N. Petersen: Lüneburg und sein Umland im Spätmittelalter

Titel
Die Stadt vor den Toren. Lüneburg und sein Umland im Spätmittelalter


Autor(en)
Petersen, Niels
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 280
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
550 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Hecht, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar, Abt. für Westfälische Landesgeschichte

Fragen zum Verständnis des Raumes als historische Kategorie, die im Zuge des sogenannten spatial turn breit diskutiert wurden, haben auch die Stadtgeschichtsforschung in den vergangenen Jahren intensiv beschäftigt. Wenn Raum als Produkt der Konstruktions- und Kommunikationsleistung historischer Akteure aufzufassen ist, welche Folgen ergeben sich dann für die Beschreibung urbaner Räume und für die Abgrenzung zwischen Stadt und Nichtstadt? Niels Petersen bezieht sich in seiner 2012 abgeschlossenen Göttinger Dissertation, die nun in leicht überarbeiteter Druckfassung vorliegt, auf diese Diskussionen um alte und neue Raumbegriffe. Dabei ist das Ziel seiner Arbeit, mit Hilfe solcher Überlegungen zwei klassische Felder der stadthistorischen Forschung zusammenzuführen und weiterzuentwickeln: einerseits die Stadt-Umland-Forschung, die bislang vor allem durch wirtschaftshistorische Erkenntnisinteressen geprägt war, andererseits die Beschäftigung mit dem kommunalen Bauwesen, die häufig auf Kirchen- und Ratshausbauten sowie innerstädtische Infrastrukturmaßnahmen ausgerichtet war. Petersen geht es um die Frage, wie städtisches Bauen außerhalb der Mauern städtische Räume oder symbolisch vermittelte Raumansprüche konstituierte. Für eine Fallstudie wurde die spätmittelalterliche Salzstadt Lüneburg ausgewählt, für die aufgrund einer exzellenten Quellenüberlieferung und wegen verschiedener – nicht zuletzt der Saline geschuldeter – Strukturmerkmale eine vielschichtige Verflechtung von urbanen und suburbanen Räumen nachweisbar ist.

Nach einführenden Kapiteln zu Fragestellung, Forschungsstand und einem Überblick zur Lüneburger Geschichte geht es in Kapitel 3 um allgemeine Merkmale des kommunalen Bauwesens. Das Ratsamt der Bauherren wird in seinen Aufgaben und Funktionen vorgestellt sowie die Finanzierung des Bauamtes aus der umfangreichen Rechnungsüberlieferung rekonstruiert. Für den städtischen Bauhof und kommunale Eigenbetriebe wie den Ziegelhof und den Kalksteinbruch werden im Hinblick auf die beteiligten Personen sowie den Zu- und Abfluss von Baumaterialien bereits komplexe Verbindungen von Stadt und Umland deutlich. Das umfangreiche Kapitel 4 beschäftigt sich mit den Eigentümern und den Nutzungsformen des Landes vor den Mauern. Vor allem städtische und stadtnahe Klöster, die durch den Besitz von Salinenanteilen und durch personelle Verbindungen zur Lüneburger Oberschicht gleichsam wichtige kommunale Akteure waren, besaßen umfangreiche Grundherrschaften vor der Stadt. Aber auch Bürger legten Geld an, indem sie Güter im Umland erwarben und über Praktiken der Nutzung einen „ausgelagerten städtischen Raum“ (S. 209) schufen. Die Funktionen der extramuralen Räume für die städtische Gemeinschaft waren vielfältig: Die direkt vor den Toren liegenden Gartengrundstücke nutzte man zum Anbau von Obst; sie wurden ebenso wie die für die Versorgung der Stadt wichtigen Stadtweiden, Fischteiche und Röhrenbrunnen vom Rat beaufsichtigt. Kapellen und Friedhöfe konstituierten eine vorstädtische „Sakralzone“, die etwa durch Prozessionen mit der Stadt verbunden wurde. Die Landwehr mit ihrem System von Gräben, Wällen und Türmen erfüllte eine militärische Schutz- und wirtschaftliche Kontrollfunktion. Die durch das städtische Bauamt gewährleistete Instandhaltung von außerstädtischen Straßen und Wasserwegen zielte vor allem auf einen reibungslosen Handelsverkehr mit dem in der Stadt produzierten Salz und mit anderen Gütern.

Im Kapitel 5 werden die Ansprüche der Stadt auf die Nutzung des außerstädtischen Raumes in herrschaftlicher, jurisdiktioneller und ökonomischer Hinsicht noch einmal systematisiert. Neben einer regelmäßigen Praxis etwa durch alltägliche Nutzung des Stadtfelds lassen sich bestimmte symbolische Praktiken mit der Artikulation eines Raumanspruchs in Verbindung bringen, so die regelmäßig vom Rat organisierten und protokollierten Weideumgänge, das Setzen von Grenzsteinen sowie der Bau von Galgen zur Markierung des städtischen Gerichtsbezirks im Umland. Die Übernahme von Pfandschaften herzoglicher Schlösser – hier vor allem dargestellt am Beispiel des 22 km vor Lüneburg gelegenen Bleckede – involvierte die Stadt in zahlreiche Fehden des Landadels, brachte jedoch auch die beanspruchte Kontrolle über die Verkehrswege zum Ausdruck. Im Laufe des 16. Jahrhundert musste sich die Stadt allerdings immer mehr mit konkurrierenden Raumpraktiken des Landesherrn im Zuge der Territorialisierung auseinandersetzen, was schließlich zum Rückgang der Lüneburger Präsenz jenseits der Stadtmauern führte. Das vergleichsweise kurze Kapitel 6 versucht sich schließlich der Wahrnehmung des Lüneburger Raumes in verschiedenen Medien zu nähern, wobei hier wegen fehlender früherer Quellen lediglich die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts in den Blick kommt, in der gegenüber dem Spätmittelalter von gewandelten Raumpraktiken auszugehen ist. Während Reiseberichte kein konsistentes Bild vom extramuralen Raum vermitteln, ist in der ratsnahen Städtelob-Literatur und in den im Auftrag der Stadt produzierten Landkarten das Umland als Stadtraum repräsentiert.

Ein Schlusskapitel bündelt die gewonnenen Erkenntnisse und fasst die unterschiedlichen, jedoch eng miteinander verflochtenen Dimensionen des Stadtraums vor den Toren mit den Begriffen Besitzraum, Bezugsraum (für Rohstoffe und Nahrungsmittel), Nutzungsraum und Herrschaftsraum zusammen. Alle diese Ausprägungen waren auf je eigene Weise durch Bauten markiert und wandelten sich im Laufe der Untersuchungszeit. Insgesamt hat Niels Petersen eine beeindruckende Arbeit vorgelegt, die die vielschichtigen urbanen Raumpraktiken gut systematisiert. Dass die Wahrnehmungen des Raumes durch die verschiedenen Akteure und Gruppen weniger klar erkennbar sind (und mitunter eher postuliert denn belegt werden), ist in erster Linie der Quellensituation geschuldet. Die Studie überzeugt durch intensive Durchdringung eines nicht immer leicht zu handhabenden Archivmaterials sowie durch eine unprätentiöse Sprache. Der Versuch, die Lüneburger Befunde stets mit einem überregionalen Forschungskontext abzugleichen, ist ebenfalls positiv hervorzuheben. Die Arbeit fordert heraus, sich zukünftig auch intensiver mit der „anderen Seite“, nämlich den adligen und landesherrlichen Raumpraktiken auseinanderzusetzen.