J. Lorenzen: Zeitgeschichte im Fernsehen

Cover
Titel
Zeitgeschichte im Fernsehen. Theorie und Praxis historischer Dokumentationen


Autor(en)
Lorenzen, Jan N.
Reihe
Praxiswissen Medien
Erschienen
Wiesbaden 2015: Springer VS
Anzahl Seiten
VII, 141 S.
Preis
€ 19,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Pöttker, Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft, Universität Hamburg

Der Autor ist studierter Historiker, war Redakteur im Bereich Zeitgeschichte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, arbeitet als freier Autor zeitgeschichtlicher Dokumentationen und erhielt zusammen mit Regisseur Christian Klemke 2002 den Adolf-Grimme-Preis für die ARD-Dokumentation „Roter Stern über Deutschland“, die sich anhand von Interviews mit den damaligen Oberkommandierenden der sowjetischen Streitkräfte der Besatzungspolitik der UdSSR widmete. Lorenzen ist also bestens mit der zeitgeschichtlichen Fernsehdokumentation vertraut, was neben dem Vorteil tiefer Sachkenntnis allerdings auch den Nachteil hat, dass es ihm gelegentlich an kritischer Distanz zu seinem Gegenstand mangelt.

Das wird vor allem daran deutlich, dass er die Arbeit von Autoren und Regisseuren historischer Dokumentationen „zu einem eigenen Beruf“ (S. 3) machen will, dessen Produkt „etwas völlig Eigenständiges“, ein besonderes „Genre innerhalb der verschiedenen Film- und Fernsehformate“ (S. 2f.) sei. Berufe sind Spezialisierungen auf eine Aufgabe, bei der sich die Gesellschaft darauf verlassen können will, dass sie wegen der Spezialisierung besonders effektiv erledigt wird. Auf die Erfüllung welcher Aufgabe will sich die Gesellschaft bei Autoren und Regisseuren historischer Fernsehdokumentationen verlassen können? Lorenzen selbst spricht zuvor von diversen professionellen Anforderungen, nämlich denen an Journalisten, Visualisierungskünstler, Historiker und schließlich auch noch an Medienmanager, wobei zeitgeschichtliche Dokumentation „dem Mix dieser Erwartungshaltungen“ (S. 2) gerecht werden müsse. Dies lässt einen Widerspruch der Argumentation erkennen, der die Adelung der Arbeit an historischen Dokumentationen zum „Beruf“ fragwürdig erscheinen lässt. Sie ist unnötig, weil sich aus Lorenzens praktischer Expertise auch so für die Zielgruppe derjenigen, „die, aus den unterschiedlichsten Ausbildungszusammenhängen kommend, die historische Dokumentation“ (S. 5) als Arbeitsfeld in Erwägung ziehen, viel lernen lässt; und sie ist auch kontraproduktiv, weil sie es letztlich als illegitim erscheinen lässt, wenn die eine Dokumentation mehr den wissenschaftlichen Aspekt der Quellenkritik, die andere mehr den journalistischen Aspekt der Authentizität und Verständlichkeit, die dritte den künstlerischen Aspekt des ästhetischen Reizes und die vierte schließlich das Quoteninteresse an Unterhaltsamkeit akzentuiert. Lebt die zeitgeschichtliche Dokumentation nicht gerade von der Möglichkeit dieser Vielfalt, die ihr die Unterwerfung unter die Eigengesetzlichkeit eines besonderen Genres austreiben würde?

Lorenzen geht im zweiten Kapitel, das „Eine kurze Geschichte der historischen Dokumentation in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945“ (S. 7–31) skizziert, auf die zahlreichen dokumentarischen Evokationen der NS-Vergangenheit in Film und Fernsehen seit dem Kriegsende ein. Schon 1945 hat das „US-Office of Military Government for Germany“ (OMGUS) mit Hanuš Burgers kurzem Dokumentarfilm „Die Todesmühlen“ vergeblich versucht, die Deutschen durch den Kontrast zwischen Bildern aus dem gerade befreiten KZ Buchenwald einerseits und von Hitler zujubelnden Massen aus Leni Riefenstahls „Triumph des Willens“ andererseits an ihre Verantwortung für die Untaten in den Vernichtungslagern und im Krieg zu erinnern. Schwer vorstellbar, dass einer, der sich so umfassend mit dem Reichtum filmdokumentarischer Mittel und Stile zwischen den Polen von Alain Resnais’ „Nacht und Nebel“ von 1955 und Claude Lanzmanns „Shoah“ von 1985 auskennt, die Reduktion dieses Reichtums auf die lernbare Enge einer bestimmten Darstellungsweise reduzieren will. Wenn dies dennoch am Anfang von Lorenzens Kompendium durchscheint, ist das nur mit dem (mehr oder weniger bewussten) Bedürfnis zu erklären, im allgemeinen Trend der fortschreitenden Spezialisierung die Parzelle einer weiteren Spezialität zu besetzen. Systemtheoretisch ließe sich das als notwendige Absonderung eines neuen, auf Selbstreferenz hin orientierten Subsystems deuten, wobei es hier allerdings (noch) an einem binären Code zur Abgrenzung von der Umwelt fehlt und die Autonomie weniger auf objektiven Kriterien als auf subjektiven Bestrebungen beruht. Wen diese Deutung nicht überzeugt, mag an der produktiven Anwendbarkeit der Systemtheorie auf Theorie und Praxis der Medienproduktion zweifeln.

Die folgenden Kapitel hat Lorenzen als Leitfaden für die Produktion einer zeitgeschichtlichen Fernsehdokumentation konzipiert. Nach den „Vorbereitungen“ (S. 33–42) mit Themenfindung und Exposé im Zentrum folgen materialreiche Schilderungen und Empfehlungen zu Problemen mit vier Elementen des Produktionsprozesses: Zeitzeugen und Dramaturgie (S. 43–80), Archivmaterial (S. 81–99), Re-enactments (S. 101–109) und Originalschauplätze (S. 111–124); abschließend wird die Endfertigung der Produktion in den Blick genommen (S. 125–136) sowie ein kurzer Ausblick in die Zukunft der historischen Fernsehdokumentation (S. 137–140) mit der Frage gewagt, ob es einen biografischen „Königsweg zur historischen Dokumentation“ gibt. Lorenzen verneint das und zählt mit Geschichtsstudium, Regieakademie und Journalistik-Studium mit anschließendem Volontariat mehrere Ausbildungsmöglichkeiten mit ihren Stärken und Schwächen auf. Das spricht wiederum gegen seine anfängliche These, die historische Fernsehdokumentation habe einen eigenständigen Beruf herausgebildet: zu dem müsste dann auch ein besonderer Ausbildungsweg führen.

Angesichts der Materialfülle und Anschaulichkeit enthält Lorenzens Leitfaden zahlreiche wertvolle Hinweise für Autoren und Regisseure zeitgeschichtlicher Fernsehdokumentationen (und solche, die das werden wollen). Als Journalistenausbilder teile ich seine Skepsis gegenüber Re-enactments sowie seine Überzeugung, dass deren Qualität weniger von Ausstattung und schauspielerischem Können als von der Detailtiefe der dokumentarischen Beglaubigung abhängt. Man kann hier noch hinzufügen, dass weniger die Fiktionalität selbst als deren schwere Erkennbarkeit für die Zuschauer bei Re-enactments problematisch ist, wie z.B. Guido Knopps ZDF-Dokumentationen zur NS-Zeit zeigen.

Das lange Kapitel über Zeitzeugen liest sich großteils wie eine Anleitung zum journalistischen Interview. Ähnlich wie der Journalist gegenüber dem Interviewten steht auch der historische Dokumentarist gegenüber dem Zeitzeugen vor der Schwierigkeit, einerseits kritische Unabhängigkeit vom Gesprächspartner zu wahren, andererseits aber auch dessen Vertrauen zu gewinnen, um durch das In-Gang-halten des Gesprächs überhaupt die Chance zu haben, etwas herauszubekommen. In der historischen Dokumentation ist das vor allem bei Täter-Interviews von Bedeutung: „In der epochalen Dokumentation ‚Der Prozess’ ist es Eberhard Fechner gelungen, einige der Angeklagten des Majdanek-Prozesses zum Reden zu bewegen, obwohl diese im Prozess eisern schwiegen. Er habe ihnen klargemacht, dass er sie nicht überführen wolle, so erklärte Eberhard Fechner später die Bereitschaft der ehemaligen KZ-Wächter, und sei so zu ihrem ‚Beichtvater’ geworden. [...] Es darf davon ausgegangen werden, dass diese von Fechner angewandte Technik auch bei anderen Interviewfilmen mit ‚Tätern’ zum Einsatz kam.“ (S. 77)

Dass Lorenzen solche Techniken in den Dienst des identifikationsheischenden, emotional wirkungsvollen Narrativs der „Heldenreise“ (nach Joseph Campbell) stellt, hindert ihn nicht, z.B. auch für Zeitzeugen-Interviews journalistische Qualitäten wie Richtigkeit, Vollständigkeit und Authentizität einzufordern: „Der Regisseur darf den Protagonisten nicht verfälschen; er darf die Aussagen nicht manipulieren; [...] und er sollte selbstverständlich die vor dem Interview mündlich oder schriftlich gemachten Zusagen einhalten.“ (S. 77)

In anderer Hinsicht zeigt Lorenzen weniger Sinn für journalistische Qualität. Zur Themensuche lässt er sich zwar von der Einsicht leiten, dass sie vor allem Bedürfnisse des Publikums im Auge haben muss. Bemerkenswert für einen Fernsehmacher ist dabei, dass er Kritik an der „Quotenmentalität“ durchscheinen lässt. Er orientiert sich dann aber mehr an geisteswissenschaftlichen Konzepten wie Maurice Halbwachs’ Begrifflichkeit vom „kollektiven“, „kommunikativen“ und „kulturellen Gedächtnis“, die die historische Dokumentation sich zunutze machen könne (vgl. S. 36). Hier hätte auch die etwas einfachere, genuin journalistische Kategorie der „Aktualität“ nützlich sein können. Dass die Themenwahl bei vielen historischen Dokumentationen sich an Gedenktagen und anderen „runden“ Jahreszahlen orientiert, zeigt das Bemühen der Dokumentaristen und Programmgestalter, eine behandelte Vergangenheit der journalistischen Qualitätsforderung nach Aktualität zu unterwerfen, indem sie auf Gegenwart bezogen wird. Gedenktage haben den Vorteil, dass sie vorhersehbar sind und insofern die Arbeit von Geschichtsjournalisten und historischen Dokumentaristen erleichtern. Sie haben aber auch den Nachteil der Künstlichkeit des Gegenwartsbezugs. Von der Journalistik wäre zu lernen, dass man bei der Wahl historischer Stoffe möglichst von gegenwärtigen Vorgängen und Problemen ausgehen sollte.

Damit journalistische Beschäftigung mit Vergangenheit dazu dienen kann, Gegenwart besser zu verstehen, bieten sich drei Modelle des aktuellen historischen Erzählens an: das genetische, bei dem über Vergangenheit als etwas berichtet wird, aus dem die Gegenwart hervorgegangen ist; das exemplarische oder analoge, bei der Gegenwart und Vergangenheit verglichen, auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin betrachtet werden; und das auch schon von Nietzsche so genannte kritische, bei der Gegenwart und Vergangenheit in Kontrast zueinander gestellt werden. Das Schrifttum zum Geschichtsjournalismus hätte für Lorenzens Überlegungen zur Themenwahl historischer Fernsehdokumentationen ein fruchtbares Quellenreservoir sein können.

Die Stärke des Buchs liegt in den aus Erfahrung gewonnenen und an Beispielen illustrierten praktischen Empfehlungen (einschließlich Warnungen) für die Produktion historischer Fernsehdokumentationen. Im Kapitel zu Originalschauplätzen liest man z.B., dass es beim Dreh an solchen Orten „leicht zu Spannungen zwischen Kameramann und Regisseur kommen“ kann. „Meist hat der Regisseur bei einer Recherchereise die wichtigen Orte bereits aufgesucht und in seinem Kopf eine klare optische Vorstellung entwickelt.“ Der Kameramann dagegen müsse „die Möglichkeit bekommen, mit seinen eigenen Augen und Empfindungen zu agieren und selbst zu entdecken, welche Perspektiven und Blicke ihn interessieren. [...] Je enger der Drehplan, desto schwieriger fällt es einem Regisseur jedoch, [...] dem Blick des Kameramannes vollständig zu vertrauen und sich eine Phase der scheinbaren Nutzlosigkeit zu gönnen. In der praktischen Arbeit habe ich aber gerade damit die besten Erfahrungen gemacht.“ (S. 121)

Leider fehlen Namen-, Sach- und Werkregister. Sie würden den praktischen Nutzen dieses kleinen Praxishandbuchs für historische Dokumentaristen ohne Zweifel erhöhen.