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Titel
Todkrank. Sterbebegleitung im 19. Jahrhundert: Medizin, Krankenpflege und Religion


Autor(en)
Nolte, Karen
Erschienen
Göttingen 2015: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
260 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Schmiesing, Eberhard Karls Universität Tübingen

Debatten über „Sterbehilfe“ haben die Betreuung unheilbar Kranker wieder stärker in das Bewusstsein einer Gesellschaft gerückt, die der Lebenszeit hohen Stellenwert beimisst. Heutigen Zuständen werden dabei oft Vorstellungen über das Sterben vor dem medizinischen Fortschritt ab 1850 gegenübergestellt: etwa der idealisierte Tod im treusorgenden Familienkreis oder die mit unheilbaren Krankheiten überforderten Ärzte. Karen Nolte hinterfragt solche Bilder in einer Monographie, die sichtlich Ergebnis ihrer Forschungen im Rahmen des Göttinger Projektes „Wege zu einer Alltagsgeschichte der Ethik. Vom Umgang mit Schwerkranken (1500–1900)“ ist. Sie ergänzt die medizin- wie kulturhistorischen Arbeiten zum Thema1 durch eine praxistheoretisch orientierte Rekonstruktion der Vorgänge am Sterbebett. Im Fokus stehen dabei die Perspektiven und die „soziale Praxis“ (S. 8) der Patienten, ihrer jeweiligen „Sterbebettgesellschaft“ (S. 10) und die Prozesse der „Selbst-Bildung“ bei denjenigen, die aus beruflichen Gründen dazu stießen: Ärzte, Geistliche und konfessionelle Krankenpflegerinnen. Als Quellen zieht Karen Nolte neben den seltenen Selbstzeugnissen Kranker auch Berichte von Angehörigen der „Sterbebettgesellschaft“ sowie zeitgenössische medizinische Fachliteratur und Fallbeschreibungen heran. Die Studie ist auf das protestantisch-pietistische Bürgermilieu in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begrenzt, da dort die religiös motivierte Dokumentation des Sterbens verbreitet war, während vergleichbare Zeugnisse für Katholiken und Juden fehlen (S. 13–17, 45f.).

Der vorgelegte Band bewegt sich entlang zweier Leitlinien, der „Medikalisierung des Todes“ und der Prägung der sozialen Prozesse am Sterbebett durch bürgerliche Moral- und Kulturideale, die Karen Nolte jeweils anhand von teils drastischen Quellenauszügen belegt. Schon die zeitgenössischen Vorstellungen über Ursache, Ausbruch und Verlauf „unheilbarer“ Krankheiten (Gebärmutterkrebs, Brustkrebs, Schwindsucht und Wassersucht) waren vielfach mit moralischen Bewertungen des Lebenswandels der Betroffenen verbunden (S. 18–44). Der Einfluss bürgerlicher Konventionen zeichnet sich auch bei der Idealvorstellung eines „guten Sterbens“ und der sozialen Zusammensetzung der „Sterbebettgesellschaft“ ab: Aus Rücksichtnahme auf Angehörige hielten die Betroffenen aus gehobenen Ständen ihre Erkrankung vielfach möglichst geheim, gerade wenn Geschlechtsorgane oder Schambereich betroffen waren (S. 49–60). Andererseits lässt sich aus den Berichten ablesen, dass der finale Sterbeprozess meist im häuslichen Rahmen stattfand und „selbstverständlich in das bürgerliche Leben eingebunden war“, wobei nicht nur Familienangehörige einbezogen wurden (S. 61f., 67). Zum Sterben in sozial schwachen und unterbürgerlichen Schichten liegen Berichte aus der Feder ehrenamtlicher oder professioneller Pflegekräfte vor, die entweder selbst bürgerlicher Herkunft waren oder in ihrer Ausbildung bürgerliche Moral- und Kulturideale internalisiert hatten und deshalb ihre Pfleglinge an entsprechenden Vorstellungen maßen. Im Zusammenprall von Ideal und sozialer Realität werden die Konsequenzen dieser ethischen Ansprüche deutlich: die Scheidung in „‚würdige‘ und ‚unwürdige‘“ Arme (S. 70) hatte erheblichen Einfluss auf das Verständnis, mit dem die Kranken seitens der Pflegenden rechnen durften.

Unter dem Gesichtspunkt der „Medikalisierung“ wird vor allem der zeitgenössische Fachdiskurs über das „im medizinischen und ethischen Sinne ‚gute Sterben‘“ (S. 103) behandelt. Die Ärzte versuchten erfolgreich, andere Professionen bei der Sterbebegleitung zu ihren eigenen Gunsten zu verdrängen. Das wechselseitige Verhältnis von Ärzten, evangelischen Geistlichen und Diakonissen war dementsprechend von Konkurrenz um die „religiös-menschliche Sterbebegleitung“ geprägt. Auffällig ist bei der Schilderung dieser Konkurrenzsituation, dass Geistliche und Diakonissen als religiös motivierte Sterbebegleiter dem Anspruch der Ärzteschaft nicht als Einheit entgegentraten (S. 208f., 219–222). Aus der spärlichen Berücksichtigung von Geistlichen in den Zeugnissen von Todkranken und ihren Angehörigen leitet Karen Nolte deren zunehmende Marginalisierung in der „Sterbebettgesellschaft“ ab. Obwohl die bürgerlich-pietistische Prägung das Sterben erheblich mit religiösen Praktiken und Sichtweisen begleitete, sei für diesen Verdrängungsprozess neben der erfolgreichen „Medikalisierung des Sterbens“ auch die typisch pietistische „Familiarisierung“ der Religiosität verantwortlich gewesen (S. 223–232).

Geschlechtsspezifische Aspekte des Sterbens behandelt vor allem ein Abschnitt über die „kulturelle und historische Dimension des Schmerzes“ (S. 157): Frauen galten demnach als empfindlicher, zugleich aber auch als leidensfähiger. Erheblich mehr Empathie und schmerzlindernde Mittel verwandten die Ärzte allerdings auf ihre männlichen Patienten (S. 162–168). Während die Selbstbeschreibungen von Patienten kein einheitliches Muster im Umgang mit dem Schmerz zeigen, prägt die Interpretation der Beschwerden als „Prüfstein Gottes“ (S. 180) vor allem die Berichte der pflegenden Diakonissen. Vor dem Hintergrund lebensverkürzender Palliativtherapien oder letal verlaufender Operationen werden auch verschiedene tatsächliche oder vermeintliche Praktiken aktiver bzw. indirekter Sterbehilfe berücksichtigt, wobei auch der Einfluss des Patienten auf die Entscheidungen des Arztes zur Sprache kommt (S. 122–155).

Insgesamt ist Karen Nolte ein beachtenswerter Beitrag zur Medizin- und Kulturgeschichte des Sterbens gelungen, der intensiv aus den Quellen herausgearbeitet ist. Kritik an der Quellenarbeit ist höchstens in der Hinsicht zu üben, dass die Eigenbeschränkung auf den Untersuchungszeitraum wie auf das Herkunftsmilieu nicht streng durchgehalten wurde: Zwar wird nur vergleichende Forschung klären können, ob die Einbeziehung von Berichten deutlich vor 1800 und nach 1850 oder von diversen Fallbeschreibungen nicht-protestantischer Patienten die Ergebnisse wesentlich beeinflusst – eine Erklärung für diese vermutlich gut begründete Entscheidung vermisst der Leser dennoch. Inhaltlich störend ist dieser Umstand allerdings beim Verhältnis von Diakonissen und Geistlichen, das am Beispiel eines katholischen Pfarrers und eines orthodoxen Patienten exemplifiziert wird. Zur Kritik an evangelischen Geistlichen gibt es hingegen nur unspezifische bzw. wenig aussagekräftige Belege (S. 216, 222).

Zum erwähnten Facettenreichtum der Untersuchung ist weiter anzumerken, dass sich die thematische Auffächerung in einer weitgehenden Abgeschlossenheit der einzelnen Kapitel abbildet. Oft entsteht so eher der Eindruck eines Sammelbandes als der einer Monographie. Übergreifende Zusammenhänge werden – gerade in der ersten Hälfte – durch häufige und vor allem kleinräumige Wiederholungen und Querverweise hergestellt, die zuweilen den Lesefluss der ansonsten gut geschriebenen Darstellung stören. Zweifellos wird die Studie dennoch instruktiv für weitere Arbeiten auf diesem Feld sein.

Anmerkung:
1 Genannt seien nur Philippe Ariès, Geschichte des Todes, München 1980; Dietrich von Engelhardt, Krankheit, Schmerz und Lebenskunst: Eine Kulturgeschichte der Körpererfahrung, München 1999; Gerrit Hohendorf, Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, Göttingen 2013; Michael Stolberg, Die Geschichte der Palliativmedizin. Medizinische Sterbebegleitung von 1500 bis heute, Frankfurt am Main 2011.