deutschen Unternehmen weiter stärkten, bleibt offen. Das Buch liefert außerdem Aufschluss darüber, wie die Kundenakquisition bei Wirtschaftsprüfungsunternehmen erfolgte: Neben der Anbindung an Banken dienten diesem Zweck vor allem Fusionen, aber auch Kontakte zu politischen Entscheidungsträgern, wie es bei der Zusammenarbeit mit der Treuhandanstalt nach 1989 geschah. Besonders bemerkenswert sind schließlich die Ausführungen über die zentrale Rolle von Wirtschaftsprüfungsunternehmen bei ganz unterschiedlichen Formen des Eigentumstransfers, sei es bei den „Arisierungen“ im Nationalsozialismus oder den Privatisierungen im postsozialistischen Ostdeutschland. Diese Ausführungen unterstreichen die zentrale Bedeutung der Wirtschaftsprüfung in westlichen Gesellschaften, insbesondere während Umbruchs- und Krisenzeiten.

Zum Beruf des Wirtschaftsprüfers und zu seinen Funktionen hält das Buch nur partiell Informationen bereit. Gewiss, man erfährt einiges über die Verbandsentwicklung und Branchenstruktur in Deutschland, die sich lange aus Einzelprüfern, staatlichen und privaten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften zusammensetzte. Jedoch erfolgen zu Selbstbildern, zur Selbstverortung (gerade unter den „freien Berufen“) oder zum Ehrverständnis des Berufsstandes keine oder nur sehr mittelbare Ausführungen. Dieser Umstand hängt sicher damit zusammen, dass natürliche Personen unterhalb der Führungsebene in den Beiträgen weitgehend unsichtbar bleiben. Nicht zuletzt darin liegt der Grund für den recht geringen Stellenwert der Unternehmenskultur innerhalb des Bandes. Weiterhin schweigt das Buch zur heute virulenten Frage, wie die KPMG mit vermeintlichen Widersprüchen hinsichtlich ihrer Geschäftsfelder umging – Stichwort: Prüfung und Beratung unter einem Dach –, von kurzen Einblicken in zeitgenössische Reflexionen bei Marcus Böick abgesehen. Schließlich ist zum „Vertrauen“ zu sagen, dass der Begriff zwar im Titel vorkommt, aber kein Bestandteil in der Darstellung ist. Leserin und Leser sollten keine Analyse erwarten, wie die Produktion von Vertrauen im Hause KPMG/DTG konkret ablief.

Insgesamt bietet das Buch aber gehaltvolle Informationen zur Geschichte der Wirtschaftsprüfung. Es kartografiert ein kaum bekanntes Terrain und ermöglicht somit die Bearbeitung weitergehender Forschungsfragen. Zudem leistet es einen unmittelbaren Beitrag zur Geschichte von Dienstleistungsunternehmen und bildet eine wertvolle Erweiterung der Finanzgeschichte. Der Band bietet mittelbar Aufschluss hinsichtlich sich aktuell konstituierender Forschungsgebiete, darunter insbesondere die Geschichte der Finanzialisierung3 und die Geschichte der Wirtschaftsethik.4

Anmerkungen:
1 Vgl. Patrick Straßer / Daniela Devantier-Stern, Setzt den Wirtschaftsprüfern Grenzen!, in: DIE ZEIT Online, 20.10.2008, <http://www.zeit.de/online/2008/43/wirtschaftspruefer-finanzkrise> (25.07.2016). Es entspann sich zudem eine akademische Diskussion, inwiefern nicht die Ausführenden, sondern die Regeln selbst verantwortlich für die Verwerfungen waren, etwa in der Betriebswirtschaftslehre. Vgl. Patricia J. Arnold, Global financial crisis. The challenge to accounting research, in: Accounting, Organizations and Society 34 (2009), S. 803–809.
2 Eine der wenigen Ausnahmen bildet die Monografie von Ute Pothmann, Wirtschaftsprüfung im Nationalsozialismus. Die Deutsche Revisions- und Treuhand AG (Treuarbeit) 1933 bis 1945, Essen 2013.
3 Dazu Alexander Engel, The Bang after the Boom. Understanding Financialization, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 500–510.
4 Vgl. Jens Ivo Engels u.a. (Hrsg.), Krumme Touren in der Wirtschaft. Zur Geschichte ethischen Fehlverhaltens und seiner Bekämpfung, Köln 2015.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension