C. Fieseler: Der vermessene Staat

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Titel
Der vermessene Staat. Kartographie und die Kartierung nordwestdeutscher Territorien im 18. Jahrhundert


Autor(en)
Fieseler, Christian
Reihe
Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 264
Erschienen
Anzahl Seiten
393 S.
Preis
€ 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Martin Knoll, Fachbereich Geschichte, Universität Salzburg

„Im Ganzen genommen“, so lautete die Bilanz des Geographen Theophil Friedrich Ehrmann im Jahre 1809, sei die Zahl geographischer Schriften „zu einer ungeheuern Größe angewachsen, und nimmt noch täglich zu, wie ein Schneeball, der sich über das beschneite Alpengebirge herabwälzt“ (zitiert nach S. 318). Man könnte die Genese dieser Konjunktur geradezu als kulturgeschichtliche Signatur der Frühen Neuzeit bezeichnen. Der Schneeball – um in Ehrmanns Bild zu bleiben – war bereits durch die humanistische Geographie und deren wechselseitige Rückkoppelung mit den buchstäblichen Horizonterweiterungen der europäischen Expansion ins Rollen gekommen. Die Territorialisierung von Herrschaft tat als Entwicklungsmotor ein Übriges, freilich stets in spannungsvoller Dialektik, kam dem geographischen Wissen doch je nach Interessenlage der historischen Akteure der Status des öffentlich zugänglichen (Welt-)Wissens oder der eines Arkanums zu.

Die Sicht der Kartographiegeschichte auf diese Epoche hat sich von einem primär am technischen Fortschritt interessierten, teleologisch geprägten Verständnis hin zu einer Perspektive geweitet, welche die konstruktive Qualität von Karten betont und wissenssoziologisch argumentiert. Teil des vor allem mit den Publikationen John Brian Harleys (1932–1991) verbundenen kartographiehistorischen Paradigmenwechsels ist nicht zuletzt der Aufweis des symbolischen und repräsentativen Charakters von Karten und des funktionalen Zusammenhangs von Kartographie und politischer Macht. Darüber, dass auch diese Lesart weiterer Differenzierung bedarf, herrscht weitgehend Konsens innerhalb einer kartographiehistorischen Forschungslandschaft, die längst multidisziplinär verfasst ist.

Im Zentrum der Studie von Christian Fieseler steht die Entwicklung im 18. Jahrhundert. Dieser Periode attestiert der Autor, sie habe in Europa das 17. Jahrhundert als „Jahrhundert der Atlanten“ – also einer überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Verlagskartographie – abgelöst und den Weg zur Einrichtung dauerhafter staatlicher Vermessungsbehörden im 19. Jahrhundert bereitet. Fieselers Arbeit entstand als Dissertationsvorhaben im Rahmen des Augsburger Graduiertenkollegs „Wissensfelder der Neuzeit. Entstehung und Aufbau der europäischen Informationskultur“. Der regionale Fokus liegt auf vier nordwestdeutschen Territorien: dem Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel, dem Kurfürstentum Hannover, dem Fürstbistum Osnabrück und dem Herzogtum Oldenburg – folglich mittelgroßen Territorien, in denen staatliche Projekte die Vermessung des ganzen Staatsgebiets und deren Abbildung in einem Kartenwerk anstrebten.

Fieseler nimmt als Quellenbasis bewusst weniger die Karte selbst, das Endprodukt kartographischer Prozesse, als vielmehr Verwaltungsschriftgut und Publizistik in den Blick, die diese Prozesse begleiteten. Sein Vorgehen grenzt er vom Harleyschen Forschungsparadigma dahingehend ab, nicht anhand des symbolischen Gehalts der Karten erkunden zu wollen, „was man in den Karten alles hätte sehen können“, sondern zu fragen, „was die Kartierungen für die Staaten des 18. Jahrhundert [sic!] leisten und darstellen sollten“ (S. 22). Gerade im reichhaltig vorhandenen Verwaltungsschriftgut sieht Fieseler einen Schlüssel zu den einschlägigen empirischen und administrativen Praktiken der historisch Handelnden.

Die Untersuchung der vier nordwestdeutschen Projekte bildet den Kern der Studie, ist aber umfassend kontextualisiert. Den Anfang macht ein Abriss zu zeitgenössischen Kartierungsvorhaben europäischer Staaten. Hier bilden die Mächte Frankreich, Dänemark und Schweden, die im Reich dominierenden Österreich und Brandenburg-Preußen sowie die süddeutschen Territorien Kurbayern, Kurpfalz und die Markgrafschaft Baden-Durlach die Vergleichsfolie. Auf die drei Letzteren geht Fieseler unterschiedlich ausführlich ein, am umfänglichsten und unter Hinzuziehung archivalischen Materials auf Baden.

Als Gemeinsamkeit zwischen den europäischen Mächten arbeitet Fieseler die Priorität wissenschaftlicher, administrativer oder fiskalischer – mithin cum grano salis ziviler – Motive für die Kartierungsunternehmen des 17. und 18. Jahrhunderts heraus. Selbst in Österreich, dessen Landesvermessung aufgrund militärischer Belange initiiert wurde, spielten fiskalische Erwägungen eine wichtige Rolle. Ferner macht er als Parallele aus, dass die vielerorts durch Einzelpersonen begonnene Vermessung ganzer Territorien den Regierungen nicht die erhofften Informationen lieferte und institutionelle Akteure – Akademien, militärische Ingenieurkorps, Vermessungsbehörden – in diese Lücke stießen. Fieseler legt auch eine Typologie vor, die im Folgenden als Messlatte für seine nordwestdeutschen Detailstudien dient: Er unterscheidet in den unterschiedlichen Prozessen eine „französisch-dänische Vorgehensweise“ von einer „schwedisch-österreichische[n] Methode“ (S. 60). Spielten in der Ersteren Akademien die Rolle staatlich beauftragter Lieferanten wissenschaftlich exakter Vermessungsdaten, die auch veröffentlicht wurden, so waren bei Letzterer neben wissenschaftlichen Geographen auch Militär und Behörden in der Vermessung aktiv. Ihre Ergebnisse blieben unveröffentlicht. Mit seinem an die eigene Akademie der Wissenschaften gerichteten Verbot, das eigene Territorium zu kartieren, und dem gleichzeitigen Verzicht auf administrative Landesaufnahmen kam Preußen im retardierenden Sinne eine Sonderstellung zu, während Frankreich mit der Cassini-Vermessung sowohl methodisch (Triangulationsnetz) wie auch im Umfang der erfassten Fläche und im Umstand der Publikation der Ergebnisse eine Pionierrolle einnahm.

Ein zweites Hauptkapitel widmet sich der Entwicklung der wissenschaftlichen Kartographie im Deutschland des 18. Jahrhunderts. Dabei wird der schon angedeutete Weg von der kommerziellen kompilierenden Verlagskartographie hin zur wissenschaftlich standardisierten, staatlich alimentierten Disziplin vor allem anhand des Schicksals der namhaften Homannschen Offizin in Nürnberg, der Berufung ihrer drei Kartographen Johann Michael Franz, Tobias Mayer und Georg Moritz Lowitz auf Lehrstühle für Geographie, Mathematik und Astronomie an der Universität Göttingen sowie des Wirkens der „Kosmographischen Gesellschaft“ und der Schriften Anton Friedrich Büschings nachgezeichnet. In seinem Programm der „Kosmographischen Gesellschaft“ propagierte Johann Michael Franz ein multidisziplinäres, gleichwohl in sich geschlossenes Lehrgebäude einer Weltbeschreibungswissenschaft, in der der Kartographie mit entsprechend unterschiedlichen Methoden zwei Hauptaufgaben zukamen: zum einen die exakte geometrische Vermessung, zum anderen die auf unterschiedlichen Modi der Informationserhebung basierende kritische Beschreibung von Territorien. Zu den tragischen Fußnoten von Franz' durch prekäre finanzielle Umstände behindertem Wirken gehörte, dass der Fränkische Reichskreis auf seinen Vorschlag der Erstellung einer Kreiskartographie und -topographie nur mit der wohlklingenden, aber undotierten Ernennung zum „fränkischen Kreyses Geographus“ (S. 96) reagierte.

Im dritten Hauptkapitel beleuchten vier Detailstudien zu nordwestdeutschen Territorien die Art und Weise, wie die kartographische Agenda staatlicherseits umgesetzt wurde. Im Falle des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel verwundert, dass in Fieselers Schilderung der Vorgeschichte der Landesaufnahmen des 17. Jahrhunderts die von Paul Zimmermann bereits 1902 aufgearbeitete Merian-Topographie keine Rolle spielt.1 Zwar war diese kein im engeren Sinne kartographisches Unternehmen, doch ein frühes Beispiel staatlicher Intervention in ein kommerzielles topographisches Projekt und – in Form eines administrativ straff organisierten Prozesses geographischer Informationserhebung samt Einsatz standardisierter Fragebögen – mögliches Vorbild für die staatlichen Akteure des 18. Jahrhunderts. Im Fürstbistum Osnabrück wird die Rolle Justus Mösers, selbst unter anderem in Göttingen ausgebildet, ebenso gut konturiert wie der Ablauf der Landesaufnahme in den Jahren ab 1784. Die Fallstudie zum Herzogtum Oldenburg wartet mit einem sehr sprechenden Befund zur sozialen Praxis der Katastralvermessung auf. In einem Gutachten äußerte sich der Geometer Samuel Griese 1724 zu der Frage, ob in der Vermessung und Berechnung der Größe von Grundstücken die Arbeit mit dem Messtisch dem älteren und unpräziseren Vorgehen mit der Messkette vorzuziehen sei. Wenn man keine Karte herstellen wolle, so die Einschätzung Grieses, sei der Einsatz der Kette überlegen, nicht nur weil technisch einfacher und deshalb mit geringer geschultem Personal umzusetzen, sondern auch weil die Untertanen der ihnen funktional nicht begreiflichen „artificial Vermessung mit der Mensula“ weniger vertrauten als der für sie nachvollziehbaren Kettenmessung (S. 232). Im Ergebnis übertraf die Oldenburger Landesvermessung die ihrer Nachbarterritorien an technischer Exaktheit; was die Veröffentlichung ihrer Ergebnisse betrifft, ließ sie fast alle übrigen europäischen Staaten hinter sich.

Im vierten Hauptkapitel werden die regionalen Befunde wissenschafts- und rezeptionsgeschichtlich zurückgebunden. Eine Sichtung zeitgenössischer Publizistik dokumentiert wissenschaftliche und öffentliche Debatten um Kartographie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Sie legt dabei nicht nur das damalige Expertenurteil über die zuvor analysierten kartographischen Projekte offen, sondern dokumentiert auch Kontroversen um so kritische Themen wie das Verhältnis von Aufwand und Ertrag der Kartierung oder Geheimhaltung versus Publizität geographischer Informationen. Besonders spannend sind hier etwa kontraintuitive Wortmeldungen von Militärs, die sich gegen die Geheimhaltung kartographischer Informationsbestände wendeten. Wie schnell die Kartographie im engeren Sinne methodisch über sich hinauswies, wird etwa offenbar, wenn Justus Möser in einem demographischen Traktat den Erfolg der Osnabrücker Wirtschafts- und Bevölkerungspolitik würdigen will. Wegen eines Umrechnungsfehlers bei der Flächenberechnung kam er auf eine erheblich zu hoch angesetzte Bevölkerungsdichte und musste sich von keinem Geringeren als Kaiser Joseph II. nach der Integrität seiner Zahlen fragen lassen.

Kartographie wie Demographie waren Aspekte einer im Dienste staatlicher Reformanliegen stehenden Staatenbeschreibung und Statistik. Diese wiederum speisten das eingangs erwähnte übergeordnete Lehrgebäude einer multidisziplinären Weltbeschreibung. Es ist Fieseler nicht vorzuwerfen, sich in seiner Analyse auf die Kartographie im engeren Sinne konzentriert zu haben. Dennoch bleiben angesichts der vielen von ihm selbst benannten – aber eben nicht vertieften – programmatischen, methodischen und personellen Schnittmengen und Nahverhältnisse zur Staatenbeschreibung, der historisch-topographischen Literatur oder etwa der aufklärerischen Universalgeschichte eines Johann Christoph Gatterer Fragezeichen. Wenn Fieseler – zu Recht – die Relevanz empirischer Praktiken betont und etwa auf die Rolle von Fragenlisten für die Landesaufnahme eingeht, dann sollte er hier auch die Kriterienkataloge des Städtelobs, der Apodemik und der Staatenbeschreibung näher in den Blick nehmen.2 Dass Kartographie methodisch auf zwei Säulen ruhte, macht der Autor mehrfach deutlich. Den medialen Verbundcharakter geographischer Publizistik leuchtet Fieseler dagegen nicht im wünschenswerten Maße aus. Die Beschreibung der Welt – auch die der Kartographie – war oft genug ein funktional enges, mitunter problematisches Gefüge von Text, Bild und Karte.3 Diese Kontaktzonen noch intensiver zu erhellen, hieße dann vielleicht auch, manche wissenschaftsgeschichtliche Traditionslinie stärker zu würdigen, ohne die Innovationen des 18. Jahrhunderts prinzipiell in Abrede zu stellen.

Dieser Kritikpunkte eingedenk kommt der materialreichen, gut recherchierten und konsequent vergleichend argumentierenden Arbeit das Verdienst zu, die europäische Kartographiegeschichte des 18. Jahrhunderts zwar nicht grundlegend revidiert, aber um wichtige Fallstudien erweitert und dadurch differenziert fortgeschrieben zu haben.

Anmerkungen:
1 Paul Zimmermann, Matthäus Merians Topographie der Herzogtümer Braunschweig und Lüneburg, in: Braunschweigisches Jahrbuch für Landesgeschichte 1 (1902), S. 38–66. Auch als Separatdruck erschienen.
2 Vgl. etwa Mohammed Rassem / Justin Stagl (Hrsg.), Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456–1813, Berlin 1994; Justin Stagl, Eine Geschichte der Neugier. Die Kunst des Reisens 1550–1800, Wien 2002.
3 Vgl. Jürg Glauser / Christian Kiening (Hrsg.), Text – Bild – Karte. Kartographien der Vormoderne, Freiburg im Breisgau 2007.