J. I. Engels: Geschichte der Korruption

Cover
Titel
Die Geschichte der Korruption. Von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert


Autor(en)
Engels, Jens Ivo
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: S. Fischer
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 24,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Norman Domeier, Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien

In der auch unter Historiker/innen beliebten britisch-amerikanischen Serie „House of Cards“ wird Korruption und „Mikropolitik“ zelebriert. Niemand würde nach dem Genuss der fiktionalen, aber akribisch in der Realpolitik recherchierten Staffeln behaupten, dass wir in dieser Hinsicht vormoderne Zeiten überwunden hätten. Die Begrifflichkeiten mögen sich modernisiert haben. Patronage, Klientelismus, Gabentausch sind außer Gebrauch, während das, was sie meinen – Loyalität, Gefolgschaft, Belohnung – nach wie von zentraler Bedeutung ist, nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wirtschaft, in der Kultur, im Sport und nicht zuletzt auch in der Wissenschaft.

Der Darmstädter Historiker Jens Ivo Engels zeichnet die „Geschichte der Korruption“ von der Frühen Neuzeit bis in das 20. Jahrhundert in einem spannenden, gut geschriebenen Buch nach: Von den Günstlingsministern und Mätressen absoluter Monarchen über den moralischen Furor der Französischen Revolution und die Bestrebungen gegen die „old corruption“ in Großbritannien bis hin zum Kaziken-System in Spanien und der nationalsozialistischen Kritik an der angeblich durch und durch korrupten Weimarer Republik.

Eine zentrale Erkenntnis des historischen Überblicks ist, dass Korruption – dies bedeutet meist: Korruptionskritik – ein Spielball in der politischen Arena der jeweiligen Zeit war. Patronage war in der Frühen Neuzeit etwas Normales, gar moralisch Gebotenes, obgleich Normen verletzt werden konnten, etwa indem Geschenke heimlich überreicht wurden oder Maßlosigkeit bei Gunstbeweisen und Auszeichnungen praktiziert wurde. Der „Kampf gegen Korruption“ kann für Engels nie gewonnen werden, da Korruption kein eindeutig skalierbares Ausmaß besitzt, sondern stets im Kontext der Zeit ausgehandelt werden muss. Zudem beinhalte Korruptionskritik immer ein moralisches Urteil über gute und schlechte Politik. Dies kann, so die Warnung von Engels, zu moralischer Selbstüberhöhung und Selbstüberforderung ganzer Gesellschaften führen. Hier ist etwa an die Korruptionskritik zu denken, die der Nationalsozialismus (aber auch die extreme Linke) an der Weimarer Republik übte – während korrupte, in erster Linie willkürliche politische Praktiken in der NS-Polykratie nach 1933 fröhliche Urständ feierten. Korruption ist somit für Engels ein Bewertungsphänomen und daher in den unterschiedlichen politischen Kämpfen meist als Korruption der Anderen anzutreffen. Mit dem Vorwurf der Korruption wurde und wird Politik gemacht und es sind damit In- und Exklusionsprozesse verbunden, die es zu analysieren gilt.

In der Frage, ob beim Korruptionsvorwurf „epochenübergreifende Grundmechanismen“ feststellbar sind (S. 18) oder ob er doch kein zeitloses Phänomen ist (S. 372), schwankt Engels allerdings. Seine These von der Entstehung moderner Korruptionsvorstellungen in der „Sattelzeit“ um 1800 vermag nicht ganz zu überzeugen. Zweifellos schrieb sich die Französische Revolution den Kampf gegen ein für sie insgesamt korruptes Ancien Régime auf die Fahnen, und in Großbritannien setzte zeitnah der Kampf gegen die „old corruption“ ein. Begünstigungspraktiken hörten jedoch auch unter den französischen Revolutionären und den britischen Moralaposteln nicht auf, sie nahmen im 19. Jahrhundert unter bürokratisch-parlamentarisch-kapitalistischen Regimen nur andere Formen an, etwa beim Titel- und Ordensverkauf. Das Buch macht klar, dass gerade die im aristokratischen Bereich lange gepflegten Selbstzuschreibungen gegenüber neuen politischen Systemen wie dem Parlamentarismus („travailler pour le roi de Prusse“) raffinierte Begünstigungspraktiken nur hübsch verkleideten.

Die Sexualität kommt in dem Buch leider etwas zu kurz; außer den Mätressen des 18. Jahrhunderts taucht sie nicht auf. Doch auch für die Korruptionstheorie gilt, wie für die eng verwandte Skandaltheorie, dass money, sex and power die Hauptantriebsfedern für die beteiligten Akteure, Gruppen und Bewegungen sind. Engels nimmt Ein- und Abgrenzungen zu den Skandalen des langen 19. Jahrhunderts vor (S. 28, 293ff.), doch wird die berühmte, von dem britischen Soziologen John B. Thompson auf den Punkt gebrachte Trias nie in ihrer Dreigestalt angewendet.

Methodisch will Engels Praktiken und Deutungen von Korruption trennen. Insgesamt bleiben die Praktiken jedoch unterbelichtet, die Deutungen sind eindeutig übergewichtet. Dies ist kaum verwunderlich. Die Forschungslage zur Korruption ist nach wie vor dürftig, gerade für das 20. Jahrhundert, wie Engels schreibt (S. 16). Und die jüngeren Studien zu Korruption oder Skandalen haben durchweg einen Schwerpunkt auf Deutungen und Deutungskämpfen. Interessant sind hierbei die Konjunkturen von Korruptionsthematisierungen. Engels verweist auf das merkwürdige Verschwinden von Korruptionsdebatten zwischen 1945 und den 1980er-Jahren in Westdeutschland (S. 361), das allerdings noch durch Studien zu prüfen ist.

Engels konzentriert sich in seiner Arbeit auf Einzelpersonen, die aus den jeweiligen Jahrhunderten als besonders korrupt herausragen oder Opfer unmäßiger Korruptionskritik wurden. Interessant wäre es, gleichzeitig nach Strömungen und Bewegungen zu fahnden, die als korrumpierend galten. Wie Bismarck mit dem Welfenfonds operierte, ist ein klassischer Fall von Korrumpierung zu konkreten politischen Zwecken, der auch im 18. Jahrhundert, ja sogar im Alten Rom hätte stattfinden können. Für zeitgenössische Kritiker Bismarcks und der „Neudeutschen“ nach 1871 öffneten jedoch ganze Politikbereiche, etwa die Arbeitergesetzgebung, der Korruption von Mensch und Gesellschaft Tür und Tor. So kritisierte die ultrakonservative „Volkskorrespondenz“ am 22. November 1907: „Von der Geburt an wird das Kind und später der Jüngling durch die Bestimmungen der Gewerbeordnung geschützt […]. Für die Frauen werden wir demnächst die Einführung des 10-stündigen Arbeitstages erleben. Das Maß der Anforderungen wird täglich heruntergesetzt. Das Verantwortungsgefühl wird durch Versicherungen herabgemindert, die von Geburt an laufen und den Arbeiter, seine Angehörigen und seine Hinterbliebenen in jeder Lebenslage sichern.“

Die hier sichtbare deutliche Überschneidung von Korruptions- und Dekadenz-/Degenerationsdebatten müsste zukünftig noch stärker in den Blick genommen werden. Korruptionskritik ist eben nicht nur ein wichtiger Mechanismus, selbst in Diktaturen, um Personen auszutauschen, sondern sie dient der moralischen Selbstvergewisserung von Gesellschaften – wie fragwürdig diese in der Retrospektive auch erscheinen mag. Ob Gesellschafts-, Kultur- und Zeitkritik und Korruptionsdebatten heute wirklich nicht mehr zusammen gehören, wie Engels in seinem Fazit schreibt (S. 369), ist ungewiss. Debatten über die „Dekadenz des Westens“ sind in weiten Teilen der Welt virulent. Nur bekommen wir sie im Westen kaum mit oder nehmen sie nicht ernst, obgleich sie – etwa im Bereich der globalen Menschenrechtspolitik – ausgesprochen politikmächtig sind.

Am Ende seines anregenden, viele Fragen aufwerfenden und zu neuen Ideen inspirierenden Buches entschuldigt sich Jens Ivo Engels für seinen „Pragmatismus in Moralfragen“ (S. 373). Doch gerade dieser schärft, wie der Autor es sich wünscht, den Blick auf die auf hohen moralischen Rössern durch die Zeiten reitenden Korruptionsankläger: Die Frage, wer zu welchem Zweck Korruption kritisiert, ist bereits ein entscheidender – genuin historischer – Erkenntnisschritt im Verständnis von und im Umgang mit Korruption. Engels verwendet die Metapher: Nicht immer muss dort, wo Rauch aufsteigt, auch ein Feuer brennen. Und selbst wenn, ist noch lange nicht klar, ob über dem Feuer eine gute oder schlechte politische Suppe gekocht wird.