K. Gerland: Politische Jugend im Umbruch von 1988/89

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Titel
Politische Jugend im Umbruch von 1988/89. Generationelle Dynamik in der DDR und der Volksrepublik Polen


Autor(en)
Gerland, Kirsten
Reihe
Göttinger Studien zur Generationsforschung. Veröffentlichungen des DFG-Graduiertenkollegs »Generationengeschichte« 22
Erschienen
Göttingen 2016: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Florian Peters, Institut für Zeitgeschichte, Berlin

Während die politischen Generationen der „1945er“ und „1968er“ zum festen Inventar vieler Deutungen der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte gehören, ist das ostdeutsche Wendejahr 1989 nicht zum Ausgangspunkt einer generationsprägenden Erzählung geworden. Versuche, generationelle Etiketten wie „Wendekinder“ oder „Dritte Generation Ost“ zu popularisieren, entfalteten bisher allenfalls auf dem literarischen Feld Wirkung. Warum das so ist, möchte nun Kirsten Gerland mit ihrer Dissertation beantworten, die am Göttinger DFG-Graduiertenkolleg „Generationengeschichte“ entstanden ist. Sie widmet sich darin den von der Forschung bislang nur wenig beachteten politischen Jugendbewegungen in der DDR im Wendejahr 1989/90. Zum Vergleich zieht sie zusätzlich Polen heran, wo sich bereits Mitte der 1980er-Jahre eine Jugendopposition mit ausgeprägt generationellem Selbstverständnis herausgebildet hatte. In Polen werden zudem generationelle Aspekte des Umbruchs von 1989 bis heute weitaus intensiver debattiert.

Gerland interessiert sich nicht so sehr für die Frage, welche Rolle die junge Generation für die Dynamik der Protestbewegungen in der DDR im Herbst 1989 und innerhalb der demokratischen Oppositionsbewegung im spätsozialistischen Polen tatsächlich spielte. Vielmehr setzt sie voraus, dass „die Jugend“ für den politischen Umbruch dies- und jenseits der Oder eine große Bedeutung hatte und fragt nach dem Verhältnis von zeitgenössischer Selbststilisierung als „junge Generation“ und retrospektiver generationeller Selbst- und Fremddeutung. Dementsprechend gliedert sie ihre Arbeit in vier zentrale analytische Kapitel, in denen sie zunächst für die DDR und danach für Polen die Entwicklung und zeitgenössische Wahrnehmung der oppositionellen Jugendbewegungen sowie deren retrospektive Deutungen in der öffentlichen Erinnerungskultur und in biographischen Reflexionen ehemaliger Akteure diskutiert.

Für die unabhängigen Jugendvereinigungen, die ab Herbst 1989 das Monopol der FDJ in Frage stellten und an „Runden Tischen der Jugend“ über die Zukunft der Jugendarbeit und soziale Missstände debattierten, konstatiert Gerland zwar rhetorische Bezugnahmen auf den „Mythos der Jugend“, die an der Gestaltung der Zukunft teilhaben müsse. Ein substanzieller Generationenkonflikt mit den mehrheitlich aus der Generation der „Ost-68er“ stammenden Führungsfiguren der DDR-Bürgerrechtsbewegung blieb jedoch aus, so dass die Akteure kein dezidiertes Generationsbewusstsein entwickelten. Nach der Wiedervereinigung gerieten die mehrheitlich auf eine Reform der DDR, also einen „Dritten Weg“ zwischen Sozialismus und Kapitalismus orientierten Jugendvereinigungen schließlich (ebenso wie viele Bürgerrechtler) ins Abseits der westdeutsch überformten politischen Kultur. Folglich vermochten ihre ehemaligen Mitglieder es nicht, aus ihrer Erfahrungsgemeinschaft eine generationelle Erzählgemeinschaft zu formen.

Dagegen betonte die polnische Jugendopposition bereits zeitgenössisch ihre generationelle Eigenständigkeit. Anders als in der DDR kam es hier gegen Ende der 1980er-Jahre zu deutlichen Konflikten zwischen den führenden Vertretern der Solidarność-Bewegung und einer neuen Generation jugendlicher Oppositioneller, die sich durch antikommunistischen Radikalismus und frechere Aktionsformen wie die typischen „happeningi“ von den Älteren abgrenzten. Die Anhänger der Jugendopposition lehnten die von der Solidarność-Führung ausgehandelte Systemtransformation am Runden Tisch mehrheitlich ab und kritisierten sie als Verrat an dem von ihnen angestrebten rücksichtslosen Kampf gegen die Kommunisten. Als Reaktion auf die vermeintliche „Überpräsenz der ‚Solidarność‘ in der medialen Erinnerung“ (S. 325) etablierte sich später eine Generationserzählung, die auf die vorwiegend von Jüngeren getragene Streikwelle von 1988 als Schlüsselereignis fokussierte. Diese ermöglichte es den ehemaligen Beteiligten, sich als eigenständige historische Akteure in die nationale Widerstandstradition einzuschreiben und entsprechende politische Gestaltungsansprüche anzumelden.

Gerland beeindruckt mit ihrer konzeptionellen Durchdringung von Generationalität als historischer Kategorie, in der sie Ereignis-, Erfahrungs- und Erinnerungsgeschichte zusammendenkt. Ihre ambitionierte Studie greift dementsprechend auf ein breites Quellenspektrum zurück, das von Stasi-Unterlagen über die Untergrundpresse bis hin zu Oral-History-Interviews reicht. Mit ihrem komparativen Zugriff kann Gerland die grundverschiedenen „Möglichkeitsräume“ für politisches Engagement von Jugendlichen in beiden Gesellschaften konturieren und faszinierende Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen ostdeutscher und polnischer Jugendopposition um 1989 herausarbeiten. So mussten sich beide mit dem abrupten Verlust ihrer raison d’être (durch den Elitenkompromiss am Runden Tisch bzw. die rasche Wiedervereinigung) abfinden – konnten daran aber in durchaus unterschiedlichem Maße mit generationellen Selbstthematisierungen anknüpfen.

Es bleiben jedoch Zweifel, ob der gleichgewichtig angelegte Vergleich zwischen der DDR und Polen der unübersehbaren Asymmetrie zwischen den Protestbewegungen in beiden Ländern gerecht werden kann. Insbesondere Gerlands eher institutionengeschichtlichen Ausführungen über die entstehenden Parteijugendorganisationen im letzten Jahr der DDR merkt man deutlich an, dass es zu deren politischer Gestaltungskraft nicht annähernd so viel zu sagen gibt wie zur polnischen Jugendopposition. Hier drängt sich die Frage auf, ob die DDR-Jugendinitiativen, die sich im Wendeherbst für den Erhalt von Jugendhäusern einsetzten, wirklich mit den explizit antikommunistischen, vielfach konspirativ agierenden Gruppen der polnischen Jugendopposition vergleichbar sind. Auch die politischen Profile der beiden untersuchten Bewegungen divergierten stark: Nicht zufällig hat Gerland aus den DDR-Jugendvereinigungen vorrangig Mitglieder des „Marxistischen Jugendverbands“ interviewt, während sie in Polen mit mehr oder weniger radikalen Konservativen spricht, darunter auch einem Vizeminister der gegenwärtigen polnischen Rechtsregierung. Ihre holzschnittartige Gegenüberstellung beider Bewegungen, die für die linken DDR-Jugendaktivisten auf die Geschichte eines historischen Scheiterns hinausläuft, für ihre rechten polnischen Altersgenossen hingegen auf eine geradlinige Erfolgsgeschichte, bestätigt die Annahme, dass ein symmetrischer Vergleich hier wenig fruchtbar ist.

So begrüßenswert die Perspektiverweiterung auf Polen ist, so ärgerlich fallen Ungenauigkeiten in Gerlands Darstellung der polnischen Jugendopposition auf. Diese beschränken sich leider nicht auf Details, sondern verwischen das generationelle Profil und die spezifische Dynamik dieses Teils der polnischen Oppositionsbewegung grundsätzlich. Gerland behandelt nicht nur die antikommunistische Schülerorganisation FMW, den Unabhängigen Studentenverband NZS sowie pazifistische und anarchistische Gruppierungen wie Wolność i Pokój (Freiheit und Frieden) und RSA, die allesamt erst in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre aktiv wurden und sich dabei teils deutlich von der 1980/81 entstandenen Solidarność-Bewegung distanzierten.1 Zusätzlich betrachtet sie auch die bereits 1979 als national-katholische Intellektuellengruppe gegründete „Bewegung Junges Polen” (RMP = Ruch Młodej Polski) als Teil der von ihr untersuchten Generationskonstellation, obwohl selbst deren jüngere Mitglieder mit den Aktionsformen der späteren Jugendopposition nichts am Hut hatten und auch deren Ablehnung des Runden Tisches nicht teilten (sondern sogar an diesem beteiligt waren).

Indem sie dem Ende der 1980er-Jahre eher randständigen RMP in ihrer Analyse sehr viel Aufmerksamkeit widmet, ignoriert Gerland den in der Forschung zunehmend deutlicher akzentuierten Bruch zwischen der kollektivistischen Opposition der frühen 1980er-Jahre und den in Inhalt und Aktionsformen viel individualistischer ausgerichteten Oppositionsgruppen am Ende der Dekade. So unterscheidet Marek Wierzbicki in seiner (von Gerland ausweislich ihres Literaturverzeichnisses nicht rezipierten) monographischen Studie zur polnischen Jugendopposition in den 1980er-Jahren gleich drei Generationen, die er durch die gewerkschaftliche Massenbewegung von 1980/81, durch die Erfahrung des Kriegsrechts sowie durch die Finalitätskrise der Jahre 1986 bis 1990 geprägt sieht. Mit guten Gründen schreibt Wierzbicki nur der letzten Kohorte ein eigenständiges generationelles Selbstverständnis und jugendspezifische Aktionsformen zu.2 Demgegenüber vermengt Gerland das explizit generationelle Selbstbewusstsein der Jugendopposition der späten 1980er-Jahre mit den retrospektiven politischen Interpretationen der ehemaligen RMP-Mitglieder. Damit reproduziert sie letzten Endes deren einseitige Deutung der Jugendopposition als erfolgreiche nationale Widerstandsbewegung.

Gerlands Analyse der polnischen und ostdeutschen Jugendbewegungen bleibt auch deshalb unscharf, weil sie deren soziale Kontexte und ihre Nähe zu sub- und gegenkulturellen Milieus weitgehend unberücksichtigt lässt. Zwar beeinflusste etwa das „no future“-Lebensgefühl des Punk junge Menschen in beiden Gesellschaften stark und wurde in Polen in der generationellen Selbstdeutung der „verlorenen Generation“ des Kriegsrechts ausgesprochen wirkmächtig. Doch geht Gerland auf das für die Jugend der 1980er-Jahre beiderseits der Oder zentrale Spannungsverhältnis zwischen Eskapismus und politisch-gesellschaftlichem Ethos kaum ein. Auch die „Pomarańczowa Alternatywa“ (Orangefarbene Alternative), eine studentische Aktionsgruppe, die mit ihren surrealistisch inspirierten Happenings für die Praxis und das Selbstverständnis der jüngeren polnischen Oppositionellen stilprägend wurde, vernachlässigt sie weitgehend.

Letztlich hält Gerland am heroischen Generationskonzept fest, das Generationalität allein auf kollektive politische Handlungsmacht zurückführt. Damit aber engt sie ihr Blickfeld von vornherein auf explizit politisch aktive Teilgruppen ein. Statt Punks und Klassenclowns stehen bei ihr vor allem Klassensprecher und Jungpolitiker im Mittelpunkt. Ansätze passiver Generationalisierung als „bystanders“ der Wende, die sowohl für Polen als auch für die DDR debattiert werden, blendet sie dagegen weitgehend aus.3 So gelingt es ihr kaum, die innere Spaltung der untersuchten Generation herauszuarbeiten, die sich in der DDR im Gegensatz zwischen Ausreisern und Bleibewilligen, in Polen im Konflikt zwischen konservativen Antikommunisten und subkulturell-eskapistisch orientierten Alternativbewegungen manifestierte. Die mit diesen Widersprüchen verbundene konflikthafte Aushandlung von generationeller Deutungshoheit kann sie folglich nicht überzeugend in den divergierenden Erfahrungshintergründen und politischen Bewertungen des Transformationsprozesses verorten.

Abschließend bleibt anzumerken, dass der Studie von Kirsten Gerland eine grundlegende Straffung gut getan hätte. Es ist dem Rezensenten zudem unbegreiflich, warum bei einem so gediegen gestalteten Buch auf ein sorgfältiges Lektorat offenbar verzichtet wurde. Dies schlägt sich in einer Inflation von Anführungszeichen, Redundanzen und sprachlichen Unsauberkeiten nieder, die nicht nur den Lesefluss hemmen, sondern auch die nötige argumentative Präzision immer wieder vermissen lassen. Auch ein Personenregister hätte die Benutzbarkeit des Bandes merklich erhöht.

Insgesamt schöpft Gerland das Erkenntnispotenzial eines generationengeschichtlichen Blicks auf die Transformation der späten 1980er-Jahre nur bedingt aus. Dem von ihr entworfenen Bild der DDR-Jugendvereinigungen als Verlierer und der polnischen Jugendopposition als Sieger der Geschichte fehlt es deshalb an analytischer Tiefenschärfe. In Bezug auf Polen verkennt sie die tiefe politische Spaltung der Erinnerungskultur, die sich nicht zuletzt in den heftigen gegenwärtigen Konflikten um die Deutung der jüngeren polnischen Zeitgeschichte widerspiegelt. Auch wenn Kirsten Gerlands Studie also zum Widerspruch herausfordert, bleibt es ihr Verdienst, die Aufmerksamkeit auf bislang zu Unrecht stiefmütterlich behandelte Aspekte des Wandels von 1989 in der DDR und in Polen zu lenken.

Anmerkungen:
1 FMW: Federacja Młodzieży Walczącej, Föderation der Kämpfenden Jugend; NZS: Niezależne Zreszczenie Studentów, Unabhängiger Studentenverband; RSA: Ruch Społeczeństwa Alternatywnego, Bewegung der Alternativen Gesellschaft. – Eine Ausnahme stellt hier der Studentenverband NZS dar, der zwar bereits im September 1980 gegründet wurde, bei dem jedoch aufgrund der natürlichen Fluktuation an den Hochschulen zurecht von einem „zweiten NZS“ Ende der 1980er-Jahre gesprochen wird.
2 Marek Wierzbicki, Ostatni bunt. Młodzieżowa opozycja polityczna u schyłku PRL 1980–1990. Fakty, konteksty, interpretacje, Lublin 2013, hier insbes. S. 282–292.
3 Vgl. jüngst für Polen Svetlana Vassileva-Karagyozova, Coming of Age under Martial Law. The Initiation Novels of Poland’s Last Communist Generation, Rochester 2015.

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