K. Struve: Der Sommer 1941 in der Westukraine

Cover
Titel
Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine


Autor(en)
Struve, Kai
Erschienen
Anzahl Seiten
XV, 739 S.
Preis
€ 69,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Kurz nach und teilweise schon vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 kam es zu antijüdischen Pogromen in einem Landstreifen, der sich zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer erstreckt und Teile des heutigen Lettlands, Litauens, Polens, der Ukraine, Rumäniens und Moldawiens umfasst. Der Verlauf der antijüdischen Gewalt in den einzelnen Regionen wurde seitdem in mehreren Publikationen unterschiedlich detailliert untersucht. Einige Studien, wie Jan Tomasz Gross' „Nachbarn“ von 2001 haben Debatten ausgelöst, andere wie Simon Geissbühlers „Blutiger Juli“1 haben sich auch mit der Erinnerung an die Täter auseinandergesetzt. Kai Struves umfangreiche und gründlich recherchierte Studie über die Pogrome in der Westukraine basiert auf der neuen Forschung über die Haupttätergruppen im Lemberger Pogrom und bringt durch eine umfangreiche Heranziehung von Dokumenten weitere unbekannte Bestandteile des Themas ans Licht. Gleichzeitig beinhaltet sie jedoch einige problematische Aspekte, die auf die in der deutschen Ukraineforschung leider verbreitete Nichtbeachtung der Faschismusforschung sowie einen nicht immer korrekten und kritischen Umgang mit der Geschichte der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und vor allem mit den von Veteranen dieser Bewegung hinterlassenen Dokumenten, zurückzuführen sind.

Zu den ersten antijüdischen Ausschreitungen seitens deutscher Truppen, ukrainischer Nationalisten und Teilen der lokalen Bevölkerung in der Westukraine kam es bereits im September 1939, als sich deutsche Truppen in Teilen dieser Gebiete einige Tage lang aufhielten. Bereits zu dieser Zeit überlegte die OUN, eine nationale Revolution durchzuführen und einen ukrainischen Staat auszurufen. Da diese Territorien jedoch nach wenigen Wochen aufgrund des Ribbentrop-Molotow-Paktes von sowjetischen Truppen besetzt wurden, wurden auch die ersten gegen Juden und Polen gerichteten Gewaltakte ukrainischer Nationalisten unterbunden und ihre Pläne bezüglich der Errichtung eines Nationalstaates verschoben (S. 91–119). Zwischen Ende September 1939 und dem 22. Juni 1941 arbeitete die OUN, die sich zu dieser Zeit in die OUN-B (Stepan Bandera) und die OUN-M (Andrii Melnyk) spaltete, mit den Deutschen, vor allem der Wehrmacht und der Abwehr zusammen, was sich unter anderem in der Aufstellung zwei deutscher Bataillone – „Nachtigall“ und „Roland“ – mit ukrainischen Soldaten äußerte. Zu dieser Zeit wurden die in die Sowjetunion eingegliederten westukrainischen Territorien sowjetisiert, infolgedessen bestimmte ökonomische und nationale Gruppen wie Ukrainer und Juden, welche in der Zweiten Polnischen Republik oft als Bürger zweiter Klasse behandelt worden waren, dem Rest der Bevölkerung rechtlich gleich gestellt wurden. Diese Vorgänge, wie auch die Ermordung von einigen tausend politischen Häftlingen durch den NKWD nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, waren für die darauffolgenden Pogrome von Bedeutung. Sie ermöglichten den deutschen Besatzern und ukrainischen Nationalisten mit Hilfe des Stereotyps des Judäo-Bolschewismus und des allgemeinen Antisemitismus die lokale Bevölkerung in die Pogrome aktiv einzubeziehen.

Im Hauptteil des Buches untersucht Struve die antijüdischen Massaker in Lemberg, wo das größte Pogrom in der Westukraine stattfand, und an mehreren anderen Orten, die entweder von deutschen oder ungarischen Truppen besetzt waren. Darüber hinaus beschreibt er auch die Proklamation der Eigenstaatlichkeit in Lemberg am 30. Juni 1941 durch Banderas Vertreter Yaroslav Stets`ko und analysiert die durch die Waffen-SS Division „Wiking“ begangenen Verbrechen. Anders als in den früheren Publikationen deutscher Osteuropahistoriker und Nationalsozialismusforscher konzentriert er sich nicht nur auf die Verbrechen der Nationalsozialisten, sondern untersucht die Gewalt transnational, so wie es unter anderem Omer Bartov, John-Paul Himka und der Autor dieser Rezension für Ostgalizien bereits gemacht haben.2 Durch den Gebrauch der Dokumente, welche von deutschen und ukrainischen Tätern sowie Opfern und Überlebenden hinterlassen wurden, rekonstruiert er viele wichtige Aspekte der antijüdischen Massengewalt vom Sommer 1941, die bis jetzt nicht ans Licht gebracht wurden oder nicht so detailliert behandelt wurden. Die Vielzahl der herangezogenen Dokumente und ihre ausführliche und überwiegend überzeugende Besprechung sind auch der stärkste Punkt der vorliegenden Studie.

Leider ist Struves Buch nicht frei von kleineren Fehlern, problematischen Unvollständigkeiten und einem nicht durchgehend kritischen Umgang mit Quellen. Es finden sich in der Studie mehrere Detailfehler, die sich sowohl auf die ukrainische als auch die deutsche Geschichte beziehen, und davon zeugen, dass nicht alle Aspekte der Studie gründlich recherchiert wurden. So wird der Leser zum Beispiel informiert, dass Bandera am 15. Oktober 1959 in seiner „Wohnung in München tot aufgefunden wurde“; in Wahrheit wurde er im Treppenhaus auf dem Weg zu seiner Wohnung ermordet (S. 26); oder dass Bandera kurz nach dem Attentat auf den polnischen Innenminister Bronisław Pieracki verhaftet wurde; in Wahrheit wurde er einen Tag zuvor im Zug einer Massenverhaftung von OUN-Mitgliedern durch die polnische Polizei in Lemberg festgenommen (S. 78).3 Ähnlich wird falsch angegeben, dass Hitler am 18. Dezember 1941, die „Weisung Nr. 21“ für den Fall Barbarossa gab (S. 120) – richtig wäre der 18. Dezember 1940; oder dass Erwin Schulz der Führer der „Einsatzgruppe 5“ war, während er tatsächlich dem „Einsatzkommando 5“, welches Teil der „Einsatzgruppe C“ war, vorstand (S. 129).

Auch lässt Struves Umgang mit Quellen einiges zu wünschen übrig. An mehreren Stellen des Buches gibt er seitenlang Informationen aus Quellen wider, ohne den Inhalt genügend zu analysieren und zu kommentieren. Einen Großteil der Informationen, die die Tätigkeiten der OUN in den Jahren 1940–1941 betreffen, zitiert er nicht aus Originaldokumenten, die in den ukrainischen Archiven zugänglich sind, sondern aus Dokumenteneditionen, die eine bestimmte Vorauswahl und Kürzungen getroffen haben (S. 20, S. 182ff). An mehreren Stellen werden Informationen aus der Erinnerungsliteratur der OUN-Veteranen unkritisch übernommen, obwohl diese Gruppe wegen ihrer Beteiligung am Holocaust und anderen Massakern wichtige Informationen verschwiegen hat. Das ist unter anderem der Fall mit Mykola Sydor-Chartoryis’kyis Erinnerungen und Yaroslav Stets’kos „30. Juli 1941“ (S. 403, 441), das 1967 sogar mit einem Vorwort des Chefideologen der Bandera-Generation, Dmytro Dontsov, herausgegeben wurde.4 Die von Struve angegebenen Opferzahlen werden zwar mit großer Sorgfalt errechnet, sie sollten jedoch mit noch größerer Vorsichtig betrachtet werden, weil die von ihm vorgenommene Trennung zwischen den Opfern der deutschen Besatzer und ukrainischer Nationalisten aufgrund der engen Zusammenarbeit der beiden Tätergruppen kaum eindeutig zu treffen ist und auch deshalb, weil die Dokumente und die dokumentierten Ereignisse nur einen Ausschnitt der damaligen Wirklichkeit festhalten (S. 668–671). Struve steht Volodymyr Viatrovychs Publikationen kritisch gegenüber, der die OUN und UPA (Ukrainische Aufständische Armee) rehabilitiert, gegenüber Historikern der „Mitte“, die seit Jahren eine wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung mit problematischen Auslassungen und Darstellungen verbinden – wie etwa Yaroslav Hrytsak, mit dem Struve in der deutsch-ukrainischen Historikerkommission wirkt – unterbleibt dagegen eine solche Kritik. Polemiken erscheinen nicht im Haupttext, sind jedoch in Fußnoten enthalten (zum Beispiel S. 5, 22, 382).

Abgesehen von diesen problematischen Aspekten beinhaltet das Werk ein grundlegendes Problem: die Nichtbeachtung der Faschismusforschung bzw. sogar ihre Instrumentalisierung mit Hilfe der sowjetischen Diskurse und neuerer politischer Begriffe wie der „faschistische Putsch“, der Ende Februar 2014 in Kiew stattgefunden haben soll. Die Auslassung der Faschismusproblematik erlaubt Struve zwar ein terminologisches „Minenfeld“ zu umgehen, wie es ein anderer deutscher Osteuropahistoriker formulierte (der es auch nicht untersuchte), aber sie schadet der Aufarbeitung der ukrainischen, deutschen, europäischen und transnationalen Geschichte. Die Nichtbeachtung der Faschismuskonzepte von Wissenschaftlern wie George Mosse, Robert Paxton, Michael Mann, Roger Griffin, Sven Reichardt, Arnd Bauerkämper oder Stanley G. Payne erschwert es bzw. macht es eigentlich unmöglich, bestimmte Kontexte sowie Sach- und Sinnzusammenhänge zu verstehen. Deshalb gelingt es Struve auch nur teilweise, die von Deutschen und der OUN praktizierende Massengewalt und ihre Zusammenarbeit sowie die Konflikte zwischen den beiden Gruppen zu erklären. Wichtige Informationen über faschistische Handlungen der OUN im Sommer 1941 werden teilweise gar nicht erwähnt, teilweise werden sie nur in knappen Nebensätzen in den Fußnoten angeführt (beispielsweise S. 381).

Ungeachtet dieser kritischen Einwände muss aber hervorgehoben werden, dass es sich hier um eine wichtige, instruktive und lesenswerte Studie handelt, die jedoch bei einem mit der Thematik vertrauten Historiker gemischte Gefühle hinterlässt. Auf der einen Seite sammelt Struve eine Vielzahl von Dokumenten über die Pogrome im Sommer 1941 in der Westukraine und legt die bislang vollständigste Publikation zu diesem Thema vor. Auf der anderen analysiert er bestimmte Quellenarten unkritisch und ignoriert die Faschismusforschung, wodurch er bestimmte Ereignisse nicht erklären und bestimmte Sinnzusammenhänge nicht erschließen kann.

Anmerkungen:
1 Jan T. Gross, Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne, München 2001; Simon Geissbühler, Blutiger Juli. Rumäniens Vernichtungskrieg und der vergessene Massenmord an den Juden 1941, Paderborn 2013.
2 John-Paul Himka, The Lviv Pogrom of 1941. The Germans, Ukrainian Nationalists, and the Carnival Crowd, in: Canadian Slavonic Papers 53 (2011) 2–4, S. 209–243; Omer Bartov, Wartime Lies and Other Testimonies. Jewish-Christian Relations in Buczacz, 1939–1944, in: East European Politics and Societies 26 (2011) 3, S. 486–511; Grzegorz Rossoliński-Liebe, Der Verlauf und die Täter des Lemberger Pogroms vom Sommer 1941. Zum aktuellen Stand der Forschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 22 (2013), S. 207–243.
3 Siehe dazu Grzegorz Rossoliński-Liebe, Stepan Bandera: The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide, and Cult, Stuttgart 2014, S. 119, S. 348.
4 Für die Erinnerungsliteratur ukrainischer Nationalisten als Dokumente, siehe Grzegorz Rossoliński-Liebe, Remembering and Forgetting the Past. Jewish and Ukrainian Memories of the Holocaust in Western Ukraine, in: Yad Vashem Studies 43 (2015) 2, S. 41–44.

Kommentare

Von Struve, Kai14.11.2016

Auch wenn Grzegorz Rossolinski-Liebe zu einer insgesamt positiven Wertung meiner Studie kommt, enthält seine Rezension grundlegende Vorwürfe, die er nicht belegt oder die persönlichen Charakter tragen und die deshalb nicht unwidersprochen stehen bleiben sollten.

Die zentrale inhaltliche Kritik besteht darin, dass die Studie nicht den Faschismusbegriff zur Erklärung der untersuchten Geschehnisse heranzieht. Dies bezieht sich offenbar in erster Linie auf die kontroverse Diskussion darüber, ob die „Organisation ukrainischer Nationalisten“ (OUN) als faschistisch charakterisiert werden kann. In der Tat verwende ich diesen Begriff für die OUN nicht, sondern beschreibe sie meist allgemeiner als „radikalnationalistisch“. Zugleich bestreite ich aber nicht, dass es, abhängig von der jeweiligen Definition von „Faschismus“, möglich ist, die OUN zumindest in bestimmten Phasen ihrer Geschichte – und dazu gehört ohne Zweifel das Jahr 1941 – als faschistisch zu bezeichnen (S. 21f.). Da es sich aber um keine Studie über Faschismus und auch um keine Studie über die OUN handelt, auch wenn letztere darin eine wichtige Rolle spielt, enthält das Buch keine umfangreichere Diskussion dieser Frage. Kurzschlüsse, die für den sowjetischen Propagandadiskurs über die OUN charakteristisch waren und die die Diskussion bis in die Gegenwart belasten, sollten vermieden werden, nämlich, dass die OUN mit den Deutschen zusammenarbeitete und Verbrechen beging, weil sie „faschistisch“ war.

Aus meiner Sicht nicht begründet sind die sehr grundsätzlichen Vorwürfe wegen einer fehlenden Kritik von Quellen und Forschungsliteratur. So hält Rossolinski-Liebe mir vor, ich sei mit Memoiren ehemaliger OUN-Angehöriger unkritisch umgegangen. Argumente oder Belege dafür liefert er nicht. Entsprechende Quellen wurden von mir nicht weniger kritisch verwendet als andere auch, so beispielsweise Erinnerungen deutscher Akteure oder Aussagen aus deutschen oder sowjetischen Ermittlungsverfahren. Statt diesen und die weiteren Vorwürfe zu belegen, informiert der Rezensent den Leser darüber, dass der 1959 in München ermordete Stepan Bandera nicht hinter, sondern vor der Schwelle seiner Wohnungstür tot aufgefunden wurde, und über andere, für die Studie ausgesprochen marginale Details.

Unzufrieden ist Rossolinski-Liebe auch damit, dass ich einen Teil der Quellen aus dem Bereich der OUN nicht nach den Archivexemplaren, sondern nach Quelleneditionen zitiert habe. Wenn er in den hauptsächlich benutzten, nach meiner Erfahrung nützlichen und verlässlichen Editionen Manipulationen vermutet, die zu Fehlern in der Darstellung geführt haben, sollte er diese benennen. Durch den Verweis auf die Editionen sollte nicht nur die Arbeit der Herausgeber anerkannt, sondern auch die Überprüfbarkeit der Argumentation erleichtert werden.

Auch seine Kritik, ich sei nicht kritisch genug mit einigen ukrainischen Historikern umgegangen, belegt Rossolinski-Liebe nicht inhaltlich, sondern in diesem Fall mit einem persönlichen Angriff. Explizit nennt er nur Jaroslav Hrycak und suggeriert, dass meine aus seiner Sicht fehlende Kritik nicht sachlich begründet ist, sondern mit Hrycaks und meiner Mitgliedschaft in der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission in Verbindung steht. Offenbar geht es hier tatsächlich um ältere Vorwürfe des Rezensenten gegen Hrycak und andere, die er in den Jahren 2012 und 2013 in den Zeitschriften „Ab Imperio“ und „East European Jewish Affairs“ veröffentlicht und teilweise in seinem Buch über Stepan Bandera wiederholt hat.1 In der Tat halte ich diese Kritiken für völlig überzogen und kann auch nicht erkennen, wo ihre inhaltliche Relevanz für meine Studie liegen sollte, so dass sie darin unberücksichtigt geblieben sind.

Anmerkung:
1 Vgl. dazu Grzegorz Rossolinski-Liebe, Swiat w mroku and Its Reception in Ukraine, in: Ab Imperio 1 (2012), S. 445-451; Yaroslav Hrytsak, My Response to Grzegorz Rossolinski-Liebe, in: ebd., S. 451-456; vgl. auch Tarik Cyril Amar / Ihor Balyns’kyi / Yaroslav Hrytsak, Letter to the Editor, in: East European Jewish Affairs 43 (2013), Nr. 2, S. 217f.


Von Rossoliński-Liebe, Grzegorz14.11.2016

Selbst wenn ich mir vorstellen kann, dass Kai Struve mit meiner Rezension nicht vollkommen zufrieden ist, sollte er die von mir formulierten Einwände ernst nehmen und sie nicht relativieren oder nach Erklärungen suchen, die außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses liegen.

Meine Kritik hat keinen persönlichen Charakter, wie es Kai Struve formuliert. Ich respektiere Herrn Struve als Historiker, schätze seine Forschung und habe keinerlei persönliche Vorwürfe gegen ihn in der Rezension, anderen Publikationen oder an andere Stelle erhoben, ganz im Gegenteil.

Meine Kritik bezüglich der Nicht-Berücksichtigung der Faschismusforschung bezieht sich darauf, dass Studien über die Zusammenarbeit der OUN mit den Nationalsozialisten die Konzepte und theoretischen Überlegungen der Faschismusforschung aufnehmen sollten. Da Kai Struve neben den Nationalsozialisten auch eine zweite Bewegung behandelt, die den Faschismus propagierte und einen Nationalstaat faschistischen Typus in Hitlers „Neuem Europa“ aufbauen wollte, müsste er meines Erachtens darauf eingehen und die Auswirkung der faschistisierten Ideologie der OUN auf die antijüdische Massengewalt und die Kollaboration mit den Deutschen erklären. Dabei geht es nicht darum, die OUN mit den Nationalsozialisten gleichzustellen. Die Tatsache, dass die sowjetische Propaganda den Begriff des „Faschismus“ auf die OUN bezogen hat, kann bei einer wissenschaftlichen Untersuchung des Themas keine Rolle spielen oder gar dazu führen, die Untersuchung des Faschismus in der OUN als eine illegitime oder politische Tätigkeit zu tabuisieren.

Kai Struve geht in seiner Studie leider nicht mit allen Dokumenten kritisch um. Das muss hier wiederholt werden, weil er meine Kritik als unbegründet betrachtet. Meiner Einschätzung nach hat er die Quellen deutscher Einheiten sachgemäß und kritisch analysiert und ebenso einen Teil der Dokumente der ukrainischen Täter, aber nicht durchgehend. Deutlich wird das in Struves Monographie unter anderem an dem „antideutschen Widerstand“ und der „Nicht-Beteiligung“ am Judenmord, die ukrainische Nationalisten nach dem Krieg in ihren Memoiren propagierten und die Struve an einigen Stellen unkritisch in seine Studie übernommen hat. Das ist unter anderem der Fall mit den Erinnerungen von Yaroslav Stets’ko (Jaroslav Stec’ko) und Mykola Sydor-Chartoryis’kyi. Struve als Historiker sollte die Memoiren der OUN-Veteranen mit den zeitgenössischen Dokumenten vergleichen, anstatt ihren Inhalt unkommentiert widerzugeben.

Kai Struve ist nicht damit einverstanden, dass ich in meiner Rezension darauf hingewiesen habe, dass er „einen Teil der Quellen aus dem Bereich der OUN nicht nach den Archivexemplaren, sondern nach Quelleneditionen zitiert“ hat. Es geht aber nicht darum, dass ich hinter „nützlichen und verlässlichen Editionen Manipulationen vermute“ (wie es Struve schreibt), sondern darum, dass Quelleneditionen unvollständig sind und dem Historiker nur einen Ausschnitt aller vorhandenen Quellen zeigen. Sie werden nach bestimmten Interessen und gewählten thematischen Schwerpunkten der Editoren ausgesucht. Man sollte sich daher vor allem bei solchen Mikrothemen wie den Pogromen im Sommer 1941 in der Westukraine nicht auf Quelleneditionen, sondern primär auf Archivbestände verlassen.

Die Frage, in welchen Kommissionen Kai Struve wirkt, ist für sein Buch von keiner besonderen Relevanz und ich habe es in der Rezension nur nebenbei bemerkt, weil er nicht auf alle Aspekte von Jaroslav Hrycaks Publikationen hingewiesen hat. Meine in den Zeitschriften „Ab Imperio“ und „East European Jewish Affairs“ veröffentlichen Einwände sollte man durchaus ernst nehmen und sich fragen, warum Historiker in der Westukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion einen bestimmten Umgang mit dem Holocaust und anderen „politischen“ Themen gepflegt haben und ob man diesen Ansatz noch über 25 Jahre danach unterstützen sollte.

Abschließend möchte ich noch einmal hervorheben, dass es sich bei Kai Struves Studie um eine wichtige und instruktive Monographie handelt, die die Pogrome im Sommer 1941 in der Westukraine gründlich erforscht und eine entsprechende Würdigung verdient. Sie ist jedoch von methodologischen Fehlern und unkritischen Interpretationen bestimmter Quellensorten nicht frei. Die Nicht-Beachtung der Faschismusforschung ist ein grundsätzliches Problem dieser Studie.


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