Cover
Titel
Bürokratie. Die Utopie der Regeln


Autor(en)
Graeber, David
Erschienen
Stuttgart 2016: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 22,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jonas Grygier, Zentrum für Interdisziplinäre Polenstudien, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)

Bürokratien und Bürokratisches zu kritisieren ist in der alltäglichen Sprachpraxis Common Sense. Aber was Bürokratien genau sind und wie sie funktionieren, dazu gibt es auch in der Organisations- und Verwaltungsforschung keine einfachen Antworten.1 Schon die dazugehörige Begrifflichkeit eröffnet ein mehrdeutiges Feld: Neben „Bürokratie“ stehen Begriffe wie „Verwaltung“, „Organisation“ und „Governance“ im Fokus; sie verweisen wiederum auf unterschiedliche Verständnisse und Forschungsbereiche. Zerfällt „Verwaltung“ selbst in verschiedene semantische Felder und kann sowohl Organisationsformen, Institutionen und Tätigkeiten als auch Staatsorgane bezeichnen, werden gerade in der neueren Organisationsforschung sehr unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt. Eines ist aber den meisten dieser Herangehensweisen gemeinsam: Sie betrachten Organisationen nicht allein unter formalen Aspekten der Strukturen und nicht als monolithische Einheiten. Aushandlungsprozesse, Interessengegensätze innerhalb einer Organisation, Kompetenzreichweite, polymorphe Diskurse oder Eindringtiefen von administrativen Handlungspraxen in die Gesellschaft und umgekehrt sind Gegenstände der Forschungsdiskussion.2

Das Buch des Anthropologen David Graeber, der mit seinem Vorgängerwerk „Schulden“ bereits Aufmerksamkeit erregt hat3, scheint dem Titel nach an diese Diskussion anzuschließen. Dem ist aber aus mehreren Gründen nicht so. Weder bezieht sich Graeber auf die Forschungen der letzten Jahre zu Bürokratie, Organisation, Verwaltung oder Governance, noch legt er eine alternative Studie zu Bürokratie an sich oder ihren sprachlichen Derivaten vor. Der Titel des Buches führt also in die Irre. Der Untertitel „Die Utopie der Regeln“ gibt schon einen deutlicheren Hinweis auf das Programm des Buches, bleibt aber auch enigmatisch. Um was geht es dem Autor dann? Graeber präsentiert einen politischen, kapitalismuskritischen Essay – oder sollte man sagen: vier zusammenhängende Essays? – mit explosiven Fragen an die Gegenwart, deren Stoßrichtung eine Kritik an der aktuellen Gesellschafts-, Politik- und Wirtschaftsform ist. Das Buch argumentiert also nicht primär historisch und schon gar nicht geschichtswissenschaftlich, enthält aber bestimmte Vorannahmen und Aussagen zu historischen Entwicklungen.

Bürokratie dient Graeber als Chiffre und Metapher und als Band zwischen den einzelnen Kapiteln seines Buches, in denen es um Macht, Technologien und Rationalität geht. Seine Kritik, die vom Standpunkt eines philosophischen und politisch-praktischen Anarchismus herrührt, richtet sich gegen die von ihm attestierte Symbiose zwischen Finanzkapitalismus und Staat, organisiert als Bürokratie bzw. mittels bürokratischer Techniken. Seine These von der Allgegenwärtigkeit der Bürokratie, die „jeden einzelnen Aspekt unseres Lebens“ (S. 10) bestimme, ist tatsächlich dann eher eine Kritik an gesellschaftlichen Hierarchien, entfremdenden Regeln und ungerechten Machtverhältnissen, welche die von Graeber in diesem Buch so häufig beschworene Phantasie, Kreativität, demokratische Prozesse vernichten. Die Bürokratie ist nach Graeber das Medium, über das die Prinzipien eines neoliberalen Finanzkapitalismus Einzug in alle Lebensbereiche halten und sie kolonisieren, mit der Folge, dass physische Gewalt, soziale Kontrolle durch den Einsatz von Technologien und verschleiernde Diskurse die Menschen beherrschen.

In drei Hauptkapiteln bzw. Essays geht Graeber auf diese drei Elemente der „totalen Bürokratisierung“ (S. 55) näher ein: Gewalt, Technologien und Rationalität. So spannt er einen weiten Bogen von Reflexionen über Gesellschaft, Kultur, Computerspiele, Sprache, politische Theorie seit der Antike bis zur Gegenwart, Filme, Wirtschaft und Anthropologisches. Ursachen für das enge Bündnis von Finanzkapitalismus und Staat sieht er in den wirtschaftlichen Transformationsprozessen seit 1971, als der US-Dollar vom Goldstandard abgekoppelt wurde, was einer Finanzialisierung des Kapitalismus den Weg bereitet habe. Finanzialisierung bedeutet für Graeber die Bewertung eines Unternehmens nach der Attraktivität für mögliche Investoren, also das Ausrichten auf einen Kapitalmarkt, die Dominanz eines Shareholder-Value-Ansatzes.4 Belege für eine stärkere Verbindung zwischen dem Staat und seinen Strukturen (Bürokratie) sowie der Privatwirtschaft und der Marktlogik erkennt Graeber unter anderem in der Bewertung von Wissenschaft nach ökonomischen Effizienzkriterien.

Das Bürokratische daran ist für Graeber, dass in diesen Prozessen stark unpersönliche, wirklichkeitsfremde, schematische Regeln erzeugt würden, um vordergründig ein effizientes, berechenbares und transparentes Bewertungssystem zu schaffen, während tatsächlich nur eine Fülle von „Papierkram“ (S. 8) und Formularen produziert werde. Gleichzeitig hielten diese „bürokratischen Verfahrensweisen“ (S. 17) die soziale Ungleichheit und die Machthierarchien in einer Gesellschaft aufrecht, die der Finanzkapitalismus noch verstärke, um einer kleinen Gruppe von Unternehmen Gewinne zu sichern. Das Aufrechterhalten der sozialen Missverhältnisse geschieht laut Graeber sowohl durch die Anwendung und Androhung physischer Gewalt als auch durch die Ruhigstellung der Bürger mit Konsumtechnologien und Versprechen auf eine bessere Zukunft – obwohl die Menschen, so Graeber in seinem zweiten Kapitel zu Technologien und zur Frage, warum es noch keine „fliegenden Autos“ gebe, immer wieder von den Versprechungen enttäuscht würden. So würden dank der heutigen Möglichkeiten in der Informationstechnologie anti-bürokratische Parallelwelten entstehen, die die Menschen ablenken und stimulieren sollten, damit sie nicht gegen das System aufbegehrten. Graeber sieht beispielsweise in der ausdifferenzierten Fantasy-Kultur einerseits die Inkarnation all dessen, was der Mensch in der durchbürokratisierten Lebenswelt nicht finde (Helden, Ruhm, Charisma, Möglichkeit zum sozialen Aufstieg, Abenteuer, Abweichen von vorbestimmten Wegen usw.); andererseits werde ihm dort eine Welt gezeigt, die er in letzter Konsequenz nicht wollen könne (Tod, unkontrollierbare Gefühle, Existenzunsicherheit, Unplanbarkeit usw.). Mittels solcher Techniken und nötigenfalls auch mit Gewalt würden heutige demokratische, oder mit den Worten Graebers „autokratische“ (S. 217) Regime ihre Bevölkerung ruhigstellen.

Graeber entwirft in diesem Buch eine dezidierte, mitunter eindimensionale Kapitalismuskritik, bei der ihm Bürokratie mehr als Sinnbild dient, als dass ihn die Praxis von Bürokratien und bürokratischen Prinzipien interessieren würde. Bürokratie bleibt in seinem Buch seltsam leer: Weder erfährt man etwas über die Strukturen der Graeber’schen Bürokratie, noch etwas Genaueres über Funktionsweisen. An keiner Stelle widmet er sich dem Inneren von Bürokratien – seien es staatlich oder privat organisierte. Für ihn erschöpft sich Bürokratie in „unpersönlichen Regeln“ (S. 42), in formalisierten und schematischen Vorschriften (S. 93), im Ausfüllen von Formularen (S. 8), einem „ängstlichen Geist“ (S. 169), einer „Kultur der Komplizenschaft“ (S. 34), dem Verschleiern von Inhalten (S. 222) oder dem Streben nach Eindeutigkeit (S. 243). Akteure, innere Zusammenhänge oder das Zusammenspiel von Bürokratien und ihren Umwelten spielen aus seiner Sicht keine Rolle. Für Graeber ist Bürokratie immer, zumindest implizit, Regel- und Vorschriftenerfüllung und hat eher den Charakter einer Blackbox. Dass aber ein Wesensmerkmal von Bürokratien gerade darin besteht, dass in ihnen wiederholt gegen die expliziten Regeln verstoßen wird, dass es implizite Handlungsmuster und je systemspezifische Arrangements gibt, das kommt bei ihm nicht vor. Dass Bürokratie ein normativ konturiertes System ist, das nach bestimmten Verfahrensregeln funktionieren soll und dabei die Aufgabe hat, staatliche oder andere organisationsgebundene Zwecke zu steuern, zu regulieren und zu formen, wird ebenfalls nicht diskutiert. Das Buch bietet Leserinnen und Lesern, die sich für Bürokratien und ihre verschiedenen Formen interessieren, also wenig Neues.5 Schlimmer noch: In der allzu pauschalen Kritik an Bürokratie, deren Regelhaftigkeit ja auch ein Beitrag zum geordneten Ausgleich konkurrierender Interessen sein kann, hat die Argumentation eine populistische Tendenz.

Dafür ist das Buch, wenn man es als Essaysammlung begreift, eine Schatzkiste an Gedanken zur Gegenwart eines über die Disziplingrenzen hinausdenkenden Wissenschaftlers. Graeber scheut sich dabei nicht, klare, kontroverse Standpunkte zu beziehen, und wagt viele produktive Thesen. Nicht immer überzeugen diese – wenn er etwa behauptet, gegen Studierende, die ohne Bibliotheksausweis in die Bibliothek wollten, werde in Gestalt des Wachschutzes unverzüglich die ganze physische Gewalt des Systems angewandt, was zeige, dass dieses System auf Repression als zentralem stabilisierenden Element beruhe. Abgesehen davon, dass Graeber hier als Anthropologe erstaunlicherweise die Feinheiten des mikrosozialen Arrangements übergeht – der Student ohne Bibliotheksausweis könnte mit dem Wachschutz eine informelle Absprache treffen, die Person könnte sich den Ausweis einer anderen Person besorgen usw. –, erscheint dieser Zusammenhang eher wie ein logischer Kurzschluss und nicht als eine fundierte Analyse sozialer Herrschaftsverhältnisse, zumal die Gewalt entweder zu Protesten oder zur Anbiederung und Unterwerfung führen dürfte, wenn sie tatsächlich so ubiquitär angewandt werden würde.6 Andere Thesen überzeugen dafür umso mehr – beispielsweise wenn Graeber argumentiert, dass modern organisierte Märkte keine staatsfreien Erfindungen seien, sondern sich zusammen mit der Formierung von Staatlichkeit entwickelt hätten, weshalb eine Gegenüberstellung von „Staat“ und „Markt“ als zwei antagonistischen Prinzipien zumindest historisch in die Irre gehe. Gerade die Vorkämpfer von „Deregulierung“ hätten eine eigene Bürokratie produziert.

Mit seinen Beobachtungen und Reflexionen über unsere moderne Gesellschaft und ihre inneren Widersprüche hat David Graeber einen wichtigen Beitrag zu gesamtgesellschaftlichen Kontroversen vorgelegt. Man kann nur wünschen, dass das Buch auch, aber nicht allein in der Wissenschaft viel gelesen wird. Es versteht sich, dass das Werk dabei nicht nur Zustimmung findet. Einiges, was Graeber mit voller Überzeugung als Thesen oder Erkenntnisse vertritt, wird die Geschichtswissenschaft eher als Fragen formulieren. Manche davon sind auch schon beantwortet.

Anmerkungen:
1 Zum weiten Feld der Begrifflichkeiten und verschiedenen Verständnisse von Bürokratie, Verwaltung und Organisation vgl. Hans-Ulrich Derlien / Doris Böhme / Markus Heindl (Hrsg.), Bürokratietheorie. Einführung in eine Theorie der Verwaltung, Wiesbaden 2011.
2 Für einen Überblick zum ausdifferenzierten Forschungsfeld siehe Jarle Trondal u.a., Unpacking International Organisations. The Dynamics of Compound Bureaucracies, Manchester 2010.
3 David Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, Stuttgart 2012; siehe dazu die Rezension von Felix Krämer, in: H-Soz-Kult, 08.02.2016, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-24380> (21.06.2016).
4 Diese Verwendung des Begriffs ist einigermaßen unterkomplex; siehe zur besseren Einordnung in die Forschung etwa Alexander Engel, The Bang after the Boom: Understanding Financialization, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 12 (2015), S. 500–510, URL: <http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2015/id=5278> (21.06.2016).
5 Als ältere systematische Studie siehe etwa Arthur Benz, Kooperative Verwaltung. Funktionen, Voraussetzungen und Folgen, Baden-Baden 1994. Aus der Geschichtswissenschaft: Sven Reichardt / Wolfgang Seibel (Hrsg.), Der prekäre Staat. Herrschen und Verwalten im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2011.
6 Als klassische historische Analyse siehe Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993, 2. Aufl., Münster 2015.

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